21. Dezember 2024

Sprachkompetenz im Mathematikunterricht

Professor Kühnel, emer. Mathematikprofessor in Stuttgart, stellt nicht nur die “Ethnomathematik” (Viel Phraseologie – wenig mathematische Didaktik, 4.3.21) in Frage. In diesem Beitrag wendet er sich auch gegen einen allzu sprachlastigen Mathematikunterricht, der die ohnenhin schon enorme Anpassungsleistung unserer Migrantenkinder zusätzlich erschwert. Der Artikel ist zuerst im Bildungsmagazin Profil erschienen.

Prof. Wolfgang Kuehnel, Stuttgart: Den Migrankenkindern zu mehr Erfolgserlebnissen verhelfen.

Überall kann man sehen, dass Mathematikaufgaben heute meist mit langen Texten versehen werden, dass Aufgaben zur mathematischen Modellierung viel Kontext erfordern und deren Formulierung eben gute Sprachkenntnisse voraussetzt. Konkret führt das leider dazu (mehr als in anderen Ländern), dass Migrantenkinder in der Schule in Mathematik wegen ‘sprachlicher Hürden’ schlechter abschneiden (siehe Gogolin 2012, Prediger 2013). Warum in aller Welt müssen wir die Migrantenkinder selbst im Mathematikunterricht mit sprachlichen Problemen belasten, von denen es doch schon genug gibt? Sogar in der Presse wurde schon über zu komplizierte Texte mathematischer Abituraufgaben 2015 geklagt: »Besonders für Schüler mit nicht deutscher Muttersprache war das schwierig«, so wird eine Gymnasialdirektorin in Wien zitiert (Kurier 2015).

Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text?

Das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie besagt Folgendes:

»Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie war, dass Schülerinnen und Schüler beim Reproduzieren des mathematischen Sinns von Aufgaben, die im Deutschen als Zweitsprache angeboten wurden, deutlich mehr Intensität und Zeit zur Klärung von sprachlichen Detailmerkmalen der zu bearbeitenden Texte verwendeten als die einsprachigen Gleichaltrigen. Während Letztere für die Mathematisierung irrelevante sprachliche Teile der Aufgaben tendenziell unbeachtet ließen (und somit Zeit für mathematisches Tun gewannen), verfolgten Erstere eher die Strategie der Schritt-für-Schritt-Erschließung des Sinns der sprachlichen Darbietung und traten erst nach Abschluss dieser Tätigkeit in die mathematische Arbeit im engeren Sinne über.« (Gogolin 2012, S. 159)

Mit anderen Worten: Wer clever ist, lässt gleich den überflüssigen Text weg und konzentriert sich auf das, was man eigentlich machen soll. Gerüchten zufolge ist das auch der Ratschlag erfahrener Gymnasiallehrer. Den Migrantenkindern fehlt diese Art von Cleverness oft schon allein wegen der Sprache. Ist das nicht unfair? Wozu braucht man die von Gogolin zitierten »irrelevanten sprachlichen Teile«? Etwas sarkastisch formuliert: Erst schafft man ein Problem für die Migrantenkinder (die  man doch eigentlich gar nicht schädigen will, im Gegenteil) durch die bombastischen Texte der angeblichen ‘

Leitfaden zum Textverstehen von Mathematikaufgaben: Ist das nötig?

Modellierungaufgaben’ (vgl. Kühnel 2015), und dann behauptet man, jetzt mehr Sprachförderung in den Mathematikunterricht einbringen zu müssen, natürlich zu Lasten des eigentlichen mathematischen Verständnisses. Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text? Gerade ein kalkülmäßiges Bearbeiten von mathematischen Aufgaben ist sprachunabhängig: Jeder kann in seiner Muttersprache rechnen, und es muss immer dasselbe herauskommen, das ist doch schön. Warum sollen türkische Schüler das kleine Einmaleins oder die Regeln des ‘Buchstabenrechnens’ nicht auf Türkisch memorieren? Die Schriftzeichen für die Zahlen und Formeln sind zum Glück international immer dieselben, sogar in chinesischen Lehrbüchern. Sollte es dabei ‘kulturelle Unterschiede’ geben, so sind diese jedenfalls nicht dafür relevant, ob das Ergebnis bzw. der Rechenweg nun stimmt oder nicht. Ganz deutlich wird dies in den berühmten ‘Beweisen’ antiker Geometer, die eine Figur aufmalten und dann ‘Siehe!’ danebenschrieben. Jeder sollte die Figur ansehen und sich dann seinen Beweis selbst zusammenreimen, wobei es selbstverständlich auf eine bestimmte Sprache gar nicht mehr ankam. Das ist wahrhaft ‘internationale Verständigung’, fast so wie bei dem sprachlichen Wunder in der christlichen Mythologie zu Pingsten.

Zusätzlich gibt es dabei auch noch die Gender-Problematik:

»Der weiblichen Gender-Gruppe mit ihrer größeren Sensibilität für Sprache bereitet die sprachliche Ebene immer mehr Probleme als der männlichen« (Jungwirth o.J., S. 8). Also schafft man auch noch Probleme für die Mädchen, ganz im Gegensatz zu der offiziellen Politik, mehr Frauen in die MINT-Fächer zu locken.

Es fallen auch die Worte ‘Schwarzwald’, ‘Bedarfsspitzen’ und ‘Verbrauchseinbrüche’. Außerdem wird auf die Austrocknung des Aralsees Bezug genommen sowie auf den Baumwollanbau in Usbekistan.

Schön wäre es eigentlich, wenn die Schulbücher zur Mathematik darauf Rücksicht nähmen und sprachliche Probleme auf ein Mindestmaß reduzieren würden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Schulbücher erzählen immer buntere Geschichten über alles und jedes, wobei diejenigen benachteiligt sind, die sprachlich eben nicht gut sind. In dem verbreiteten Buch (Elemente 2010) wird in der Einleitung des Kapitels 5 zur Integralrechnung über eine Seite lang erläutert, was ein Pumpspeicherkraftwerk tut. Müssen wir alle dieses Wort kennen? Es fallen auch die Worte ‘Schwarzwald’, ‘Bedarfsspitzen’ und ‘Verbrauchseinbrüche’. Außerdem wird auf die Austrocknung des Aralsees Bezug genommen sowie auf den Baumwollanbau in Usbekistan. Auch ein Hybridauto darf zur Motivation des Integralbegriffs nicht fehlen. Alles geschieht in guter Absicht, aber ob das nicht mehr ablenkt als nützt? Gelegentlich wird sogar behauptet, der Mathematikunterricht müsse quasi eine Art von »Fortsetzung des Deutschunterrichts mit anderen Mitteln« sein und zur Sprachförderung Entscheidendes beitragen. Das kostet natürlich Zeit, die anderswo fehlt.

Auch hat PISA 2012 ergeben, dass die mathematischen Kenntnisse der getesteten Schüler in Griechenland und in der Türkei durchschnittlich um mehr als 60 Punkte hinter denen in Deutschland zurückfielen (Migranten mitgezählt), was enorm viel ist, nämlich ein bis zwei Schuljahre. Ob das an mangelnder Sprachförderung der griechischen bzw. türkischen Schüler gelegen hat?

Bei einem Weiterbildungskurs (DZLM 2014) postuliert man wörtlich:

»… Daher ist Sprachförderung im Mathematikunterricht ein bedeutsamer Faktor zur Reduktion herkunft- und sozialbedingter Leistungsdisparitäten«.

Sprachförderung durch Mathematik?

Diese Behauptung übersieht geflissentlich, dass man diese Art von Disparitäten zum guten Teil selbst erst geschaffen hat, und es klingt fast so, als hätte es riesige Leistungsdisparitäten im Fach Mathematik nicht schon immer gegeben, auch innerhalb des klassischen Gymnasiums und innerhalb einer relativ homogenen sozialen Schicht, bei der von sprachlichen Defiziten keine Rede sein konnte. Auch hat PISA 2012 ergeben, dass die mathematischen Kenntnisse der getesteten Schüler in Griechenland und in der Türkei durchschnittlich um mehr als 60 Punkte hinter denen in Deutschland zurückfielen (Migranten mitgezählt), was enorm viel ist, nämlich ein bis zwei Schuljahre. Ob das an mangelnder Sprachförderung der griechischen bzw. türkischen Schüler gelegen hat?

Das alles ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Mathematiknote heutzutage eben tatsächlich nicht mehr allein  von mathematischen Fähigkeiten abhängen soll, und das nicht nur in der Grundschule, sondern sogar beim Gymnasium. Ein schönes Beispiel ist die Formulierung der Bildungsziele in der gymnasialen Oberstufe in Hamburg (Bildungsplan 2009), wo  es auf S. 25 explizit heißt: »Die für ein Semester vergebenen Gesamtnoten dürfen sich nicht überwiegend auf die Ergebnisse der Klausuren und der ihnen gleichgestellten Leistungen beziehen.« Stattdessen werden eine ganze Seite lang andere Bewertungskriterien aufgelistet, von denen etliche den sogenannten ‘soft skills’ zuzurechnen sind, etwa ‘Einhaltung von Gesprächsregeln’, ‘Übernahme der Verantwortung für den eigenen Lern- und Arbeitsprozess’, ‘Integration der eigenen Arbeit in Gruppenarbeit’, ‘Medieneinsatz’, ‘Zeitplanung’, ‘Kommunikation und Kooperation’ usw.

So gesehen scheint die vielbeschworene ‘Kompetenzorientierung’ unter anderem zur Folge zu haben, dass bei jedem Schulfach gewisse Standardkompetenzen eingehen, die mit dem Fach selbst gar nichts direkt zu tun haben. Ob das ursprünglich beabsichtigt war, als man sich über Kompetenzen Gedanken machte? So scheint das ganz offiziell dazu zu führen, dass Sozial- oder kommunikative Kompetenz in praktisch jedem Schulfach zu besseren Noten führt. Das aber ist im Fach Mathematik doch sehr fragwürdig: Was mathematisch nicht stimmt, wird durch noch so viel kommunikative Kompetenz nicht besser. Populär ausgedrückt: Mathematik ist nun einmal ein Fach, bei dem man nicht ‘drumherum schwätzen’ kann (gewiss keine neue Erkenntnis, aber doch wert, mal wieder in Erinnerung gerufen zu werden). Vergessen wird oft, dass der Mathematikunterricht u.a. auch auf das Denken und spezifisch auf das logischen Denken und logische Schließen zielt, im Gegensatz zu etlichen anderen Fächern. Die sogenannte ‘Bildungssprache’ (academic language) steht dagegen gar nicht im Fokus. Im Prinzip genügt eine schlichte Sprache mit schnörkellosen, nicht verschachtelten Sätzen und mit einem Standard-Vokabular, um in der Mathematik fast alles Relevante auszudrücken. Im Gegensatz dazu spricht man von ‘Hürden auf Wortebene’ und von hinderlicher ‘Komplexität von Satzstrukturen’ (Prediger 2013).

Negativ ausgedrückt: Die neue Betonung des Sprachlichen im Mathematikunterricht könnte dazu führen, dass man jetzt eben doch bei der Mathematik drum herumschwätzen und damit ausreichende oder bessere Noten bekommen kann. Wie man hört, werden nicht selten ‘Präsentationen’ und Referate dazu genutzt, fehlende Punkte auszugleichen, denn eine Präsentationsprüfung wird selten mit einer Note schlechter als ‘befriedigend’ benotet. Am Ende kann es sich ruinös auf das mathematische Niveau auswirken, wenn viele versuchten, auf diese Weise ‘durchzurutschen’. Und es benachteiligt gerade diejenigen, die mathematisch gut, aber sprachlich nicht gut sind. Muss das sein?

In der Kürze liegt die Würze, und Übersichtlichkeit ist eine Tugend! Schließlich ist die Formelsprache eine geniale und international verbindende Möglichkeit zu kommunizieren.

Die Migrantenkinder würden es uns vielleicht danken, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht schon deshalb ins Hintertreffen geraten, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist.

Positiv formuliert: Es sollte doch möglich sein, die Mathematik als Fach sui generis zu betrachten und nicht unnötigerweise mit Sprachproblemen zu belasten. In maßvollem Umfang sind Textaufgaben zu Anwendungen selbstverständlich auch willkommen, aber: In der Kürze liegt die Würze, und Übersichtlichkeit ist eine Tugend! Schließlich ist die Formelsprache eine geniale und international verbindende Möglichkeit zu kommunizieren. Die Migrantenkinder würden es uns vielleicht danken, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht schon deshalb ins Hintertreffen geraten, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist. Aktuell könnten vielleicht aufgeweckte Flüchtlingskinder beim Fach Mathematik erste Erfolgserlebnisse in der Schule haben, auch wenn ihr Deutsch noch sehr mager ist. Gönnen wir es ihnen doch. Möglicherweise werden so – auch unter den Nicht-Migranten – mehr mathematische Talente entdeckt, die eben nicht zugleich auch sprachliche Talente sind. Der pädagogische Traum, durch geeignete Förderung sämtliche Leistungsunterschiede im Bereich der Mathematik einzuebnen, dürfte wohl ohnehin unerfüllbar sein, Sprache hin – Sprache her.

Wolfgang Kühnel (* 1950) ist ein deutscher Mathematiker, der sich mit Differentialgeometrie und kombinatorischer Topologie beschäftigt. Er ist Autor von über 80 wissenschaftlichen Publikationen und Verfasser eines Standardlehrbuchs der Differentialgeometrie. Der Artikel erschien zuerst im Magazin PROFIL (Deutschland).

Literaturangaben:

Bildungsplan 2009: Bildungsplan gymnasiale Oberstufe Mathematik. Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg, 27 Seiten, www.hamburg.de/content- blob/1475206/data/mathe- matik-gyo.pdf

DZLM 2014: Weiterbildungskurs zur Sprachförderung im Ma- thematikunterricht, www.dzlm.de/fort-und-weiterbildung/kurse/sprachförderung-im-mathematikunterricht

Elemente 2010: Heinz Griesel et al. (eds.), Elemente der Mathematik für die Kursstufe in Baden-Württemberg. Schroe- del-Verlag, ISBN 978-3-507-87951-5

Gogolin 2012: Ingrid Gogolin, Sprachliche Bildung im Mathematikunterricht. In: Mathematikunterricht im Kontext von Realität, Kultur und Lehrerprofessionalität (W. Blum, R. Borromeo Ferri, K. Maaß, Hrsg.), Festschrift für Gabriele Kaiser, Springer Spektrum, S. 157-165

Kühnel 2015: Wolfgang Kühnel, Modellierungskompetenz und Problemlösekompetenz im Hamburger Zentralabitur zur Mathematik. Math. Semesterberichte 62 (2015), 69-82

Kurier 2015: http://kurier.at/lebensart/familie/zentralmtura-so-waren-die-mathema- tikklausuren/129.817.452

Prediger 2013: Susanne Prediger, Sprachmittel für mathematische Verstehensprozesse – Einblicke in Probleme, Vorgehensweise und Ergebnisse von Entwicklungsstudien, siehe: www.mathematik.uni- dortmund.de/~prediger/vero- eff/13-Prediger-MNU-FL- MuM_Sprachmittel.pdf

 

 

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