Es war ein revolutionärer Paukenschlag für das Bildungswesen, als der französische Nationalkonvent (September 1792 bis Oktober 1795) am 24. Juni 1793 die Verfassung der ersten Republik proklamierte, in der im Artikel 22 ein staatliches Bildungswesen verankert wurde: „Der Unterricht ist für alle ein Bedürfnis. Die Gesellschaft soll mit aller Macht die Fortschritte der öffentlichen Aufklärung fördern und den Unterricht allen Bürgern zugänglich machen.“
Damit hatte der moderne Staat 2000 Jahre nach Aristoteles neben Demokratie, Menschenrechte und Gewaltenteilung den vierten Pfeiler, die öffentliche Erziehung und Bildung, erhalten und John Lockes Überlegungen zu Naturrecht, Staatsphilosophie und Erziehung wurden mit der Forderung nach einer allgemeinen, öffentlichen Volksbildung weitergeführt.
Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet war im Februar 1792 Präsident der Gesetzgebenden Nationalversammlung (Oktober 1791 bis September 1792) und 1792 Mitglied des Konvents geworden, wo er die Unterrichtskommission leitete. 1791 hatte er für das staatliche Bildungswesen ein weitreichendes Modell entworfen, das richtungsweisend für die Einrichtung öffentlicher Volksschulen in ganz Europa wurde.
Öffentliches Bildungswesen auf dem Fundament von Natur-und Menschenrecht
Mit seinen Schriften «Cinq mémoires sur l’instruction publique» (1791 veröffentlicht) und dem «Rapport sur l’instruction publique » (1793 veröffentlicht) stellte Condorcet seine moderne Theorie der republikanischen Schule auf das Fundament des Naturrechts und der Menschenrechte, ganz im Sinne der Westschweizer Naturrechtsschule.
Zur Legitimation seiner schulpädagogischen Überlegungen und deren ethischer und politischer Begründung stützte sich Condorcet auf die beiden ersten Artikel der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Nationalversammlung von 1789:
Artikel 1: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“
Artikel 2: „Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“
Das gleiche Anliegen, die Volksbildung als Voraussetzung für den Zugang zur Freiheit zu fördern, verfolgte in der Schweiz Condorcets Zeitgenosse Pestalozzi, der 1792 von der französischen Nationalversammlung zum Ehrenbürger ernannt wurde.
Im Rahmen der Unterrichtskommission des Konvents entstanden mehrere Schriften zur Umgestaltung des Unterrichtswesens. Deren Ergebnisse und Thesen, die als Gesetzesentwurf vorlagen, fasste Condorcet in einer Rede zusammen, die er am 20. und 21. Juni 1792 hielt. Für Condorcet ist die Bildung, hier steht er ganz auf dem Boden der Aufklärung, die sicherste Grenze gegen Fanatismus, Tyrannei und Aberglauben, der beste Garant für Demokratie und Fortschritt. Die ersten Worte seiner Rede lauten:
„Allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel darzubieten, dass sie für ihre Bedürfnisse sorgen und ihr Wohlergehen sicherstellen können, dass sie ihre Rechte kennenzulernen und auszuüben, ihre Pflichten zu begreifen und zu erfüllen vermögen; jedem die Gelegenheit zu verschaffen, dass er seine beruflichen Geschicklichkeiten vervollkommnen und die Fähigkeiten zur Ausübung sozialer Funktionen erwerben kann, zu denen berufen zu werden er das Recht hat, dass er das ganze Ausmass seiner Talente zu entfalten imstande ist; und durch dies alles unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen und die durch das Gesetz zuerkannte politische Gleichheit zu einer wirklichen zu machen; das muss das erste Ziel eines nationalen Unterrichtswesens sein; und für ein solches Sorge zu tragen, ist unter diesem Gesichtspunkt für die öffentliche Gewalt ein Gebot der Gerechtigkeit.“
„Die Verwirklichung des Menschenrechts auf Unterricht und Bildung soll [aber] nicht nivellieren, sondern, «alle […] auf einen höheren Stand heben».“ Und die allgemeine, öffentliche Bildung soll auch das Recht auf freie Berufswahl ermöglichen und sichern.
Das gleiche Anliegen, die Volksbildung als Voraussetzung für den Zugang zur Freiheit zu fördern, verfolgte in der Schweiz Condorcets Zeitgenosse Pestalozzi, der 1792 von der französischen Nationalversammlung zum Ehrenbürger ernannt wurde.
Wissen allen zugänglich machen und vor der Macht schützen
Zum ersten Mal wurde die philosophische Idee der Institution Schule in ihrer Komplexität und in Bezug auf die Volkssouveränität durchdacht. Condorcets wichtigste Forderungen waren, das Wissen vor der Macht zu schützen, die Exzellenz als höchste Form der Gleichheit zu betrachten, jedes Kind als vernünftiges Rechtssubjekt zu sehen, die öffentliche Bildung nicht dem Partikularwillen und der unmittelbaren Nützlichkeit zu unterwerfen.
„Die Republik muss die Unabhängigkeit der öffentlichen Bildung von allen Mächten, selbst von der Politik, sicherstellen“.
Im «Rapport „Sur l’instruction publique“ ruft Condorcet zwei Themen in Erinnerung: „Die Republik muss die Unabhängigkeit der öffentlichen Bildung von allen Mächten, selbst von der Politik, sicherstellen“. Als Antwort auf Marats Angriffe betont er, wie in den «Cinq mémoires sur l’instruction publique», die Rolle der Gelehrten bei der Bestimmung des Grundwissens, das vermittelt werden soll. Wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind, verliert die öffentliche Bildung ihre Freiheit und die Gleichheit aller Bürger verkommt zur leeren Worthülse.
Condorcets „Fünf Denkschriften zum öffentlichen Bildungswesen“ begründeten die Verantwortung der Gesellschaft, den Menschen 1. eine öffentliche Bildung in Form 2. einer Volksschule für Kinder, 3. einer Ausbildung für die allgemeinen Bedürfnisse der Menschen, 4. einer Berufsausbildung und 5. einer naturwissenschaftlichen Ausbildung anzubieten.
Denkschrift 1: Die Gesellschaft schuldet den Menschen eine öffentliche Bildung, ein „Bürgerrecht auf Bildung“
In der ersten Denkschrift begründet Condorcet die Notwendigkeit einer allgemeinen, öffentlichen Bildung aus dem Naturrecht. Mit der öffentlichen Bildung soll die Gleichberechtigung verwirklicht werden:
„Öffentliche Bildung ist eine Pflicht der Gesellschaft gegenüber ihren Bürgern. Vergeblich wäre erklärt worden, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben; vergeblich hätten die Gesetze dieses erste Prinzip der ewigen Gerechtigkeit respektiert, wenn die Ungleichheit der moralischen Fähigkeiten die grösste Zahl daran hinderte, diese Rechte in vollem Umfang zu geniessen. Der Sozialstaat vermindert notwendigerweise die natürliche Ungleichheit, indem er die gemeinsamen Kräfte zum Wohlergehen der Einzelnen beitragen lässt“.
Die Ungleichheit in der Bildung erachtet Condorcet als eine der Hauptquellen der Tyrannei: „Die Gesellschaft darf keine Ungleichheiten zulassen, die zu Abhängigkeiten führen“. Mit der Gemeinbildung sollen nicht gleiche Bürger, sondern Kritiker des Gesetzgebers geschaffen werden. Die staatliche Volksschule für alle Kinder soll den neuen Generationen die Kultur ihrer Vorfahren vermitteln. Die Gesellschaft ist verantwortlich für eine öffentliche Erziehung als Mittel zur Vervollkommnung der menschlichen Spezies, in dem ihre geistige Entwicklung gefördert wird. Die allgemeine Bildung soll alle Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, öffentliche Funktionen auszuführen zu können.
Schluss des ersten Teils von Peter Aebersolds Ehrung unseres Namensgebers. Im 2. Teil wird auf die Bedeutung von Condorcets Thesen für unsere Volksschule eingegangen.