Ein Passepartout, der Tore schliesst statt öffnet

Condorcet-Autor und Schulleiter Andreas Aebi ist ein leidenschaftlicher Französischlehrer. Er sprach bei der Einführung von Frühfranzösisch von einer völligen Fehlinvestition und prophezeite bei der Einführung der Passepartout-Lehrmittel: “Das wird nicht gutgehen.” Nach sieben Jahren zieht er Bilanz.

Schauplatz Genf: Meine SiebtklässlerInnen sind unterwegs in der Stadt. Sie haben den Auftrag, das Ziel im Parc des Bastions selbständig zu finden und unterwegs eine Umfrage durchzuführen. Zielpublikum: junge Leute wie sie. Und weil sie die Umfrage mit Handy dokumentieren, kann ich mir zuhause die Resultate anhören. Die sind brisant: Die Hälfte der Kurzinterviews beginnt auf Französisch und endet auf Englisch.

Schüleraustausch in Genf: Interviews beginnen in Französisch und enden auf Englisch.

Französisch hatte es schon immer schwer. Mit der zunehmenden Anglifizierung unseres Lebens droht der Franzunterricht aber zum Kampf gegen Windmühlen zu mutieren. Zwei Dinge bräuchten die Schulen, um in diesem Umfeld Erfolge zu erzielen: gute SprachlehrerInnen, die Französisch lieben und beherrschen, und ein starkes Lehrmittel. Beide Bedingungen sind im Kanton Bern nicht erfüllt, und die Hauptschuld trägt das Konzept Passepartout.

Pädagogisch steht Frühfranzösisch auf schwachen Füssen

Sein erster Pfeiler war die Einführung von Frühfranzösisch. Sie geht auf einen Entscheid des Grossen Rates zurück, der für einen zweisprachigen Kanton nachvollziehbar erschien. Pädagogisch steht er aber auf schwachen Füssen, denn es gab und gibt zu wenig FranzlehrerInnen. Also engagieren die Primarschulen jetzt ErwachsenenbildnerInnen, pensionierte LehrerInnen oder Romand(e)s, die in ihrer Gemeinde wohnen. Diese erweisen sich häufig als taugliche Notlösung, aber den Personalbedarf decken sie nicht. Darum werden zum Französisch auch Lehrpersonen verknurrt, die weder Flair noch Kompetenz aufweisen. Im schlimmsten Fall sprechen sie im Unterricht konsequent Deutsch.

Passepartout-Lehrmittel beruhen auf Ideologie

Der zweite Pfeiler waren die Lehrmittel «Mille feuilles» (Primarstufe) und «Clin d’Oeil» (Sek 1). Aber das pädagogische Konzept des «Sprachbads», das diesen Lehrmitteln zu Grunde liegt, zielt an der Stundentafel der Volksschule vorbei (2-3 Wochenlektionen Französisch) – und am jungen Menschen. Die AutorInnen gingen nämlich davon aus, dass die Drittklässlerin und der Neuntklässler immer und automatisch Appetit auf Französisch haben, solange man ihnen nur die dicke Menükarte zureicht, aus der sie ihre Leckerbissen auswählen sollten. Indem sie den jungen Menschen idealisierten (und Entwicklungsphasen wie die Pubertät ignorierten), schufen sie eine Ideologie. Mit ihrer Beliebtheits-Pädagogik erreichten sie Beliebigkeit.

Nach fünf Jahren ziehe ich eine enttäuschende Bilanz.

Clin d’oeil gibt keinen Halt

Ich unterrichte Französisch auf der Oberstufe. Nach fünf Jahren Praxis mit «Clin d’oeil» muss ich eine enttäuschende Bilanz ziehen. Die 5 Prozent der Hochbegabten, die vom klassischen Lehrmittel unterfordert sind, lernen besser Französisch als je zuvor. Die 20 Prozent der Sprachfreaks und die 30 Prozent der Immerfleissigen kommen knapp über die Runden. Alle anderen hängen früher oder später ab, weil «Clin d’oeil» keinen Halt in Form von Sprachaufbau und Strukturen bietet. So versuchen Sprachlehrkräfte wie ich verzweifelt, mit Material aus dem persönlichen Notfallkasten die Löcher zu stopfen. Mit einem «Vocabulaire extra». Mit einem Sprachaustausch in der 9. Klasse. Mit Brücken zum realen Leben, zur Berufswelt, zur Landeskultur. Dort ist Französisch nämlich noch immer ein Thema und kann sogar Spass bereiten. Aber für den Spass musst du zuerst ein paar Wörter in der Festplatte haben und nicht nur im Google-Translator. Die Funktion «Speichern» gibt es bei «Clin d’oeil» leider nicht. Eine nachhaltige Unterrichtseinheit übers Einkaufen, übers Essen, über die Mode, übers Flirten? Fehlanzeige.

Die ersten Evaluationen der Wissenschaft sind schonungslos: Passepartout-AbsolventInnen haben zwei Jahre länger Französisch und können weniger als ihre VorgängerInnen. Passepartout, mit seinen aufwändigen Lehrmittelkursen und seinen Einweg-Lehrmitteln, ist eines der teuersten Projekte der Berner Schulgeschichte.

Das teuerste Lehrmittel der Berner Schulgeschichte

Die ersten Evaluationen der Wissenschaft sind schonungslos: Passepartout-AbsolventInnen haben zwei Jahre länger Französisch und können weniger als ihre VorgängerInnen. Passepartout, mit seinen aufwändigen Lehrmittelkursen und seinen Einweg-Lehrmitteln, ist eines der teuersten Projekte der Berner Schulgeschichte. Für den Schulverlag und den Kanton ist es zu einem finanziellen Klumpenrisiko geworden. So nimmt unser Franz seinen teuren Lauf. Mutige Schulen schaffen heimlich das Ostschweizer Lehrmittel «Dis donc!» an, ängstliche fahren die Lernziele zurück. Und ein renommierter Verlag lanciert per 2021–2022 sein neues Lehrwerk mit der Frage: «Suchen Sie eine Alternative zu Ihrem Französisch-Lehrmittel?» Die Gymnasien und Berufsschulen lassen derweil den ganzen Grundwortschatz und die Verbformen nachbüffeln. Im zweiten Ausbildungsjahr beginnt die Aufholjagd zur Matur oder zum Sprachdiplom.

Passepartout – ça ne passe pas!

Passepartout – ça ne passe pas. Wir müssen das Tor zur Romandie öffnen, nicht schliessen. Au boulot. Andreas Aebi

Andreas Aebi ist Schulleiter und Sprachlehrer an der Sekundarschule Langnau. Er war einer der ErstunterzeichnerInnen des «Offenen Briefes zum Passepartout-Debakel an die Erziehungsdirektionen der sechs Passepartout-Kantone» vom 15. Oktober 2019. Dieser Beitrag erschien im Forum der Tageszeitung Bund am 7. 12.19

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