23. November 2024

Österreichs Schulreform – demokratisch von unten

Die Voraussetzungen zum Gelingen von Schulreformen sind vielfältig. Das Beispiel der österreichischen und Wiener Schulreform in der Ersten Republik soll zeigen, welche Voraussetzungen aufgrund der Praxiserfahrungen geschaffen wurden, um die Reform zu einem international viel beachteten Erfolg führen zu können. Und es zeigt uns, dass grundlegende Bildungsreformen auch unter Einbezug der direkt Beteiligten möglich sind. Peter Aebersold erzählt uns die atemberaubende Geschichte.

Die junge Demokratie in Österreich verlangte nach dem Zusammenbruch der Monarchie nach demokratischen, volksnahen Institutionen. Das Volksbildungswesen sollte ausgebaut und eine Schulreform von unten durchgeführt werden. Diktate von oben waren nicht mehr erwünscht.

Das wichtigste Ziel der österreichischen und Wiener Schulreform war die Schaffung eines der neuen demokratischen Republik angemessenen Schulsystems mit demokratischem Erziehungsstil, Gemeinschaftsgesinnung und gleichen Bildungschancen für alle Kinder, unabhängig von Geschlecht und Herkunft.

Im Juni 1919 verabschiedete der erste österreichische Unterrichtsminister, der Sozialdemokrat Otto Glöckel, einen Erlass zur versuchsweisen Umgestaltung des Unterrichts nach den Grundsätzen der „Arbeitsschule“ (Handlungsorientierung, Heranbildung des zukünftigen Staatsbürgers nach Pestalozzi und Georg Kerschensteiner). Die Umgestaltung der Volksschule sollte als Evolution durchgeführt werden, weil auf dem Gebiete der Erziehung die stete Entwicklung der einzig naturgemässe Weg in die Zukunft sei. Man wollte keinen unvermittelten Bruch mit der Vergangenheit, sondern an das Lebensfähige der Gegenwart anknüpfen und „die Keime der Zukunft sorgfältig pflegen“.

Im Sinne der Demokratisierung versuchte die Schulverwaltung ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrern und Eltern zu schaffen und die Elternschaft zur Mitwirkung im Schulwesen zu gewinnen. Sie regte die Errichtung von Elternräten, freien Elterngemeinschaften und Elternvereinen an. Für ein gutes Zusammenwirken zwischen Unterrichtsverwaltung und Lehrerschaft wurden die jährlichen Bezirkslehrerkonferenzen wiederbelebt.

Da man nicht wollte, dass diese aufgrund theoretischer Vorstellungen von oben angeordnet wurde, nahm man eine breite Versuchsschularbeit in Angriff.

Neue Ansätze wurden in Versuchsklassen ausprobiert und auf ihre Praxistauglichkeit überprüft

Das Gros der Lehrerschaft machte sich ziemlich geschlossen auf die Suche nach einer schülergemässen Unterrichtsmethodik für eine grundlegende Reform des öffentlichen Schulwesens. Da man nicht wollte, dass diese aufgrund theoretischer Vorstellungen von oben angeordnet wurde, nahm man eine breite Versuchsschularbeit in Angriff. Allein in Wien meldeten sich 156 Volks- und Bürgerschullehrer für die pädagogische Versuchsarbeit. Die Grundsätze der Arbeitsschule für die Versuchsarbeit wurden im Verordnungsblatt des Stadtschulrats veröffentlicht: Unter anderem sollte der bisherige Unterricht mehr auf die Selbsttätigkeit der Schüler ausgerichtet werden. Die Ergebnisse der Versuchsklassen wurden in den „Lehrerkonferenzen“ und der Fachpresse laufend kommentiert.

Um den Erfahrungsaustausch zwischen den Versuchsklassenlehrern zu fördern, liess Glöckel im August 1919 mit einem Erlass „Versuchsklassenkonferenzen“ einrichten. Diese konnten entscheiden, ob begonnene Versuche fortgesetzt, ausgebaut oder verworfen werden sollten.

Erfahrungen in den Versuchsklassen flossen in den neuen Volksschullehrplan ein

Aufgrund der Erfahrungen in den Versuchsklassen wurde ein Lehrplanentwurf für die Volksschulen erarbeitet, der in der Fachöffentlichkeit diskutiert wurde und im August 1920 versuchsweise amtlich veröffentlicht wurde. Auch in den Bürgerschulen flossen im Unterricht die pädagogischen Ideen der Arbeitsschule ein. Dort sollte der „republikanische Bürgergeist“ durch den Aufbau von „Schulgemeinden“ (Klassengemeinden) gefördert werden, um die Jugend mit Selbstdisziplin, freiwilliger Einordnung und Mitarbeit an gemeinsamen Aufgaben an den Gebrauch demokratischer Freiheiten heranführen zu können. Diese Reformvorhaben wurden vor allem in Wien umgesetzt und zu einem beachtlichen Teil im übrigen Österreich.

Umgang mit den grösseren Freiheiten wird zum zentralen Problem der Schulreform

Durch die grösseren Freiheiten der Lernenden im Unterricht wurden die Lehrer schon bald mit Schülern konfrontiert, die damit nicht konstruktiv umgehen konnten. Die sogenannten „Schwererziehbaren“ stellten sich bald als zentrales Problem heraus, was die Realisierung der neuen pädagogischen Gedanken ungemein erschwerte. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre hatten in der Schülerschaft tiefe Spuren hinterlassen. Der regelmässige Schulunterricht war gestört, die militärische Erziehung hatte schulisches Lernen verkümmern lassen, der Verlust des Vaters, Mangel an Nahrung und Kleidung, Arbeitslosigkeit sowie Armut und Not hatten eine grosse Zahl verwahrloster Kinder und Jugendlicher hervorgebracht, die nun mit dem Abbau herkömmlicher Lehrerautorität konfrontiert wurden. Die individualpsychologische Schule, welche vom Prinzip des Verstehens und Helfens geleitet war, musste ohne das frühere System von Bestrafung und Belohnung auskommen, weil es die Vertrauensbasis zerstört hätte, die es für das Einüben neuer gemeinschaftsorientierter Verhaltensweisen brauchte.

Ein Netz von Erziehungsberatungsstellen sollte Erziehungsnotstand beheben

Alfred Adler, Mitbegründer der Wiener Schule.

Dem erzieherischen Missstand der Nachkriegsjahre begegneten die Individualpsychologen zu Beginn der 1920er Jahre mit dem Aufbau eines Netzes von ärztlich geleiteten Erziehungsberatungsstellen (als Lehrer- und Erzieherschulen), die den amtlichen Arbeitsgemeinschaften der Lehrer (eine Körperschaft des Schulbezirkes) angegliedert waren. Die Reformversuche sollten für ein Grossstadtschulwesen anwendbar sein, deshalb suchte man realistische Wege zu ihren Zielen. Die Ratsuchenden der Erziehungsberatungsstellen sollten am konkreten Fallbeispiel die „menschlich-seelischen Entwicklungsgesetze“ und die individualpsychologischen Erziehungs- und Heilungsmöglichkeiten erlernen. Die Individualpsychologen verbanden die Ideen der Ermutigung und Verantwortung mit der der Freiheit als Grundlage der Zusammenarbeit mit den Wiener Schulbehörden. Lehrer, die in den auch von Alfred Adler geführten Erziehungsberatungsstellen geschult wurden, hielten Vorträge wie „Behandlung schwer erziehbarer Kinder“ in Lehrerkonferenzen und Elternvereinen. Einige der Grundpfeiler des pädagogischen Konzepts (Arbeitsschulunterricht, Schülergemeinde, Erziehungsberatung, Elternarbeit) der späteren individualpsychologischen Versuchsschule wurden bereits von 1920 bis 1924 entwickelt und in die Praxis umgesetzt.

Bei der Frage, ob man den Schülern mehr gerecht werde, wenn sie individualisierend (volle Selbsttätigkeit nach Montessori, Daltonplan) oder in der Klassengemeinschaft unterrichtet werden, entschied sich die Wiener Versuchsklassenlehrergemeinschaft gegen die Individualisierung und für die Erziehung zur Gemeinschaft und somit für die Aufrechterhaltung des Klassenunterrichts.

 

Versuchsklassen in Rahmen des Schulversuchs „Die Schulklasse – eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft“ von 1924 bis 1927 

Gedenktafel für den grossen Sozialdemokraten Otto Glöckel in Wien

Mit diesem Schulversuch bekam das individualpsychologische Konzept in der Schule einen offiziellen Charakter. An dem vom Stadtschulrat ausgeschriebenen freiwilligen Schulversuch nahmen 377 Wiener Lehrkräfte teil, darunter die individualpsycholgisch geschulten Hauptschullehrer Oskar Spiel und Franz Scharmer. Das Thema hatte der Hauptausschuss der Versuchklassenlehrerschaft Wiens auf Anregung Otto Glöckels für die Schuljahre 1924 bis 1927 vorgeschlagen. Dabei sollten erzieherische und unterrichtliche Massnahmen im Mittelpunkt stehen (Entwicklung und Überprüfung geordneter Schülergespräche, Gruppen- und Gemeinschaftsarbeit usw.). Bei der Frage, ob man den Schülern mehr gerecht werde, wenn sie individualisierend (volle Selbsttätigkeit nach Montessori, Daltonplan) oder in der Klassengemeinschaft unterrichtet werden, entschied sich die Wiener Versuchsklassenlehrergemeinschaft gegen die Individualisierung und für die Erziehung zur Gemeinschaft und somit für die Aufrechterhaltung des Klassenunterrichts. Diese Entscheidung floss in die Diskussionen der Bezirkslehrerkonferenzen von 1922 und 1923 ein und mündete in zwei Erlasse des Stadtschulrates für Wien. Aufgrund der Diskussionen in den amtlichen Konferenzen und den Erlassen waren die Lehrer Wiens für eine Schulreform im Sinne der Gemeinschaftserziehung eingestellt. Die fehlende theoretische Grundlage und die praktische Umsetzung wurden im Schulversuch „Die Schulklasse – eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft“ erarbeitet. Im Dezember 1927 wurden an zwei grossen Versuchklassenlehrerkonferenzen die Ergebnisse der Versuchsarbeit vorgetragen und diskutiert, wie alle Schulklassen Wiens in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften umgeformt werden könnten. Der veröffentlichte Abschlussbericht umfasste neben den Versuchsergebnissen ausführliche Berichte über besonders aussagekräftige und erfolgreiche Beispiele: Spiel und Scharmer zeigten, wie sie mit verhaltensauffälligen oder lernschwachen Schülern eine vertrauensvolle Beziehung aufbauten, mit ihnen über die Motive ihres Tuns ins Gespräch kamen und sie zu schulischen Leistungen oder zum Einordnen in die Gemeinschaft ermutigten, so dass der gemeinsame Lernprozess sowie die Bildung der Klassengemeinschaft nicht durch einzelne Schüler gestört wurde. Bei besonders schwer erziehbaren Schülern wurde die Hilfe einer der neuen Erziehungsberatungsstellen in Anspruch genommen.

Fortführung der Versuchsarbeit: Individualpsychologische Versuchsschule von 1931 bis 1934

Mit dem Ziel der Umformung aller Schulklassen Wiens wurden im Februar 1928 sämtliche Schulleiter der Volks-, Sonder-, Haupt- und Bürgerschulen sowie die Leiter der Lehrerbildungsanstalten zu zwei Leiterkonferenzen eingeladen sowie im Oktober 1928 zwei Konferenzen für je einen Vertreter sämtlicher öffentlichen und privaten Schulen Wiens abgehalten.

Der Stadtschulrat wurde besonders auf Schulversuche der Knabenhauptschule in der Staudingergasse durch Scharmer, Spiel und Ferdinand Birnbaum aufmerksam. Die Zahl der Hospitanten aus dem In- und Ausland nahm ständig zu. Fachleute aus der ganzen Welt, besonders  aus Deutschland  und  den USA, kamen nach Wien. Madelaine Ganz aus der Schweiz hospitierte an über 60 Wiener Schulen und veröffentlichte ein Buch darüber. 1929 wurde die Individualpsychologische Versuchsschule vom Stadtschulrat zur Besuchsschule für die Hörer des Pädagogischen Instituts bestimmt.

Die Hauptschule Staudingerstrasse wurde 1931 als Individualpsychologische Versuchsschule eröffnet. Ihre Aufgabe war im Rahmen des Hauptschullehrplanes die Grundsätze der Arbeits- und Gemeinschaftserziehung nachhaltig zu fördern. Dabei sollten die praktischen Möglichkeiten zur Anwendung individualpsychologischer Erkenntnisse gesucht und angewendet werden. Die Schulbehörde, die Bezirks- und Landesschulinspektoren und Alfred Adler hatten ihre Unterstützung und Mitarbeit zugesagt. Zu Beginn des Schuljahres waren vom alten Lehrkörper nur Birnbaum, Spiel, Scharmer und der Schulleiter verblieben. Alle andern Kollegen mussten neu eingeführt werden, darunter fünf Junglehrer. Die Zusammenarbeit mit den Kollegen und dem Elternverein entwickelte sich positiv.

Einführung in gemeinschaftliches Verhalten

Das Programm der Versuchsschule sah individuelle (Einzelbesprechungen von Lebensproblemen, die eine Darlegung vor den Mitschülern nicht vertrügen) und kollektive Erziehung (Klassenbesprechungen) vor. Jeder Schüler sollte seine Entwicklungsmöglichkeiten entfalten können und das Klassenkollektiv sollte zu einer soldarischen Ausrichtung herangebildet werden. Die individualspychologisch geschulten Lehrer gingen davon aus, dass das Verhalten in den ersten Lebensjahren gefühlsmässig verankert wird, dann als unbewusster Kompass zielgerichtet wirkt und auch auf Abwege führen kann. Werde dem Schüler sein Verhalten bewusst, könne er es auch verändern. In den bereits erprobten wöchentlichen Klassenbesprechungen ging es darum, abweichendes Verhalten der einzelnen Schüler als eine Sache darzustellen, die alle etwas angehe. Weil sein Verhalten vom Kollektiv aus anders erscheine, sei das Kind genötigt Stellung zu beziehen. Wenn das Kind erlebe, dass die anderen seine Schwierigkeiten durchschauen und darüber nachdenken, wie ihm zu helfen sei, könne das Kind die Gemeinschaft mehr im Sinne des Gemeinschaftsgefühls erleben und schliesslich die verzerrte Brille ablegen, durch die es bisher zu sehen gewohnt gewesen sei. In den Klassenbesprechungen versuchten sich die Schüler in die psychologische Situation eines Mitschülers einzufühlen. Durch die Anteilnahme am Leid und den Schwierigkeiten eines Mitschülers wurde das Gemeinschaftsgefühl eines jeden angesprochen und gestärkt.

Auch die Unterrichsbemühungen auf der Schülerseite waren ein grosser Erfolg: Nach dem ersten Schuljahr wurden von 255 Schülern der Versuchsschule nur zwei nicht in die nächsthöhere Klasse versetzt. Nach dem zweiten Schuljahr wurde trotz vermehrter Zuweisung schwer erziehbarer Schüler von 266 Schülern nur einer nicht in die nächsthöhere Klasse versetzt. Mit dem Februaraufstand 1934 erfolgte der politische Umbruch, in dessen Folge der Schulversuch zum Schuljahresbeginn 1934 als beendet erklärt wurde. Mit der Demokratie wurden auch die erfolgreichen Schulversuche abgeschafft.

Wenn man ihn dann mit der jahrelangen Erarbeitung der Grundlagen für den Lehrplan 21 durch sechs Experten unter höchster Geheimhaltung und deren OECD-Kompetenzendiktat vergleicht, das den ausgewählten Lehrern vorgelegt wurde, um daraus den unverständlichen Lehrplanmoloch abzuleiten, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Vergleich der Schulreformen damals und heute

Über diesen feingliedrig abgestimmten demokratischen Reformprozess unter Einbezug aller Betroffenen in der noch jungen Republik kann man nur staunen. Wenn man ihn dann mit der jahrelangen Erarbeitung der Grundlagen für den Lehrplan 21 durch sechs Experten unter höchster Geheimhaltung und deren OECD-Kompetenzendiktat vergleicht, das den ausgewählten Lehrern vorgelegt wurde, um daraus den unverständlichen Lehrplanmoloch abzuleiten, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Das Beispiel der Österreichischen Schulreform zeigt, worauf es ankommt, damit eine Schulreform ein Erfolg wird. Die Schweizer Schulreformen der letzten 30 Jahre haben diese Erfolgsprinzipien weitgehend ausser Acht gelassen und die demokratische Auseinandersetzung gemieden, weshalb sich nun ihr Scheitern immer mehr – nicht nur bei Pisa – abzeichnet. Dabei müssen wir uns fragen, wie lange wir noch zusehen wollen, wie unsere Direkte Demokratie ausgehebelt wird.

Quellen:

Lutz Wittenberg: Geschichte der individualpsychologischen Versuchsschule in Wien. Eine Synthese aus Reformpädagogik und Individualpsychologie. Dissertation der Universität Wien, Universitätsverlag  Wien 2002, ISBN 3-85114-739-1

https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Schulreform

https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Gl%C3%B6ckel

https://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Birnbaum

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