Entdeckt in einem Primarschulhaus: Ein farbenfrohes Bild mit dem Hundertwasser-Haus in Wien, gemalt vom Künstler selber, verziert die Tür zum Klassenzimmer. Auf den einzelnen Wohnungen leuchten 22 Kindergesichter. Jedes schaut verschmitzt unter dem gelben Schutzhelm hervor. Mitten drin der Lehrer als munterer Bauleiter. Und darüber ihr gemeinsames Motto fürs neue Schuljahr: „Wir bauen an unserer Zukunft – einzeln und im Team.“
Welt rezipieren und seine Identität finden
Bauen ist eine aussagekräftige Metapher, ein einprägsames Bild – auch für die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern. Wer ausbildet und bildet, wer unterrichtet und mit Kindern auf ihrem Lernweg unterwegs ist, hilft verantwortlich mit am Bau persönlicher Lebenswelten.
„Jeder muss seine eigene Welt aufbauen.“[1] So raten die Einsager und Einflüsterer in Peter Handkes melodramatischem Stück „Kaspar“. „Jeder muss seine eigene Welt aufbauen.“ Das muss auch der Findling Kaspar Hauser nach seinem rätselhaften Auftauchen vor bald 200 Jahren, damals in Nürnberg 1828. Ein junger Gymnasiallehrer nimmt den ausgesetzten und beinahe sprachlosen Knaben bei sich auf. Der Pädagoge arbeitet mit ihm und führt ihn aus seiner begrenzten Welt zu ersten Erkenntnissen. Der 16-jährige Kaspar, der als Mensch ohne Mitmenschen aufgewachsen ist, lernt reden und schreiben; er rezipiert staunend die Welt und findet seine Identität.
„Wer bin ich?“, lautet darum das Kaspar-Hauser-Motiv. Diese Frage, die auf den Kern des Menschlichen weist, verbindet sich mit Martin Heideggers Metapher vom „Haus der Sprache“: Um sich die Welt zu erschliessen, im weiteren Sinn also zu „konstruieren“, braucht der Mensch die Sprache wie ein Haus.
Verknüpfung von „Ich“ und „Welt“
Das Individuum kann sich nicht aus sich selbst heraus bilden, sondern nur im geführten Dialog mit der Welt. „Kaspar“ zeigt es; der Gymnasiallehrer praktiziert es. Wilhelm von Humboldt spricht von der notwendigen Verknüpfung von „Ich“ und „Welt“. Familie und Schule regen diesen Dialog an, der das Ich und die Welt konstruiert und verknüpft.
Lehrerinnen und Lehrer bauen darum an der individuellen Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Sie arbeiten nicht mit Steinen und Zement, nicht mit Maurerkelle und Mörtel, nicht mit Beton und Borer. Wissen und Können aufbauen, Verstehen und Verhalten fördern, das ist ihre Aufgabe – mit Erklären und Ermuntern, mit Üben und Rückmelden. So bauen sie mit an der Welt ihrer Schülerinnen und Schüler, an deren ganz persönlicher.
Lehren und Lernen als komplexe Prozesse
Bauen ist ein komplexer Vorgang; er muss sorgfältig geplant und realisiert sein. Sorgsam zu planen sind auch die anspruchsvollen Prozesse des Lehrens und Lernens – also der Erwerb von Wissen und Können oder von sogenannten „Kompetenzen“. Additiv Lerninhalte zusammenfügen ist zu wenig. Fähigkeiten wie ‘denken können’ benötigen klare Wissensstrukturen; Jugendliche brauchen darum kognitive Ordnungsstrukturen. Sie müssen systematisch aufgebaut werden.
Gutes Lernen ist ein vielschichtiger und auch inhaltsspezifischer Prozess. Mathematische Denkhandlungen beispielsweise laufen in vielerlei Hinsicht anders ab als die sprachlichen Lernprozesse oder der Erwerb von historischem oder biologischem Wissen und wieder anders als diejenigen, die manuelle Fertigkeiten sicherstellen. Schnellrezepte helfen den Lehrpersonen wenig. Diese Lehr-Lernvorgänge erfordern differenziertes kognitionspsychologisches und lerntheoretisches Können; notwendig ist ein hohes Bewusstsein für den Prozesscharakter des Lernens. Bei der aktuell dominierenden Kompetenzorientierung kommt dieser Aspekt zu kurz.
Reale Bauprozesse bestehen aus vielen konstituierenden Mikroprozessen. Genau gleich ist es beim Lehren und Lernen in der Schule.
Lernen ist Konstruktion und Konsolidierung
Lernen im Rahmen der Schule bedeutet immer zwei Dinge: Aufbau von Neuem – mit dem Ziel des Verstehens – sowie systematisches Konsolidieren oder intensives Üben des Gelernten, dies von ganz verschiedenen Arten an Wissen und Können. Dazu gehören beispielsweise begriffliches Wissen, Handlungswissen oder konditionales Wissen, das Wissen ‘warum’.[2]
Und falls die Lernergebnisse nicht stimmen, justiert die Lehrerin.
Reale Bauprozesse bestehen aus vielen konstituierenden Mikroprozessen. Genau gleich ist es beim Lehren und Lernen in der Schule. An konkreten Einzelinhalten wie zum Beispiel dem Zehnerübergang oder beim Einführen ins Schreiben werden Lernprozesse angestossen. Der Lehrer begleitet diese individuell geprägten Prozesse und bewertet oder evaluiert das erworbene Wissen und Können. Und falls die Lernergebnisse nicht stimmen, justiert die Lehrerin. Dieses Nachfassen ist bedeutsam; nicht selten geht es vergessen. Das kann fatale Folgen haben.
Aufbau von verstandenem Wissen
Neues Wissen und Können verständlich aufbauen und übers Üben das Behalten konsolidieren – das gehört konstitutiv zum Lernen. Grundlegende Teilprozesse jeder Aufbauarbeit sind darum das Verstehen und Behalten, das Abrufen und Anwenden von Wissen und Können.
Diese vier Teilprozesse – Verstehen, Behalten, Abrufen und Anwenden – stehen in einem interaktiven Verhältnis zueinander. Es sind Faktoren, die das Lernresultat generieren. Falls nur einer von ihnen minim ausgebildet ist, wird das ganze Ergebnis schwach ausfallen. Es ist die simple Formel: L(ernen) = V(erstehen) x B(ehalten, üben, festigen,) x A(brufen können). Leicht zu erkennen sind die Konsequenzen, wenn ein Faktor gegen null strebt – wenn beispielsweise das Verstehen oder die Festigungsphase beim Aufbau fehlt.
In der Schule geht es aber auch darum, dass sich junge Menschen auf eine gemeinsame Welt ausrichten.
Eigene und die gemeinsame Welt
Die Schule hat wieder begonnen – unter erschwerten Umständen. Die Kinder kehren in den Unterricht zurück. Da ist einerseits die ganz persönliche, kleine Welt jedes einzelnen Kindes, sein eigenes Leben mit allen Freuden und Sorgen. Anderseits ist da die grosse Welt – mit all ihren Schönheiten und Schattenseiten, mit ihren Anforderungen und Erwartungen. Und dazwischen die Lehrerin, der Lehrer.
Corona belastet den Schulalltag; der pädagogische Doppelauftrag der Lehrpersonen aber bleibt: die Kinder beim Aufbau ihrer Lern- und Lebenswelt führen und anleiten: „Jeder muss seine eigene Welt aufbauen.“ In der Schule geht es aber auch darum, dass sich junge Menschen auf eine gemeinsame Welt ausrichten. Darin liegt der tiefere Sinn des Lernens in der Klasse, des Arbeitens im Kollektiv: Verantwortung füreinander tragen – Rücksicht aufeinander nehmen, miteinander vorwärtskommen. Auch an dieser Haltung arbeiten und bauen Lehrerinnen und Lehrer.
„Wir bauen an unserer Zukunft – einzeln und im Team.“ So heisst es über der Eingangstür einer Primarklasse.
[1] Peter Handke (1968), Kaspar. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 36.
[2] Gerhard Steiner (2007), Der Kick zum effizienten Lernen. Erfolgreich und nachhaltig ausbilden dank lernpsychologischer Kompetenz – vermittelt an 30 Beispielen. Bern: hep verlag.