„Was hinterlasse ich?“, fragte ein Lehrer, der vor Kurzem in Pension gegangen ist. 40 Jahre lang hat er an der gleichen Schule gewirkt. Das ist heute nichts Selbstverständliches mehr. Falsche Anschmiegsamkeit und geländegängige Anpassung waren seine Sache nicht. Wer ihm gegenübertrat, spürte eine gewisse Strenge, empfand etwas Forderndes. Beim Abschied nach den wichtigsten Themen in seinem Berufsalltag gefragt, meinte er überraschend: „Kränkungen – unabsichtliche Verletzungen, die wir unseren Schülerinnen und Schülern zufügen.“ Wer so redet, dem ist bewusst: Er erteilt nicht einfach Mathematik oder Deutsch, er lehrt nicht irgendein Fach. Nein, er unterrichtet junge Menschen. Und noch etwas war ihm klar: Vor den Kindern und Jugendlichen steht ein Mensch – mit all seinen Stärken und Schwächen.
Würde ich gern zu mir in die Schule gehen?
Die Gretchenfrage im Schulalltag
Im unerwarteten Satz leuchtet eine pädagogische Grundhaltung auf. Dieser Lehrer suchte zielgerichtete Unterrichtsarbeit mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen zu verbinden oder humanistische Grundverpflichtung mit fachlicher Konsequenz. So wollte er wirken, wollte seine Schulkinder zu Aha-Erlebnissen führen. Das tat er – bei Generationen von Jugendlichen. Sein Einsatz hatte nur einen Indikator: das Lernen seiner Schüler. Doch zu Recht fügte er bei: „Würde ich gern zu mir in die Schule gehen?“
Das ist wohl die Gretchenfrage: Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Persönlichkeit in den Unterricht ein und nicht einfach ihr Wissen oder ihre professionelle Kompetenz. Die Qualität des Unterrichts hängt von der Lehrperson ab. Ihre Haltung, ihr Engagement, ihre Begeisterungsfähigkeit sind wichtig. Was Pädagogen mit beseelter Leidenschaft vermögen, das skizziert der Schriftsteller Lukas Bärfuss. In seiner „Ode an die Lehrer“ schreibt er: „Ich hasste die Schule, aber ich liebte meine Lehrer. Das ist etwas seltsam, ich weiss. Aber grundsätzlich kein Widerspruch.“
Der Lehrer teilte seine Leidenschaft
Nach neun Unterrichtsjahren verliess Bärfuss die Schule und jobbte. Freimütig räumt er ein: „Ich brauchte keinen Stundenplan, ich brauchte keinen Lehrplan. Was ich hingegen nötig hatte, das waren Lehrer.“ Lehrer wie beispielsweise diesen Stellvertreter in der siebten Klasse: „Ein Mann mit Bart, der uns Gedichte vorlas. Nicht etwa, weil sie im Lehrplan standen. Er las uns Gedichte vor, weil er Gedichte liebte. Gedichte waren ihm wichtig. Lebenswichtig! Und er teilte im Grunde auch keine Gedichte mit uns. Er teilte seine Liebe, er teilte seine Leidenschaft.“
„Er las uns Gedichte vor, weil er Gedichte liebte. Gedichte waren ihm wichtig. Lebenswichtig!“
Dank diesem Pädagogen konnte sich der spätere Dichter Bärfuss einige Gedichte merken: ‚Harlem‘ von Ingeborg Bachmann oder Rainer Maria Rilkes ‚Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen‘. Dies deshalb, „weil ich spürte, wie diese Gedichte unseren Lehrer berührten, und diese Berührung wollte ich auch erleben. Die Begeisterung meines Lehrers weckte meine eigene Begeisterung.“ Diese Leidenschaft für den pädagogischen Auftrag resultiert aus der Leidenschaft für die Welt; sie entspringt einem lebendigen Interesse an der Sache und am jungen Menschen. Davon ist Bärfuss überzeugt.
„Er stand mit Leidenschaft im Schulzimmer“
„Sie war bis zum letzten Schultag mit Begeisterung Lehrerin.“ Das las man Ende Schuljahr oft. Oder dann hiess es: „Er stand gerne und mit Leidenschaft im Schulzimmer.“ Auf die Begeisterungsfähigkeit der Lehrpersonen kommt es an, auf ihre pädagogische Leidenschaft. Sie stellt die entscheidende Gelingensbedingung der Praxis dar. Nicht umsonst sagt Bärfuss: „Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wenn meine Lehrer ihre Leidenschaften nicht mit mir geteilt hätten.“ Er brauchte „ihre Leidenschaften, ihre Begeisterung“. Und er wiederholt: „Eine Schule hätte ich nicht gebraucht. Aber ohne Lehrer wäre ich ärmer.“