7. November 2024

Der Fall Rodriguez war kein Zufall. Er ist Symptom für ein System, das eine Reform dringend nötig hat

Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier einen gut recherchierten Artikel des NZZ-Journalisten Niels Pfändler. Er beschreibt die Hintergründe zum Fall “Rodriguez” und zeigt auf, in welchem Masse der vom Condorcet-Blog oft kritisierte bildungspolitische “Überbau” sich der Schule bemächtigt hat. Das Ergebnis ist weder qualitätsfördernd noch ressourcenschonend.

Niels Pfändler: Die Lösungen liegen in der Schublade.

Es klingt wie ein Lehrstück über Vetternwirtschaft: Ein hohes Behördenmitglied tritt freiwillig aus dem Amt, lässt sich von einem Gremium, das es selber präsidiert, in eine grosszügig bezahlte Stelle wählen und kassiert dafür auch noch eine Abfindung von 650 000 Franken. Genau so spielte sich die Geschichte ab – diesen Sommer in Zürich.

Der Fall des ehemaligen Schulpräsidenten des Schulkreises Uto, Roberto Rodriguez, schlug Ende Juli hohe Wellen. Selbst wenn die Abfindung von 3,5 Jahreslöhnen laut Verordnung rechtmässig war und der SP-Mann schliesslich auf die neue Stelle verzichtete, dürfte sich manch ein Beobachter über das bunte Treiben in der grössten Schweizer Stadt gewundert haben. Von Abzocke, Postenschacher und Machtmissbrauch war die Rede.

Das führt zu unklaren Verantwortlichkeiten, zu Ineffizienz und Doppelspurigkeit. Im schlimmsten Fall – und das hat der Fall Rodriguez bewiesen – auch zu Klüngelei.

Viele dürften im Zuge dieser Sommeraffäre gemerkt haben, wie kompliziert die Organisation der Stadtzürcher Schulbehörden ist. Das Konstrukt ist historisch gewachsen, mittlerweile ist es so unübersichtlich, veraltet und verschlungen, dass kaum jemand mehr den Durchblick hat. Das führt zu unklaren Verantwortlichkeiten, zu Ineffizienz und Doppelspurigkeit. Im schlimmsten Fall – und das hat der Fall Rodriguez bewiesen – auch zu Klüngelei.

Seit Jahrzehnten gibt es Versuche, das System zu reformieren. Bis jetzt erfolglos. Dabei wäre eine Neuerung dringend nötig. Denn die Organisation ist ein Konstrukt von vorgestern, das den Herausforderungen von morgen nicht gewachsen ist.

Ein stummer König

Zuoberst auf dem staubigen Thron der Zürcher Schulorganisation sitzt der Stadtrat und Schulvorsteher Filippo Leutenegger. Doch Leutenegger ist ein König ohne Macht. Denn bei vielem, was die Volksschule angeht, hat der FDP-Mann kaum etwas zu sagen.

Überholte Schulorganisation.

Das hat auch der Fall Rodriguez gezeigt. Er habe erst spät von den Vorgängen erfahren und danach gar nicht eingreifen können. Das beteuerte der Stadtrat in einem Interview mit der NZZ, und das lässt sich auch am verschachtelten Organigramm der Zürcher Schule festmachen: Rodriguez war einer von sieben Schulpräsidenten. Sie stehen in der Stadt Zürich den sieben Schulkreisen vor. Alle Präsidenten bilden zusammen mit dem Schulvorsteher die Schulpflege.

Ausserhalb dieses Gremiums hat Leutenegger aber kaum Einfluss. Denn die sieben Schulpräsidentinnen und Schulpräsidenten regieren in ihren sieben teilautonomen Schulkreisen auf derselben Hierarchiestufe wie die Schulpflege und geniessen dabei reichlich Freiheiten.

Eine Stadt, 175 Pestalozzis

Doch es wird noch komplizierter. Pro Kreis zählt jede Schulbehörde 25 Mitglieder. Mit insgesamt 175 Personen ist der Apparat deutlich grösser als das Stadtparlament mit seinen 125 Mitgliedern. Die Kreisschulbehörden gehören zwar alle zur selben Stadt, sie tüfteln aber vieles selber aus und agieren mitunter so, als ob sie in Pestalozzi-Manier die Schule neu erfinden müssten.

Der Schulkreis Waidberg pflegt neben einer Aufsichtskommission auch noch eine Kommission zur Integration fremdsprachiger Kinder und eine Verkehrskommission. Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch. Es umfasst 61 Seiten.

Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch: 61 Seiten!!!

Sie verfassen eigene Programme, Leitbilder und Geschäftsordnungen, in denen sie pädagogische Konzepte oder Richtlinien fürs Personal- und Krisenmanagement festhalten. Der Schulkreis Waidberg pflegt neben einer Aufsichtskommission auch noch eine Kommission zur Integration fremdsprachiger Kinder und eine Verkehrskommission. Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch. Es umfasst 61 Seiten.

Munteres Kompetenzenwirrwarr

Das Wirrwarr bei den Zuständigkeiten geht über die Stadtgrenze hinaus. Das zeigt sich bei der Frage, wer sich alles um die Qualität der Schulen kümmert. Beim Kanton heisst es, dass die Fachstelle für Schulbeurteilung «die Qualität der Schulen aus pädagogischer und organisatorischer Sicht» prüft. Bei der Stadt heisst es, dass das Schulamt «strategisch und operativ zuständig für die Qualität der städtischen Volksschule und für ihre Weiterentwicklung» sei. Und bei den Schulkreisen heisst es, dass die dortigen Behörden «verantwortlich für die Qualität der Schule» sind.

Ob so viel Qualitätssicherung die Qualität tatsächlich erhöht, sei dahingestellt. Jedenfalls steht in den Schulkreisen der bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis zu den Kompetenzen, welche den Behörden tatsächlich zukommen. Vor allem, weil ab 2022 eine ihrer wichtigsten Aufgaben wegfällt: die Beurteilung der Lehrerinnen und Lehrer. Neu sind die Schulleiter dafür zuständig. Ein längst überfälliger Schritt.

Filippo Leutenegger, Stadtrat FDP: Die Situation ist unbefriedigend, wenn nicht sogar unhaltbar.

Festklammern am Status quo

Die Mängel im System sind bekannt. Die Strukturen seien «unbefriedigend, um nicht zu sagen unhaltbar», sagte auch Filippo Leutenegger jüngst gegenüber der NZZ. Schon zwei seiner Vorgänger hatten probiert, einen Reformprozess anzustossen. Angeregt von einer Motion der SP und der AL im Gemeinderat, startete nun vor kurzem ein neuer Versuch.

Es spricht aber nicht viel dafür, dass sich grundlegend etwas ändern wird. Die Strukturen sind festgefahren, und die Meinungen darüber, wie sie entflochten werden könnten, gehen weit auseinander. Zudem ist der Status quo nicht nur für die Mitglieder der einzelnen Kreisschulbehörden, sondern auch für die Parteien lukrativ.

 

Ein Schulpräsident wie Roberto Rodriguez verdient gegen 190 000 Franken pro Jahr. Für die 24 nebenamtlichen Behördenmitglieder winkt nicht nur ein Einstieg in die städtische Politik, sondern auch ein jährlicher Verdienst von durchschnittlich 10 000 Franken, wie das Schuldepartement auf Anfrage bekanntgibt.

Das Geld lässt auch die Kassen der Parteien klingeln – allen voran der SP. Denn sowohl die Schulpräsidenten als auch die Mitglieder der Kreisschulbehörde sind vom Volk gewählt und gehören in den allermeisten Fällen einer Partei an. Die Sozialdemokraten stellen als stärkste Partei der Stadt die meisten Behördenmitglieder. Gegenwärtig gehören fünf der sieben Schulpräsidenten und rund ein Drittel der 175 Behördenmitglieder der SP an.

Nun muss man wissen, dass die SP von ihren Mitgliedern sogenannte Parteiausgleichsbeiträge verlangt. So will es das Reglement. Bei tieferen Einkommen von nebenamtlich tätigen Personen fällt das nicht so ins Gewicht. Vollamtliche Behördenmitglieder zahlen aber einen um 30 Prozent höheren Beitrag. Die Berechnungsskala ist öffentlich einsehbar. Es lässt sich deshalb beziffern, dass via die Mitglieder der Zürcher Kreisschulbehörden jährlich mehr als 100 000 Franken in die Parteikasse der SP fliessen.

Neben dem politischen Einfluss sind die Posten für die SP also auch finanziell attraktiv. Es ist deshalb naheliegend, dass manch einer in den Reihen der Partei wohl kein grosses Interesse daran haben wird, das System zu reformieren.

Angst vor der «Verwaltungsschule»

Wie wichtig die Parteizugehörigkeit in den Kreisschulbehörden nach wie vor ist, zeigt ein Blick auf den Schulkreis Letzi. Dort empfahl die abtretende Präsidentin, Barbara Grisch von der SP, einen Kandidaten von der FDP als Nachfolger. Das passte ihrer Partei nicht. In einem aufwendigen Wahlkampf hievte sie eine Genossin auf den Posten. Der Knatsch hatte Folgen für Grisch: Sie trat nach mehr als 25 Jahren aus der Partei aus.

Solche Spielchen wie in den Schulkreisen Letzi und Uto schaden dem Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden. Dabei wäre dieses heutzutage besonders wichtig. In den kommenden Jahren entstehen Dutzende neue Schulhäuser, und mit dem Ausbau der Tagesschulen verbringen die Kinder immer mehr Zeit in der Schule. Die demokratische Legitimation in der Bevölkerung und eine direkte Verbindung von Eltern und Schule sind deshalb unabdingbar.

Es ist aber fraglich, ob es dafür eine Behörde mit vielen Mitgliedern und wenig Kompetenzen braucht. Klar, das System ist historisch gewachsen. Das kann eine Erklärung sein, aber keine Ausrede. Nun bietet sich einmal mehr die Chance, eine Reform anzupacken. Sie sollte nicht verpasst werden.

Lösungen in der Schublade

Ansätze, wie das System künftig aussehen könnte, gibt es schon lange. Bereits im Jahr 2009 hat das Consulting-Unternehmen Ernst & Young zusammen mit dem Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich für die Stadt einen Bericht verfasst, der mehrere Szenarien für eine schlankere Schulstruktur präsentiert. Passiert ist seither wenig. Dabei könnte das 124 Seiten starke Dokument fast eins zu eins auf die Gegenwart angewendet werden.

Das favorisierte Modell sieht eine klare Führungslinie zwischen dem Schulvorsteher, dem Leiter des Schulamts, sieben parteiunabhängigen Schulkreisleitern und den Schulleitern vor. Eine demokratisch legitimierte siebenköpfige Schulpflege amtet als Rekursinstanz und beaufsichtigt die städtische Volksschule. Die Politik, die Eltern und das Schulpersonal wirken via Schulbeirat oder Elternräte direkt auf der Ebene der Schulen mit.

Dadurch entstehen klare Verantwortlichkeiten, die Parteipolitik erhält weniger Gewicht, und das ganze System wird entschlackt, ohne die Teilnahme der Bevölkerung zu verlieren. Meilen, Dübendorf, Volketswil, Kloten, Dietikon, Maur und viele weitere Gemeinden haben bereits seit längerem ein ähnliches System. Winterthur hat am Sonntag mit der Abstimmung zur neuen Gemeindeordnung einem vergleichbaren Modell mit einer Leitung Bildung zugestimmt.

Auch in Zürich liegen die Ideen für eine Abspeckkur schon lange auf dem Tisch – oder heute wohl eher verstaubt in irgendeiner Schublade der Behörden. Es ist Zeit, sie endlich wieder hervorzunehmen.

Niels Pfändler, Journalist NZZ

Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen:

https://www.nzz.ch/meinung/schulbehoerden-in-zuerich-der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-ld.1645905

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Fernunterricht in Zeiten von Corona – Ein Erfahrungsbericht mit einer Sekundarklasse

Und auf einmal war er da: der hochgradig digitalisierte Unterricht; bedingt durch die Corona-Krise. Im Nachgang zu den zwei Monaten Fernunterricht lassen sich zwei sich gegenüberstehende Kernaussagen herausschälen: Die eine Seite sieht sich darin bestätigt, dass das digitale Lernen die alternativlose Zukunft darstelle. Die Skeptiker auf der anderen Seite meinen zu erkennen, dass nach den Erfahrungen mit dem Distance Learning umso klarer sei, dass echtes Lernen ausschliesslich auf der Beziehungsebene stattfinde.

Doch wie zumeist im Leben gibt es nicht nur Schwarz und Weiss, sondern ein Fülle an bunten Zwischentönen. Im vorliegenden Artikel reflektiere ich meine eigenen Erfahrungen während des Fernunterrichts mit einer 9. Klasse. Die Ausführungen basieren unter anderem auf einer klasseninternen Umfrage, aber auch Rückmeldungen von Eltern. Dabei wurde mitunter Erstaunliches zu Tage gefördert.

Hinweis: Diese Artikel ist in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2020).

2 Kommentare

  1. Die Volksschule der Stadt Zürich umfasst über 34’000 Schüler und über 3’600 Lehrer. Früher gab es eine vom Volk gewählte Schulpflege mit weitreichenden Kompetenzen sowie eine vom Volk gewählte Bezirksschulpflege, die jeden Lehrer jährlich persönlich besuchte und einen Bericht verfasste. Dazu gab es auch eine Zentralschulpflege, die wieder abgeschafft wurde, weil sie sich nicht bewährte.

    Die von Consulting-Firmen vorgeschlagenen «schlankeren», «modernen» Strukturmodelle waren rein zentralistisch-ökonomistisch orientiert und ohne Mitwirkung der Lehrer entstanden. Eine demokratisch legitimierte siebenköpfige (sic!) Schulpflege soll als Rekursinstanz amten und die grösste städtische Volksschule der Schweiz beaufsichtigen. Alle anderen Leitungs- und Aufsichtsstellen sollen – wie die Verwaltung – offenbar nicht demokratisch gewählt werden. Politik und Eltern sollen mit nicht demokratisch gebildeten Gremien auf die Schule Einfluss nehmen. Abstimmungen haben immer wieder gezeigt, dass die Bevölkerung keinen «Schulvogt» will.

  2. Zum Kotzen ist das. Nicht einem dieser gut bezahlten Funktionäre geht es doch um die Schule, geschweige denn um Schülerinnen und Schüler. Das Programm heisst lediglich Macht und Geld. Füll dein Portemonnaie (FDP). Wie gesagt: Zum Kotzen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert