Wir lernen erkennen, wo in unserem Schulwesen die Fehlerquelle steckt: die Schule geht vom Stoff aus und bleibt am Stoff kleben. Sie sollte von der Kraft ausgehen und Kräfte entwickeln, dann würde sie viel mehr Stoff haben als heute und ihn doch spielend bewältigen.
Alfred Lichtwark: Die Einheit der künstlerischen Erziehung, 1904
Wenn es ein Konzept gibt, an dem sich Unterricht und Bildung ausrichten sollen, dann ist es die Kompetenz. Kompetenz, verstanden als Selbstwirksamkeit, ist neben sozialer Eingebundenheit und Autonomie eines der drei Grundbedürfnisse jedes Menschen: Wir brauchen das Gefühl, in der Welt etwas bewirken zu können (vgl. die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan). Das ist es, was Kompetenz meint: Was jemand tun kann und tun will.[1]
Selbstverständlich braucht es dafür bestimmte Voraussetzungen: Eine Haltung zur Welt und Wissen über die Welt, in welcher Kompetenz erlebt wird. Die folgenden Gedanken zeigen ausgehend von dieser Grundeinsicht, weshalb eine einseitige Skepsis gegenüber dem Kompetenz-Gedanken gerade für Gymnasien problematisch ist.
Der Kompetenzbegriff im pädagogischen Diskurs
In den letzten 20 Jahren ist Kompetenzorientierung zu einem Trend geworden, wie Carl Bossard in Qi 4/20, S. 8–12, kritisch dargelegt hat. Der Grundgedanke dahinter ist einleuchtend: Der Fokus auf Wissen (oder schlimmer: »Stoff«) führt nämlich zu zwei Problemen. Erstens zum Lehr-Lern-Fehlschluss, bei dem Lehrpersonen der Wahrnehmungsverzerrung unterliegen: Von ihnen vermitteltes Wissen würde zu Wissen der Lernenden, oder kürzer: gelernt wird das, was gelehrt wird (Waeytens et al. 2002, S. 314f.). Das ist schlicht nicht der Fall, wie sich auch empirisch nachweisen lässt. Für Lehrende fühlt sich Unterricht aber oft so an. (Für eine Übersicht zu Befunden zum selbstregulierten Lernen vgl. Otto et al. 2011, S. 38ff.).
Der Fokus auf Wissensbestände erschwert die Bildungsgerechtigkeit
Zweitens ist der Fokus auf Wissensbestände deshalb problematisch, weil er Bildungsgerechtigkeit erschwert. Wer Eltern hat, die Kindern schon vor dem Kindergarten in die Welt der antiken Sagen Europas einführen, wird es einfacher haben, im Untergymnasium entsprechende Lernumgebungen zu bewältigen. Wer hingegen die antiken Sagen Afrikas oder Asiens kennt, findet keine Anschlüsse in einem stofforientierten Gymnasium. Kompetenzorientierte Lehrpläne und daran ausgerichteter Unterricht ermöglichen es, diese Differenzen abzufedern und gleiches Können mit möglicherweise unterschiedlichen Wissensbezügen einzufordern.
Kompetenzen sind also grundsätzliche Voraussetzung für konstruktive Didaktik und Bildungsgerechtigkeit.
Kritik teilweise berechtigt
Dennoch ist die Kritik an dem, was in Bezug auf Lehrpläne, standardisierte Prüfungen und generell Formulierungen in letzter Zeit passiert ist, gerechtfertigt: Zu oft erschöpfte sich die didaktische Innovation in Formulierungen, es wurde so getan, als ob Unterricht sich an den Kompetenzen den Schülerinnen und Schülern ausrichten würde, während weiterhin Wissen im Vordergrund stand. Entsprechend wurde Stoffvermittlung als Kompetenzorientierung ausgegeben, was sich in Formulierungen und Konzepten zeigt, die weiterhin Inhalte vorgeben.
Das ist auch bildungspolitisch oft so gewollt: Peter Bonati macht in seinem Buch »Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne« (2017) keinen Hehl daraus, dass er sich weiterhin Lehrpläne wünscht, die Schulen Inhalte vorschreiben. Und er findet mit dieser Position Gehör, er ist einer der Experten, welche für die Überarbeitung der Rahmenlehrpläne im Auftrag der EDK beigezogen worden sind.
Bilanziert man den aktuellen Stand der bildungspolitischen Diskussionen, so lässt sich konzeptionell, formal und sprachlich eine Ausrichtung an Kompetenzmodellen feststellen, die aber in einer gewissen Spannung zum verbreiteten Wunsch steht, Inhalte vorzugeben.
Die Grundidee hinter der Kompetenzorientierung aber deshalb zu verwerfen, weil Kompetenzen beruflich relevant sind und bildungs-ökonomische Prozesse auf Kompetenzen abgestützt sind, ist ein Fehlschluss.
Bildung und Employability
Kompetenzorientierung steht oft im Verdacht, eine einseitige Ausrichtung auf wirtschaftlich verwertbares Können zu erzwingen und konzeptionell der Kern einer Ökonomisierung und Steuerung der Bildung darzustellen, die etwa von der OECD vorangetrieben wird. Bildungspolitik unterliegt (wie alle anderen politischen Prozesse) der Einflussnahme von Wirtschaftsverbänden, sie wird zunehmend für Unternehmen
als Markt interessant. Die Grundidee hinter der Kompetenzorientierung aber deshalb zu verwerfen, weil Kompetenzen beruflich relevant sind und bildungsökonomische Prozesse auf Kompetenzen abgestützt sind, ist ein Fehlschluss: Auch inhaltliche Themenvorgaben und andere Formen der Steuerung von Schulen werden mit wirtschaftlichen Interessen abgeglichen – was nicht grundsätzlich verwerflich ist. Bildung entsteht und entwickelt sich im Kontext der Gesellschaft, zu dem auch die Wirtschaft gehört. Schülerinnen und Schüler ergreifen Berufe und sind an Wertschöpfungsprozessen beteiligt.
Kompetenzen hindern Schulen und Bildungsverantwortliche auch nicht daran, eine rein ökonomische Perspektive auf Bildung entschieden zurückzuweisen.
Kompetenzen erschöpfen sich aber nicht in Employability, vielmehr stellen sie ein sinnvolles Modell dar, um über berufliche und nicht-berufliche Lernprozesse nachzudenken. Und Kompetenzen hindern Schulen und Bildungsverantwortliche auch nicht daran, eine rein ökonomische Perspektive auf Bildung entschieden zurückzuweisen.
Kompetenzen decken nicht alles ab, was in emphatischen Bekenntnissen der Bildung zugeschrieben wird: Selbstbestimmung, Moral oder Poesie, die etwa Peter Bieri als wichtige Aspekte von Bildung benannt hat, lassen sich kaum als Kompetenzen bestimmen. Das ist auch gar nicht nötig: Sie lassen sich nämlich auch nicht über Stoffpläne vermitteln. Poetische, moralische oder subjektbezogene Bildung ist emergent, sie kann nicht festgelegt werden, nicht gesichert werden – Bildung entsteht auch unter widrigen Umständen. Und entsprechend kann es keine sinnvolle Vorstellung von Bildung sein, Kompetenzen zu messen und zu vergleichen.
Kompetenzen schaffen einen klaren Fokus für Unterrichtsentwicklung, sind aber keine umfassende Festlegung dessen, was Bildung im Idealfall bedeutet. Empirische Untersuchungen lassen durchaus Rückschlüsse für die Verbesserung von Unterricht und Schulen zu, sind aufgrund der vielen nicht messbaren Faktoren an Schulen aber immer beschränkt in ihrer Aussagekraft.
Wer Kinder beobachtet, merkt sofort, dass Kompetenzerleben ein Grundbedürfnis ist.
Kompetenzen und zeitgemässes Lernen
Carl Bossard plädiert in seiner Argumentation für eine Besinnung auf Wissen bzw. auf »Grundkenntnisse«, wenn er etwa behauptet, Kinder würden sich nicht nach Kompetenzen sehen, während sie gerne Inhalte erkunden. Diese Formulierung zeigt, wie stark der Wunsch danach ist, Unterricht an Inhalten auszurichten: Sie führt sogar zu einer verzerrten Wahrnehmung. Wer Kinder beobachtet, merkt sofort, dass Kompetenzerleben ein Grundbedürfnis ist. Sie wollen etwas bewirken können. Klar brauchen sie dazu Wissen, wie selbstverständlich entwickeln sie auch Neugierde: Die Welt verstehen zu können ist aber primär Bedingung dafür, die Welt verändern zu können. Ob ich etwas verstanden habe, merke ich erst, wenn ich mein Verständnis als Ausgangspunkt für Handlungen verstehe. Verstehe ich Latein, kann ich einen Text lesen und übersetzen; verstehe ich Chemie, bin ich in der Lage, ein Experiment durchzuführen.
Auf den Punkt gebracht: Guter Unterricht wird mit Verben beschrieben, nicht mit Nomen.
Lernen, um etwas zu bewirken
Berücksichtigen Lehrpersonen das in der Vorbereitung und Durchführung von Unterricht, dann erreichen sie schnell das, was zeitgemässes Lernen ist: Lernende stellen Lernprodukte her, die sowohl für sie als auch in ihrer Umwelt eine Bedeutung haben. Sie lernen, um etwas bewirken zu können – und denken dabei auch über ihr Handeln und ihre Position in der Welt nach. Wissen brauchen sie weiterhin: Aber sie erwerben es, weil es eine Grundlage ihres Handelns ist, und nicht, weil es ihnen vermittelt wird. Auf den Punkt gebracht: Guter Unterricht wird mit Verben beschrieben, nicht mit Nomen.
Blickt man vor dem Hintergrund dieser Handlungsorientierung auf Kompetenzen, dann erscheinen sie weder als ein überfrachtetes Konzept noch als Abwertung von Wissen: Sondern als eine hilfreiche Orientierung, um lernwirksame Unterrichtsumgebungen zu gestalten, gerade in einer dynamischen und volatilen (Medien-)Welt.
Zu oft suggerieren Kompetenzen, dass alle Individuen dasselbe Können aufweisen müssen.
Das Problem der Kooperation
Abschliessend ist auf eine wichtige Kritik an der Kompetenzvorstellung einzugehen: Wer handelt, tut das mit anderen zusammen, in Bezug auf andere, als Reaktion auf andere. Zu oft suggerieren Kompetenzen, dass alle Individuen dasselbe Können aufweisen müssen (vgl. etwa den kompetenzorientierten Lehrplan 21). Das ist aber bei Projekten und in gut funktionierenden Teams gerade nicht so: Eine Schulleitung, die divers aufgestellt ist und aus einem Mitglied mit einem Flair für Rechnungswesen, einem mit einem charismatischen Auftritt, einem mit vertieftem bildungspolitischen Know-How und einem mit Führungsqualitäten zusammengesetzt ist, dürfte erfolgreicher handeln können als eine, bei der vier Personen mit ähnlichen Kompetenzen zusammenarbeiten. Eine entscheidende Kompetenz besteht darin, Perspektiven und Expertise von anderen Personen einzubeziehen – einzugestehen und zu wissen, was man nicht kann. Gerade in einer sehr breit ausgelegten gymnasialen Bildung geht zuweilen vergessen, dass nicht alle Menschen alles können und wissen sollen, sondern in der Lage sein müssen, andere einzubeziehen und Verantwortung abzugeben. In der Folge müsste vielleicht auch darüber nachgedacht werden, ob über basale Kompetenzen hinaus Gymnasien nicht viele Kräfte entfalten könnten, wenn sie stärker auf eine Kombination von Spezialisierung und Zusammenarbeitscoaching setzen würden…
[1] Diese einfache Formulierung ist durchaus kompatibel mit der Fachliteratur. Bei Weinert, auf den die in pädagogischen Kontexten verwendete Definition von Kompetenzen zurückgeht, heisst es, Schülerinnen und Schüler müssten für ein tiefgründiges Verständnis von »Phänomenen und Problemen« »aktiv und konstruktiv« agieren (2001, S. 27). In der Definition selbst spricht er von der Bedeutung der »motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten« für die Lösung von Problemen.
Literatur
Bieri, Peter (2005): Wie wäre es, gebildet zu sein? NZZ, 6. November 2005, online: https://www.nzz.ch/articleDAIPS-1.182217
Bonati, Peter (2017): Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne. Bern: HEP.
Otto, Barbara; Perels, Franziska und Schmitz, Bernhard (2011): Selbstreguliertes Lernen. In: Reinders, Heinz et al. (Hg.): Empirische Bildungsforschung. Gegenstandsbereiche. Wiesbaden: Springer VS, S. 33-44.
Waeytens, Kim; Lens, Willy und Vandenberghe, Roland (2002): ‘Learning to learn’: teachers’ conceptions of their supporting role. In: Learning and Instruction 12 (2002), S. 305-322.
Weinert, Franz (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: ders. (Hg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim: Beltz, S. 17-31.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in den Quartalsinformationen des Mittschullehrpersonenverbandes Zürich, Qi 1/21, S. 44 – 48. Der Artikel ist über den Link auch hier abrufbar:
Warum Kompetenzen den Kern von Bildung darstellen – und was daraus folgt
oder:
https://mvz.ch/qi_unsere_zeitschrift/detailview/article/83134/eyJlIjoiMTQxMTg1IiwiaSI6bnVsbH0=