Solche Töne hört man selten: Von einer Gefahr für den gesamten Berufsstand ist die Rede und von schwerwiegenden Mängeln. Gemeint ist die grundlegende Reform der KV-Lehre und die fundamentale Kritik der Schweizerischen Bankiervereinigung und des Zürcher Bankenverbands. Beide sehen mit dem Projekt „Kaufleute 2022“ die Zukunft der Banklehre gefährdet; sie verlöre an Attraktivität.[1] „Steht die Banklehre vor dem Aus?“, wird darum pointiert und provokativ gefragt.
Themenblöcke sollen Handlungskompetenzen vermitteln
Erst seit Kurzem sind die Konzeptdaten und die operativen Elemente öffentlich. Eine private Bildungsfirma hat die Reform ausgearbeitet; sie erfolgt primär auf der Strukturebene: Fächer wie Wirtschaft und Gesellschaft sollen wegfallen, Finanz- und Rechnungswesen sind nicht mehr zwingend. Von den Fremdsprachen ist nur noch eine nötig. Auch das Kerncurriculum Deutsch wird aufgelöst und von sogenannten „Handlungskompetenzen“ abgelöst. Die Fächer verschwinden zugunsten von Themenblöcken wie „Gestalten von Kunden- und Lieferantenbeziehungen“ oder „Interagieren in einem vernetzten Umfeld“.
Dabei wird das optimistische Selbst zur Ressource seiner eigenen Wirksamkeit. Aus der Bildung der Person wird das ‚unternehmerische Selbst‘. Wie es die Wirtschaft will.
Gesucht: direkt anwendbare Kompetenzen / gutes Lernen kombiniert zwei Elemente
KV-Lehrlinge sollen so vermehrt und gezielt auf den Alltag vorbereitet werden – nach den Parametern von Effizienz und Nützlichkeit: kompetenzorientiert, wie es in der Fachsprache heisst – und in selbstgeleiteter und selbstwirksamer Arbeit. Gefragt sind direkt anwendbare Kompetenzen. Dabei wird das optimistische Selbst zur Ressource seiner eigenen Wirksamkeit. Aus der Bildung der Person wird das ‚unternehmerische Selbst‘. Wie es die Wirtschaft will.
Die Didaktik löst sich darum zunehmend in Selbstmanagement auf; die Rolle der KV-Lehrerinnen und -Lehrer verändert sich. Gefragt und entscheidend ist nicht mehr jene Lehrperson, die ein grosses Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Grad an schülerorientierter Lehrersteuerung verbinden kann – wichtig wird der perfekte Arrangeur von Lernsituationen, entscheidend die blosse Lernbegleiterin. Vergessen geht, was zuverlässige Forschungsbefunde belegen: Erfolgreiches und wirksames Lernen kombiniert die zwei didaktischen Elemente lehrerzentriertes Lehren und schülerzentriertes Arbeiten – statt beide gegeneinander auszuspielen und das eine, das selbstgesteuerte Lernen, einseitig zu favorisieren.
Selbststeuerung erfreut sich ungebremster Popularität
„Das alles ist keine Re-Form, das ist eine De-Form“, schreibt ein engagierter KV-Lehrer. „Angehört worden sind wir nicht; unten können wir nur nachvollziehen, was oben ausgeheckt wurde“, meint er weiter und verweist auf die Maulkörbe, die verteilt worden sind. Nicht ohne resignativen Unterton. Er als Lehrer an der Front soll umsetzen, was ihm verordnet wird. Pädagogisches Erfahrungswissen würde schlicht negiert. Mit seiner Kritik steht er nicht allein. Sie ist an der Basis weit verbreitet. Hier im pädagogischen Feld wissen viele um die inhaltliche wie theoretische Unschärfe und Widersprüchlichkeit des Begriffs „selbstgesteuertes Lernen“ – im Gegensatz zu den Bildungsstäben. In diesen Etagen erfreut sich der Begriff ungebremster Beliebtheit – dies wohl deshalb, weil „Selbststeuerung“ Fortschritt suggeriert.
Wie steht es mit den Grundkompetenzen“, fragt er vieldeutig, „beispielsweise dem korrekten und klaren Schreiben in der Standardsprache oder dem Lesen und Rechnen?
Wirkung geht von Menschen aus
Die Reform gehe darum von Voraussetzungen aus, die gar nicht gegeben seien, kritisiert ein anderer KV-Pädagoge. „Wie steht es mit den Grundkompetenzen“, fragt er vieldeutig, „beispielsweise dem korrekten und klaren Schreiben in der Standardsprache oder dem Lesen und Rechnen?“ Bei allzu vielen Schülerinnen und Schülern, die ins KV einträten, sei dieses Können nur unzureichend ausgebildet. „Und dies nach 9 Schuljahren, wohlverstanden!“, fügt er ernüchtert bei – und erinnert damit an die Ergebnisse der PISA-Studien.
Die jungen Leute benötigten unsere Hilfe; sie bräuchten unser Lehren und seien auf konsequente pädagogische Führung angewiesen, betont er. Die Erfahrung zeige es. Wirkung gehe eben nie allein von Strukturen, sondern im Wesentlichen von Menschen aus. Nur im engen Dialog erzielten die Schüler Lernfortschritte – angeleitet und so zur Selbständigkeit geleitet. Autonomie sei das Ziel, aber nicht der anfängliche Weg im KV. Und genau das propagiere die Reform mit der Auflösung der Fächer und dem selbstorientierten Lernen.
Reformen müssten auf dem langjährigen Know-how erfahrener KV-Lehrer aufbauen und nicht über ein radikales Innovationsdiktat aus einem engen und abgeschlossenen Zirkel kommen, wie dies bei der KV-Reform „Kaufleute 2022“ der Fall ist.
Reformschritte mit Basis statt technokratischer Innovationsdiskurs
Wer die Reaktion der Verantwortlichen auf die Kritik an der Basis studiert, stösst auf drei Antworten: Die Ausbildung müsse arbeitsmarktfähig bleiben und darum den Bezug zur Betriebspraxis eng gestalten; die Berufszukunft der jungen Menschen verlange es. Nur so sei drittens der Wirtschaft gedient. Die Kompetenzorientierung entspreche im Übrigen den Anforderungen des Berufsfelds und den Tendenzen in der Schweizer Bildungslandschaft.
Kaum zu vernehmen sind Bildungsargumente und Belege aus der empirischen Unterrichtsforschung. Fortschrittskonzepte und die zweifellos notwendigen Reformschritte müssten doch aus dem genuinen Ideenhaushalt der Pädagogik kommen; sie müssten auf dem langjährigen Know-how erfahrener KV-Lehrer aufbauen und nicht über ein radikales Innovationsdiktat aus einem engen und abgeschlossenen Zirkel kommen, wie dies bei der KV-Reform „Kaufleute 2022“ der Fall ist.
Es gibt, so der Bildungsökonom Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, „so gut wie keine wissenschaftlichen Studien über ihre Wirkung. […] Ja, das ist vernichtend.
Unbekannte Reformeffekte
Erneut wird viel versprochen. Aus der Forschung wissen wir aber, dass man die Effekte solcher Reformen im Bildungswesen nicht kennt. Es gibt, so der Bildungsökonom Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, „so gut wie keine wissenschaftlichen Studien über ihre Wirkung. […] Ja, das ist vernichtend, aber es ist so“, fügt er nüchtern bei.[2] Dabei sind es allein in den letzten zwanzig Jahren schweizweit Hunderte von Reformprojekten.
Ob durch die ungezählten Innovationen in den Schulen tatsächlich etwas besser wurde, kann niemand gesichert belegen. Eine deutliche Sprache reden nur die PISA-Studien: Seit 2009 geht es mit den Leistungen der Schweizer Jugendlichen im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften bergab. In der Lesekompetenz sind sie sogar deutlich unter die Durchschnittswerte der OECD-Staaten gefallen und klar hinter unsern nördlichen Nachbarn Deutschland.
Die pädagogische Substanz der Probleme erfassen
Und noch etwas wissen wir: Das Hypertrophe der Versprechungen rächt sich vielfach mit der Resignation an der Basis. Es ist eine Art entfremdete Getriebenheit, die sich hier einstellt. Geführt wird von oben ein technokratischer Reformdiskurs, der sich zunehmend als unfähig erweist, die pädagogische Substanz der Probleme zu erfassen. Stattdessen hören wir Plastikwörter und Leerformeln.[3] Das KV ist – leider – kein Einzelfall.
[1] Jorgos Brouzos, Banken protestieren gegen KV-Reform, in: Tages-Anzeiger, 18.05.2021, S. 9.
[2] Martin Beglinger, „Das ist vernichtend“, in: NZZ, 31.08.2018, S.53.
[3] Vgl. Andreas Gruschka (2019), Erziehen heisst Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart: Reclam, S. 19.
Zitat: “Aus der Bildung der Person wird das ‚unternehmerische Selbst‘. Wie es die Wirtschaft will.”
Gehören die protestierenden Banken und der Bankenverband nicht zur Wirtschaft?