20. April 2024

Ermutigende Lehrerpersönlichkeiten verbessern die Chancengerechtigkeit mehr als farblose Lerncoachs

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz unterstützt Carl Bossard (siehehttps://condorcet.ch/2021/10/wenn-bildungsreformen-die-bildungsschere-weiten/ 27.10.21) in seiner Einschätzung der zentralen Rolle der Lehrerin oder des Lehrers, die sie in Sachen Chancengleichheit spielen.

Hanspeter Amstutz:
Farblose Coachs sind Gift für eine Pädagogik der Ermutigung.

Carl Bossard ist in seinem hervorragenden Condorcet-Beitrag auf unkonventionelle Weise der Frage nachgegangen, was am meisten zu mehr Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem beiträgt. Der Autor bringt es auf den Punkt: Nicht ausgeklügelte Bildungsprogramme, sondern Lehrerinnen und Lehrern mit Begeisterung für ihre pädagogische Aufgabe fördern die Entwicklung von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft am wirkungsvollsten.

In den aktuellen Bildungsdiskussionen dreht sich sehr vieles um digitale Lernprogramme, um eigenverantwortliches Lernen und um neue Lehrerrollen in begleitender Funktion. Digitale Programme sorgen dafür, die Lernmuster von Schülern zu erkennen und Aufgaben im passenden Schwierigkeitsgrad zu stellen. Dank digital bestens ausgestatteter Schulzimmer glaubt man, nicht zuletzt bei schwächeren Schülern den grossen Sprung nach vorn machen zu können. Doch was theoretisch Erfolg verspricht, zeigt in der Praxis nur eine beschränkt positive Wirkung. Schüler ohne bereits vorhandene intrinsische Lernmotivation werden von künstlicher Intelligenz nicht in der Tiefe angesprochen. Sie werden zwar die gestellten Aufgaben lösen, aber die Motivation für eine gründliche Auseinandersetzung mit einem Thema bleibt in der Regel begrenzt.

Um Schülerinnen und Schüler für eine Sache zu begeistern, sind die Schulen auf Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln und mit didaktischem Geschick vertiefen können.

Lehrerpersönlichkeiten, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln

Um Schülerinnen und Schüler für eine Sache zu begeistern, sind die Schulen auf Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die Bildungsinhalte attraktiv vermitteln und mit didaktischem Geschick vertiefen können. Eine Lehrerin, welche die wechselvolle Geschichte des Frauenstimmrechts packend gestalten kann, Goethes Erlkönig feinsinnig interpretiert und von Zeit zu Zeit grosse Fragen des Lebens in literarischer Form aufgreift, wird auf Resonanz stossen. Jugendliche erkennen die sinnstiftende Grundhaltung eines Gegenübers erstaunlich schnell und öffnen sich in einem oft spannenden Dialog. Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich in den Klassenzimmern keine grauen Mäuse, die nur eine beratende Funktion ausüben. Die Vorstellung, gute Lehrer würden nicht vor der Klasse, sondern neben arbeitenden Schülern stehen, ist bei Jugendlichen weit weniger beliebt, als man aufgrund der aktuellen didaktischen Modeströmungen glauben könnte.

Es ist die Authentizität, welche Jugendliche anspricht und das Interesse für Bildung und Kultur weckt.

Kinder und jüngere Teenager suchen sich erwachsene Vorbilder mit Wissens- und Erfahrungsvorsprung, auch wenn sie dies nicht immer gleich offen zugeben. Sie suchen die Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber, das ihnen neue Welten eröffnet. In jedem Schulhaus weiss man, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer in einem Wissensgebiet stark ist oder über besondere Fähigkeiten verfügt. Ein Lehrer, dessen Forschungsgebiet die Amphibien sind und seine Schüler an Ufern von Weihern in sein Reich blicken lässt, übt Faszination aus. Eine Lehrerin, welche die Engländer von ihrem langjährigen Aufenthalt in London kennt, kann in ihren Englischlektionen oft mehr über britische Lebensart vermitteln als mancher ausgebildete Geografielehrer. Es ist die Authentizität, welche Jugendliche anspricht und das Interesse für Bildung und Kultur weckt.

Es braucht Freiheit.

Carl Bossard weist noch auf etwas anderes hin, das zentral ist. Lehrerinnen und Lehrer mit pädagogischer Berufung werden ihr Fachgebiet und nicht ihre Person in den Mittelpunkt stellen. Sie machen ihr Wissen transparent und wollen es weitergeben.

Sie freuen sich riesig, wenn der Funke springt und unternehmen alles, um bei ihren Schülerinnen und Schüler gründliche Lernprozesse zu fördern. Lehrerpersönlichkeiten haben den Blick für die vorhandenen Begabungen. Sie ermutigen die Jugendlichen, daraus etwas zu machen und sie fordern sie, indem sie Erwartungen aussprechen. Schülerinnen und Schüler nehmen in der Regel diesen pädagogischen Dialog positiv auf und steigern sich in ihren Leistungen.

Diese für den späteren Lebensweg so wichtigen Motivationsprozesse können sich aber nur entwickeln, wenn den Lehrerinnen und Lehrern eine Rolle als gestaltende pädagogische Kraft ausdrücklich zugebilligt und ausreichend Zeit für den Aufbau von Lernbeziehungen eingeräumt wird. Die aktuelle Hektik in den Schulzimmern durch all die verzettelten Lernziele, die schmalen Unterrichtsblöcke infolge der Pensenaufsplitterungen und nicht zuletzt die unsinnige Degradierung der Lehrpersonen zu farblosen Coachs sind Gift für eine Pädagogik der Ermutigung. Will man die Chancengerechtigkeit entscheidend verbessern, so muss zuerst beim Bildungsprogramm und bei den grundlegenden Vorstellungen zum Lehrerberuf der Hebel angesetzt werden. Da besteht dringender Handlungsbedarf.

Hanspeter Amstutz

Verwandte Artikel

Bildungsdebakel und neoliberale Konzepte

Dr. Eliane Perret knüpft an die Ausführungen des Sekundarlehrers Iten an, der sich mit den Ursachen des Lehrkräftemangels beschäftigte (https://condorcet.ch/2022/09/lehrkraeftemangel-falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen/). Auch sie legt den Fokus auf die neoliberalen Reformen der Vergangenheit.

Grosse Denker und Denkerinnen: Heute – Philipp Wampfler

Philipp Wampfler ist im Condorcet-Blog kein Unbekannter. Der bekennende Fan digitalisierter Lerninhalte lieferte sich mit Professor Lankau aus Offenburg schon einen intensiven Disput über den Sinn oder Unsinn der digitalen Bildungsoffensive. Nun macht er mit einem weiteren Anliegen auf sich aufmerksam: Er weigert sich, Dürrenmatt zu lesen, weil in dem Text das N-Wort vorkommt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert