24. November 2024

Selektive Sicht auf den Unterricht

Über den Wert der Hausaufgaben kann man geteilter Meinung sein. Wer sich dabei auf wissenschaftliche Studien beruft, sollte bestimmte Erkenntnisse nicht einfach ausblenden. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Carl Bossard: Bildungsbewusste Eltern werden ihre Kinder weiterhin anregen.

Es geht auch ohne „Ufzgi“! Unter diesem Titel berichtet die NZZ über die Zürcher Schulgemeinde Männedorf; sie startet ein Pilotprojekt und schafft für die Erst- bis Drittklässler die obligatorischen Hausaufgaben ab.[1] Ersetzt werden sie mit Schulaufgaben. Die Gemeinde ist nicht allein. Verschiedene kommunale Schulen haben die „Ufzgi“-Pflicht aufgehoben, so beispielsweise Köniz, Kriens oder Arbon. Sie werden wohl nicht die Einzigen bleiben und Nachahmer finden.

Bildungsgerechtigkeit dank Hausaufgabenverbot?

Die Hausaufgaben stehen seit Längerem unter Druck. Remo Largo, der kürzlich verstorbene Kinderarzt und bekannte Bestsellerautor, meinte lakonisch: “Hausaufgaben bringen gar nichts. Schüler und Eltern werden damit nur schikaniert.”[2] Fehlender Lerneffekt und schulische Schikane sind die beiden Hauptvorwürfe gegenüber den Hausaufgaben.[3]

Remo Largo: Hausaufgaben bringen gar nichts.
Bild: KEYSTONE/Gaetan Bally

Hausaufgaben würden überdies die soziale Ungleichheit in Bildungsprozessen verstärken, das Leistungsgefälle vergrössern und so die Chancengleichheit erschweren, lautet ein dritter Einwand. Stefan C. Wolter, der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, forderte darum ein Hausaufgabenverbot bis zur vierten Primarklasse. Von dieser Massnahme profitierten vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.[4] Ihnen bereiteten die Hausaufgaben deutlich mehr Mühe.

Beliebte Wenn-Dann-Korrelation

Auch die Schule Männedorf begründet ihren Entscheid mit der Bildungsgerechtigkeit. Alle Kinder sollten die gleichen Chancen haben.[5] Mit diesem Argument setzt die Schulgemeinde auf die Wenn-Dann-Beziehung: Wenn wir die Hausaufgaben abschaffen, dann erhöhen wir die Chancengleichheit für alle. Mit dieser Ansicht steht Männedorf nicht alleine. Doch ist es wirklich so einfach?

Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab, selbst wenn der reguläre Unterricht sie mit sogenannten Lernzeiten und Schulaufgaben kompensiert.

Bildung und Erziehung kennen das „Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger.[6] Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten. Verschiedene Schulen streichen darum die offiziellen Hausaufgaben. Ihre Begründung: Sie wollen Bildungsgerechtigkeit. Und die Nebenwirkung? Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab, selbst wenn der reguläre Unterricht sie mit sogenannten Lernzeiten und Schulaufgaben kompensiert.

Regelmässige und kurze Hausaufgaben

Bildungsbewusste Eltern werden ihre Kinder weiterhin anregen, mit ihnen vielleicht sogar wiederholen und automatisieren. Sie wissen um den unverzichtbaren Wert des Repetierens, des Nachbereitens und Vorbereitens, des (Nach-)Denkens. Kinder aus anderen Familien haben diese Chance vielleicht nicht. Die nicht beabsichtigte Folge: Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter. Doch der Schulerfolg darf nicht vom elterlichen Bildungsniveau oder Portemonnaie abhängig sein.

Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter.

Niemand will das. Darum müsste Sprangers „Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen“ auch hier ernst genommen werden. Alle Kinder haben das Recht auf dieses zusätzliche Gefäss. Regelmässige und kurze, zum Denken und Handeln anregende (Haus-)Aufgaben sind darum wichtig. Dazu gehören sinnvolle, spielerische, entdeckende Elemente.

Nichts zu suchen haben Hausaufgaben als Ersatz für fehlende Übungsphasen oder zum Nachholen, was der Unterricht aus didaktischem Unvermögen versäumt hat.

Hausaufgaben öffnen ein Fenster zur Schule

Nichts zu suchen haben Hausaufgaben als Ersatz für fehlende Übungsphasen oder zum Nachholen, was der Unterricht aus didaktischem Unvermögen versäumt hat. Fehl am Platz sind beispielsweise Arbeitsblätter mit repetitivem Charakter. Das ist nicht der Sinn von Hausaufgaben, sondern deren Perversion. Ebenso wenig dürfen sie die Eltern in die Rolle von Ersatzlehrpersonen oder Hilfssheriffs zwängen; allerdings können sie ihnen ein Fenster zur Schule öffnen und Grundlage für Gespräche mit den Kindern schaffen. Das Interesse der Eltern wirkt sich vorteilhaft aus. Auch das weiss man aus der Forschung.

Bezug auf die Hattie-Metastudie

John Hattie: Moderate Effektstärke

Bei ihrem Hausaufgaben-Entscheid bezieht sich die Schule Männedorf explizit auf den renommierten neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie. Seine Studie „Visible Learning“ ist wegen ihrer enormen Datenbasis besonders beachtenswert. Hattie untersuchte die Lernwirksamkeit von rund 250 Einzelbefunden wie die Klassenführung oder das bewusste Üben. Er beziffert den durchschnittlichen Effekt aller Einflussgrössen auf die Schülerleistung mit einem Kennwert von 0.4. Diese Grösse markiert für Hattie den Bereich der „erwünschten Effekte“.[7] Das gezielte Feedback beispielsweise erreicht eine Wirkgrösse von 0.75, die Glaubwürdigkeit der Lehrperson den hohen Wert von 0.9.

Den Hausaufgaben ordnet Hattie die moderate Effektstärke von 0.33 zu.[8] Bei jüngeren Kindern sind die Wirkwerte kleiner. Auch wenn der Lernwert der Hausaufgaben nur mässig positiv ausfällt, ist das kein Grund, sie abzuschaffen, wohl aber, sie präzis und dosiert zu erteilen, sie zu evaluieren und zu kommentieren – in Hatties Sprache: sie mit andern Wirkwerten synergetisch zu verbinden.

Eine Effektstärke allein wirkt wenig

Ein Beispiel erklärt Hatties Denken und seine Daten: Das Fachwissen der Lehrerin erzielt in seinen empirischen Studien den minimen Wirkwert von 0.09. Das erstaunt auf den ersten Blick. Nun könnte man schliessen, ein Lehrer brauche ja gar keine Fachkompetenz. Das Gegenteil ist der Fall. Zum Tragen kommt sie aber erst in Kombination mit den wichtigen Wirkfaktoren des pädagogischen Engagements und dem didaktischen Können. Erst das Zusammenspiel von elementaren und wirksamen Unterrichtsvariablen führt zu effektvollen Prozessen und damit zu effektivem Lernen.

Gleich geht es der vielgepriesenen Individualisierung. Als (Einzel-)Effektwert erreicht sie lediglich die unbedeutende Grösse von 0.22 und ist für den Lernerfolg der Kinder wenig wirksam. Wenn Schülerinnen und Schüler bei dieser Methode allein gelassen werden, sind sie vielfach überfordert – das gilt besonders für lernschwächere Kinder. In der Debatte um Bildungsgerechtigkeit geht das gerne vergessen. Wirksam wird diese anspruchsvolle Unterrichtsform erst, wenn junge Menschen auf Lehrerinnen und Lehrer stossen, die ihnen Halt und Orientierung geben, die ihnen Resonanzen vermitteln und sie ermutigen. Es sind alles Einflussgrössen, in denen sich die personale Ebene des Unterrichts widerspiegelt. Sie erzielen einen hohen Wirkwert: etwa die Lehrer-Schüler-Beziehung (0.72) oder die besondere Unterstützung von Kindern mit Lernschwierigkeiten (0.77).

Nicht der Weisheit letzter Schluss

Abschaffen ist nicht der Weisheit letzter Schluss

Es geht auch ohne „Ufzgi“!, bilanziert die NZZ etwas gar salopp und zitiert dabei John Hattie. Doch ein präziser Blick auf das Zusammenspiel vieler Variablen aus der empirischen Unterrichtsforschung, wie es Hattie implizit voraussetzt, kommt nicht zum gleich euphorischen Schluss. Im Gegenteil! Kurze und regelmässige, kontrollierte und über individuelle Feedbacks kommentierte Hausaufgaben haben durchaus ihren Wert. „Die Gesamteffekte sind positiv“, resümiert Hattie.[9] Auch hier gilt: Entscheidend sind die Lehrerinnen und Lehrer.

 

[1] In: NZZ, 14.01.2021, S. 17

[2] Peter Krebs, Ein pädagogisches Ritual überlebt. In: NZZ, 30.09.2013, S. 42.

[3] Vgl. Mario Andreotti (2019), Hausaufgaben – leeres Ritual oder notwendig? In: Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache. Schwellbrunn: FormatOst, S. 81f.

[4] Yannick Nock, Brisante Idee: Hausaufgabenverbot für Primarschüler? In: Aargauer Zeitung, 06.04.2018.

[5] Lena Schenkel, Die Hausaufgaben werden je länger, je mehr zu Schulaufgaben, in: NZZ 14.01.2021, S. 13.

[6] Eduard Spranger (1962), Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung. Heidelberg: Quelle und Meyer.

[7] John Hattie & Klaus Zierer (2018), VISIBLE LEARNING. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 30.

[8] Dies. (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 200.

[9] John Hattie (2013), Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von “Visible Learning”, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 276.

 

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Oft wird argumentiert, dass der digitale Unterricht Kosten einsparen würde. Eine Studie der GEW behauptet, dass der nicht hinlänglich sichergestellte IT-Support sich als Achillesferse des Digitalpakts in Deutschland erweisen könne (GEW, 2019).

2 Kommentare

  1. Der Ehrenrettung der Hausaufgaben durch Carl Bossard ist uneingeschränkt zuzustimmen – ja, man muss noch eins draufsetzen:
    Hausaufgaben sind doch (neben Prüfungsarbeiten) die einzige Form selbständigen Arbeitens, die es im Schulwesen überhaupt gibt – ein derart wichtiges Betätigungsfeld darf man jungen Menschen doch nicht verwehren! Im Unterricht dagegen wird doch in der Regel ‘nur’ kollaborativ oder tandemmäßig gearbeitet – die sogenannte Einzelarbeit indes ist weitgehend eine Folge von Äußerungen wie “Zeig mal!” oder “Wie geht das bei Dir?”.
    Und was die Befunde der Hattie-Studie angeht: Für die Sekundarstufe benennt sie für Hausaufgaben sogar eine Effektstärke von 0,58 – die sind dort also hochgradig wirksam!
    Es gibt allerdings schlechte Hausaufgaben – Kennzeichen: zu viel oder zu schwer oder zu neu. Repetetive Übungen hingegen haben sich als gerade kompetenzsichernd erwiesen.
    Apropos Bildungsforscher: Die Generalkritik des vorherigen Kommentars halte ich für nicht angemessen. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen evidenzorientierter Unterrichtsforschung und vergleichenden Lernstandserhebungen – aus letzteren lässt sich wenig Brauchbares ableiten, ersteres aber hat (wie Hatties XXL-Metastudie) deutliche und (manchen überraschende) Hinweise auf die Wirksamkeit von Lehr-Lern-Methoden gegeben.

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