19. März 2024

Wie konnte es soweit kommen?

Die Ermordung des französischen Lehrers durch einen jungen Islamisten darf auch uns nicht ruhig lassen. Monströsität in drei Varianten: Monströs das Motiv, monströs die Tat selber und monströs die Brandstiftung im Netz. Condorcet-Autor Daniel Goepfert fordert Solidarität.

Daniel Goepfert, ehem. Gymnasiallehrer, Basel, ehem. Parteipräsident der SP: Situation schon vor der Tat eskaliert.

Wie kann es sein, dass man im Jahr 2020 als Lehrer einer Mittelschule in der kleinen französischen Stadt Conflans-Sainte-Honorine als Folge seines Unterrichts auf offener Strasse enthauptet wird? Von der Antwort auf diese Frage hängt viel ab. Jetzt ist aber die Zeit der Emotionen. Tatsächlich ist keine andere Reaktion als Wut und Empörung über das abscheuliche Verbrechen möglich. Der Lehrer sollte laut Lehrplan die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen beleuchten. Dass er zu diesem Zweck eine Karikatur aus Charlie-Hebdo mit dem nackten Propheten zeigte, war folgerichtig. Die Diskussion, ob diese Karikatur nicht auch dazu geeignet war, Menschen islamischen Glaubens zu verletzen, kann und darf nicht Anlass dazu sein, die abscheuliche Tat in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Es meldeten sich die Gewerkschaften zu Wort, um ihre Empörung, aber auch ihre Verunsicherung kundzutun. Einzelne Abgeordnete aus dem Wahlkreis der Mittelschule verlangen neben der Verurteilung der Tat neue Gesetze, „um solche Verbrechen ein für alle Male zu verhindern“. Staatspräsident Macron hielt die Prinzipien der Aufklärung und der Republik hoch: Meinungsäusserungsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, demokratischer Diskurs.

Problematisch wurde es in dem Moment, als er den Lehrer im Internet auf krude Weise angriff und dessen Name sowie die Adresse der Schule bekanntgab.

Parallelgesellschaften

Wie konnte es aber überhaupt so weit kommen? In Frankreich bildeten sich in den letzten Jahrzehnten Parallelgesellschaften, in denen andere Regeln gelten als in der sie umgebenden Gesellschaft. Diese Entwicklung wird durch die mangelnden Perspektiven für die jungen Angehörigen solcher abgespaltener Gesellschaftsschichten befördert. Das Problem ist nun, dass diese Tendenz bekämpft werden muss, ohne die betroffenen Mitbürgerinnen und Mitbürger selbst zu bekämpfen. Das Ziel muss im Gegenteil sein, dass sich wieder alle hinter den Idealen der Republik zusammenscharen können. Schliesslich braucht es eine erhöhte Aufmerksamkeit. Tatsächlich kann im Nachhinein festgestellt werden, dass die Situation schon vor der Tat eskalierte. Der Vater einer muslimischen Schülerin beschwerte sich bei der Schulleitung über den Lehrer und reichte eine Strafanzeige ein, was beides zu seinen Rechten gehört. Problematisch wurde es in dem Moment, als er den Lehrer im Internet auf krude Weise angriff und seinen Namen sowie die Adresse der Schule bekanntgab. Er schrieb auch, man müsse den Lehrer stoppen. Ein 18-jähriger Russe tschetschenischer Herkunft schritt dann zur grausigen Tat.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Tat zu verurteilen und solidarisch zu sein mit den französischen Lehrkräften. Und aufmerksam zu sein, um rechtzeitig auf antidemokratische Entwicklungen zu reagieren. Und zu hoffen, dass wir von dieser abscheulichen Form von Terror verschont bleiben.

 

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Ein Kommentar

  1. Je suis Français, vieux et professeur en retraite. Et j’ai respiré jusqu’à ce jour l’air tellement vivifiant de la laïcité républicaine. Oui, j’ai vécu cette laïcité pendant de longues décennies très exactement comme on respire : sans y penser jamais et toujours très à mon aise dans cet air sain. Je m’en rends compte depuis quelques années : j’ai cru que vivre en démocratie, j’ai cru que jouir de ma liberté de penser, de croire et de dire, j’ai cru que n’avoir d’autres lois à observer que celles de la République, j’ai cru que tout cela et bien d’autres choses encore étaient un fait de nature, une donnée naturelle. J’ai cru que rien ne pouvait changer de ce point de vue et je n’ai pas levé le petit doigt pour défendre la liberté démocratique quand elle a subi des attaques. Ce laisser-aller, je le confesse aujourd’hui, a été le mien – suis-je le seul ? J’ai bien peur que non… Samuel, mon collègue d’histoire-géo, a été assassiné : j’en porte moi aussi une part de la responsabilité.

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