28. März 2024

Die Bieler Schulen: Kulturelle Unterschiede und gemeinsame Probleme

34 Jahre lang unterrichtete Condorcet-Autor Alain Pichard (selber von Geburt an Waadtländer) in den Brennpunktschulen der Stadt Biel. Dabei unterrichtete er bisweilen in welschen Schulklassen und führte gemeinsame Projekte mit den Romands durch. In seinem Beitrag erklärt er unserer LeserInnenschaft die kulturellen Unterschiede dieser beiden Sprachkulturen im Schulbereich und benennt ein gemeinsames Problem.

Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Die Lockerheit nicht falsch interpretieren

Die Stadt Biel hat bekannterweise französisch- und deutschsprachige Schulen. Seit gut 10 Jahren existiert noch im Zentrum Biels ein spezieller Schulzug, die sogenannte «Filière Bilingue». Als ich in den 80er Jahren auf die Bieler Schulen angesprochen wurde, herrschte bei vielen Leuten in der Schweiz die Idee vor, dass alle Schulen zweisprachig funktionieren würden. Meine Basler Freunde reagierten meistens sehr erstaunt, wenn ich ihnen erklärte, dass dies bei Weitem nicht der Fall sei, dass die Bieler Schulen sogar gerade aufgrund ihrer sprachlichen Orientierung stark getrennt werden – bis hin zu unterschiedlichen Ferienplänen, den freien Samstagen oder dem Schuljahresbeginn.

2020 besuchten rund 6019 Kinder bzw. 2769 französischsprachige und 3250 deutschsprachige Schülerinnen und Schüler unsere Schulen. Das ist fast eine «Fifty-fifty-Konstellation».

Die linke VPOD-LehrerInnengruppe war zweisprachig

Die französischsprachigen Schulen in Biel orientieren sich an der Westschweiz, die wiederum eine starke Beeinflussung durch das Nachbarland Frankreich erfährt. Der Autor dieser Zeilen unterrichtete selber ein Jahr lang in einer französischsprechenden Klasse. Weitere Erfahrungen mit der welschen Lehrerschaft sammelte ich, als wir in den späten 70er Jahren die VPOD-Lehrergruppe gründeten, eine linke Lehrergewerkschaft, die strikt zweisprachig war. Ich fühlte mich immer wohl unter den welschen Kolleginnen und Kollegen. Ich empfand sie im privaten Umgang tatsächlich lockerer, und gemeinsame Schulanlässe mit ihnen waren sehr belebend. Dennoch darf man diese äussere Lockerheit nicht mit der Mentalität, die an französischsprachigen Schulen herrscht, verwechseln.

Je suis leur prof, et puis fini!

Der Unterricht in den französischen Schulen, vor allem an der Unterstufe war immer resolut schulisch aufgebaut. Klar strukturierte Lektionen, viel Auswendiglernen und vor allem sehr viele Hausaufgaben prägten den Schulalltag der Schuleinsteiger. Während eines gemeinsamen Projekts mit einer 9. Klasse aus dem Waadtland lernte ich den Lehrer A. kennen. So sehr wir uns auch schätzten, so sehr gingen unsere Ansichten über die Führung einer Klasse auseinander. Als wir einmal über unsere Beziehung zu den Schülern sprachen, sagte er mir: «Je refuse d’avoir une relation avec mes élèves! Je suis leur prof. Et puis fini!»

Kein Interesse an solchen Reformen

Die in den Deutschschweizer Schulen abwechselnd in Mode gekommenen Reformen eines schülerzentrierten Unterrichts oder die Lesemethode «Lesen durch Schreiben» oder gar eine notenfreie Unterstufe schienen unsere welschen Kolleginnen und Kollegen nie richtig zu interessieren. Das war übrigens nicht nur zu ihrem Nachteil. Zudem sind die Romands sehr viel hierarchischer ausgerichtet als wir. «Je dois demander au directeur» war ein oft gehörter Satz, wenn wir unsere welschen Arbeitskollegen zu einem gemeinsamen Projekt überreden wollten.

Bei den Romands kommen mehr Schülerinnen und Schüler aus dem lateinischen Sprachraum

Die Integration stellte die Romands lange Zeit vor weniger grosse Probleme als ihre Deutschschweizer KollegInnen, da sie eher Kinder lateinischer Sprachfamilien integrieren mussten (Italiener, Portugiesen, Spanier). Das hat sich mittlerweile durch den Zuzug der Kinder aus Afrika, vor allem aus den maghrebinischen Staaten verändert. Trotzdem ist die Situation in den deutschsprachigen Schulen immer noch schwieriger, beträgt doch die Zahl der Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, vermutlich bereits über 50%.

Das duale Prinzip ist in den Deutschschweizer Schulen bei Weitem stärker verankert als in der Westschweiz, wo die Lehre eher als Angebot für die «Unterschicht» gilt. Im Gegensatz zum Schulkreis Orpund, wo über 60% der Schülerinnen und Schüler nach Ende der obligatorischen Schulzeit eine Lehre antreten, sind es in Biel lediglich um die 30%.

Man begann, diese unterschiedlichen Schulkulturen als Teil von Biel zu akzeptieren und erkannte sie als Bereicherung, die den Ésprit biennois ausmacht.

Glenda Gonzales, Schuldirektorin, parti socialiste, seit zwei Monaten im Amt

Die Bieler Schulpolitik wird übrigens über seit 36 Jahren von französischsprechenden Sozialdemokraten gesteuert. Gerade eben übernahm die welsche Glenda Gonzales die Nachfolge von Cédric Némitz. Seit einiger Zeit herrscht in der Schweiz eine Art «Vereinheitlichungswahn». So versuchte man auch in Biel die beiden Schulkulturen einander anzugleichen. Schweizweit fabulierten Bildungsexperten bereits von einem nationalen, sprachenübergreifenden einheitlichen Lehrplan. In Biel klappte das – glücklicherweise – nicht. Man begann, diese unterschiedlichen Schulkulturen als Teil von Biel zu akzeptieren und erkannte sie als Bereicherung, die den Ésprit biennois ausmacht. In Biel gibt es übrigens neuerdings drei Lehrpläne: den welschen, den Deutschschweizer und den der Filière Bilingue, eine Art «Mélange».

Illetrismus als gemeinsames Problem

Gemeinsam ist beiden Sprachgemeinschaften allerdings der skandalöse Prozentsatz von fast einem Fünftel der SchülerInnen, die unsere Schule als Illetristen verlassen, das heisst, dass sie kaum einen Text lesen oder schreiben können. Das sollte die neue Schuldirektorin Gonzales stärker beunruhigen als der schleppende Ausbau der Filière Bilingue.

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Herzliche Gratulation zu diesem aufschlussreichen Artikel und dem Plädoyer für die kulturelle Vielfalt, die unser Land so interessant macht. Interessant wäre zu erfahren, warum die beiden unterschiedlichen Ansätze gleichviel Illetristen “produzieren”? Sind die welschen Schulen von ihrer lernwirksamen Tradition (Klar strukturierte Lektionen, viel Auswendiglernen, viele Hausaufgaben und wenig Reformen) abgewichen? Welche Rolle spielt der Anteil Kinder aus fremden Kulturen oder bildungsfernen Familien? Hat man die speziellen Auffangklassen für solche Kinder (Einschulungsklassen, Kleinklassen usw.) abgeschafft?

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