21. Dezember 2024

Die Grenzen der Integration

In der Reihe Bildungspolitik in Zeiten der Wahlen publizieren wir hier den Beitrag unserer Condorcet-Autorin Christine Staehelin. Sie ist Primarlehrerin im St. Johann-Quartier und kandidiert in Basel-Stadt für die Grünliberale Partei.

Die integrative Schule scheint an ihre Grenzen zu gelangen. So steht zum Beispiel in der «bz – Zeitung für die Region Basel» vom 24. Februar 2020 im Hinblick auf die Situation in der Volksschule Basel-Stadt: «Mittlerweile fällt eines von zwanzig Kindern unter die sogenannte Separationsquote. Erziehungsdirektor Conradin Cramer sagte vergangene Woche im Basler Parlament, dass er davon ausgehe, dass die Zahl weiter steigen werde – auch weil man die integrative Schule entlasten wolle».

Anscheinend überlastet

Das System scheint überlastet.

Das System scheint «überlastet» zu sein, Tendenz offenbar steigend. Das heisst nichts anderes, als dass die Volksschule an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit stösst bzw. ihren Qualifikations- und Selektionsauftrag nicht mehr vollumfänglich gewährleisten kann. Oder anders gesagt: Kinder scheitern zunehmend in der Schule.

Massnahmen gegen das Scheitern

Dieser Tatsache begegnet die Volksschule, indem sie verschiedene Massnahmen trifft:

Die Schulen stellen ein Förderangebot bereit, das Schulische Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Deutsch als Zweitsprache, Begabungsförderung, Therapie bei Lese-Rechtschreibstörung und Dyskalkulie u.a. umfasst.

10 Prozent der Schülerinnern und Schüler im Kanton Basel-Stadt erhalten einen Nachteilsausgleich.

Kindern mit einer Behinderung werden so genannte ‘Verstärkte Massnahmen’ zugesprochen. Sie werden individuell vermehrt unterstützt, was wiederum Ressourcen generiert.

Wenn solche Massnahmen zunehmen, bedeutet das: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen einen Förderbedarf aus und sind auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen.

Die Schule stellt Zivildienstleistende, Praktikantinnen und Praktikanten oder Assistierende an, um den Schulbetrieb zu unterstützen.

Immer mehr SchülerInnen weisen einen Förderbedarf aus. Bild: stock.adobe.com

10 Prozent der Schülerinnern und Schüler im Kanton Basel-Stadt erhalten einen Nachteilsausgleich, d.h. diese absolvieren Prüfungen unter besonderen Bedingungen, weil sie eine Beeinträchtigung haben, die es ihnen verunmöglicht, ihr Wissen und Können unter den vorbegebenen Bedingungen vollumfänglich unter Beweis zu stellen.

Für Schülerinnen und Schüler, welche die Ziele des Lehrplans in einem bestimmten Ausmass und über längere Zeit nicht erreichen, können individuelle Lernziele festgelegt werden.

Wenn solche Massnahmen zunehmen, bedeutet das: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen einen Förderbedarf aus und sind auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen. Dadurch wird diese Thematik an den Schulen immer stärker gewichtet. Somit verschiebt sich der Fokus der Schule vom Lehren und Lernen zunehmend auf Förderung und Therapie.

Überzogene Ideale

Die Volksschule scheint auch an ihren überzogenen Idealen zu scheitern. So steht im Rahmenkonzept «Förderung und Integration» des Kantons Basel-Stadt: «Der Volksschule ist also aufgetragen, die Ziele Integration und Leistung zusammenzudenken, indem sie die Kinder und Jugendlichen in einer integrativen Schulform bestmöglich fördert» [1].

Auch die pädagogischen Hochschulen vermitteln einen idealisierten Zugang zum Thema, welcher die Studierenden in der Praxis ziemlich ratlos zurücklässt.

Eingefordertes Zusammendenken und ideologisierte Zugänge verhindern die Debatte. Überhaupt scheint die Diskussion über die Integration eine eher peinliche Sache zu sein, denn wer ist schon gegen die Integration? Doch «wo alle nur mit dem Kopf nicken können […], stimmt etwas nicht»[2]. Insbesondere die oben beschriebene Zunahme von Massnahmen zur Aufrechterhaltung des Systems zeigen, wie dringend eine öffentlich geführte Diskussion wäre.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Selbstverständlich müssen alle Kinder, welche einen besonderen Bildungsbedarf ausweisen, «eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist»[3]. Und diese Grundschulung soll auch «soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen»[4] integrativ in der Regelschule erfolgen.

Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht mehr

Darum geht es hier nicht. Sondern allein um die unerwünschten Nebenwirkungen der integrativen Schule, wie sie sich aktuell zeigen: Um die Zunahme des Förderbedarfs, der Diagnosen und Therapien, um die Zunahme der Zuschreibung einer Behinderung, um die Begründungszusammenhänge zwischen Diagnosen und Ressourcen, um die Veränderung des Fokus vom Lehren und Lernen auf das Fördern und Therapieren. Schliesslich um die fehlende Diskussion darüber, was eigentlich wirklich geschieht: Dass nämlich immer mehr Kinder und Jugendliche nicht in das bestehende System zu passen bzw. den Anforderungen der Volksschule zu genügen scheinen und dem nur mit zusätzlicher Förderung bzw. Separation begegnet wird. Und darüber, dass der Schulalltag für Lehrerinnen und Lehrer zunehmend schwieriger zu bewältigen ist.

Was stimmt hier nicht mehr?

Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht mehr.

Dies zeigt sich auch ganz konkret in der täglichen Praxis. Die unterschiedlichen Fördermassnahmen führen dazu, dass ein Unterrichtsmorgen an einer Primarschule so aussehen kann: Die Heilpädagogin unterrichtet eine Kleingruppe von Lernbehinderten einer Klasse separativ oder integrativ, ein Kind besucht während einer Lektion die Psychomotorik, ein anderes geht eine Lektion später in die Logopädie und in den letzten beiden Lektionen des Morgens stösst das Kind, welches separativ den Unterricht Deutsch als Zweitsprache besucht, zum Klassenverband hinzu. Zwei Kinder haben Streit in der Pause und besuchen darum anschliessend die Schulsozialarbeiterin, um die Situation zu klären. Und die Klassenlehrerin versucht, den Unterricht im Klassenverband aufrecht zu erhalten, organisatorisch den Überblick zu bewahren, die dazugehörende Bürokratie zu bewältigen und die Kooperation mit allen Beteiligten zu bewerkstelligen – eine Sisyphosaufgabe.

Der Lehrauftrag geht vergessen …

Doch eigentlich hätte sie einen Lehrauftrag. Also die wunderbare Aufgabe, sich gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern vertieft einer bedeutsamen Sache zu widmen, um Zugänge zu einer gemeinsamen und geteilten Welt zu erschliessen. Diese erfolgt letztlich über das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen, über das gemeinsame Nachdenken und Ausprobieren, über das Zeichnen und Singen, über das Lernen in der Gemeinschaft, das an sich wiederum die Zivilität als Grundlage jedes Zusammenlebens anerkennt. Wenn wir davon ausgehen, dass der Sinn der Schule im hier beschriebenen Tun liegt und wir diesen Sinn aufrechterhalten wollen, weil wir als demokratische Gesellschaft dies als bedeutsam für dieselbe erachten, dann müssen wir die Grundlagen dafür, dass dies gelingt, herstellen.

Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden, dann werden Probleme nicht mehr thematisiert und diskutiert, das Scheitern verschwiegen und die unerwünschten Effekte bagatellisiert.

Was tun?

Es gibt keine Patentrezepte und einfachen Lösungen. Aber wir müssen der Tendenz der zunehmenden Pathologisierung von Kindern und Jugendlichen entgegenwirken. Ansonsten verkehrt sich die Absicht der Integration in ihr Gegenteil. D.h. wir müssen darüber nachdenken, Therapien auch ausserhalb des Schulalltags stattfinden zu lassen – zur Beruhigung des Schulalltags und damit diejenigen Kinder, die diese besuchen, nicht den Unterricht verpassen; die Diagnosestellungen genau zu überprüfen (aktuell stellen oft jene die Diagnose, die auch therapieren), um die Zunahme begründen zu können; unsere Normalitätsvorstellungen wieder zu erweitern, damit vermehrt Kinder ohne zusätzliche Unterstützung unterrichtet werden können; separative Angebote bereitzustellen, die genau auf die Bedürfnisse der Kinder mit besonderem Bildungsbedarf zugeschnitten sind.

Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden …

Und das Wichtigste: Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden, dann werden Probleme nicht mehr thematisiert und diskutiert, das Scheitern verschwiegen und die unerwünschten Effekte bagatellisiert. Das kann nicht im Sinne einer funktionsfähigen Institution Schule, der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern und der Lehrerinnen und Lehrer sein. Es ist Zeit für eine öffentliche und pragmatische Diskussion.

Eine Anmerkung zum Schluss: Im Artikel werden die Zahlen aus dem Kanton Basel-Stadt verwendet, weil mir diese freundlicherweise von der Volksschulleitung zur Verfügung gestellt wurden. Die Situation in anderen Kantonen zeigt sich aber möglichweise ähnlich.

[1] Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt (2010). Rahmenkonzept «Förderung und Integration an der Volksschule«.

[2] Reichenbach, R. (2003). Pädagogischer Kitsch. Zeitschrift für Pädagogik, 49, 785.

[3] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3.

[4] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3.

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2 Kommentare

  1. Christine Stähelin legt den Finger auf den wunden Punkt: Eine Kluft zwischen einer gut gemeinten therapeutischen Bildungsidee und der widerborstigen Realität der schulischen Praxis tut sich auf. Die Förderungshektik des Schulalltags beschneidet geradezu das Anrecht jedes einzelnen Kindes auf optimale Bildung. Wie in der Mathematik gibt es auch in der Pädagogik keine Quadratur des Kreises.

  2. Die Volksschule gleicht einem Jumbojet, der über das zulässige maximale Abfluggewicht beladen wurde und nun mit gestutzten Flügeln und schwächeren Triebwerken abheben sollte. Welcher Pilot möchte so ein Flugzeug fliegen?

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