Im Bereich Schule und Bildung fühlen sich sehr viele Menschen „zu Hause“. Ressentiments und natürlich auch positive Erfahrungen an die eigene Schulzeit bringt jeder mit. Deshalb erscheint der Sprung in die Bildungspolitik sehr vielen Menschen als nahe liegend. In der Bildungspolitik kann man so richtig loslegen, die eigenen Erfahrungen und Ideen in Postulate ummünzen und sich kommunal, kantonal oder national profilieren. Doch der Rückgriff auf die eigenen Erfahrungen als Ausgangspunkt für ein bildungspolitisches Engagement ist problematisch. Was vor zwanzig oder mehr Jahren die Schulen prägte, ist heute längst überholt. Es gibt denn auch nichts Penibleres als schulpolitische Vorstösse, die an der Schulrealität vorbeizielen. Solche politischen Aktivitäten können groteske Dimensionen annehmen. Nicht zuletzt dann, wenn über das tiefe Niveau in Schulen geklagt wird, ohne die aktuellen Voraussetzungen von Unterricht zu hinterfragen. Wenn also über Schule gesprochen wird, als hätte man es noch mit den Kindern von einst zu tun.
Reformen können kontraproduktiv ausfallen
Aber auch gross angelegte Reformen wie die Rechtscheibreform können kontraproduktiv ausfallen, wenn ursprünglich vernünftige Anliegen in der bildungspolitischen Maschinerie ihr Profil verlieren. Diese Reform, – politischem Druck – nur halb durchgeführt, schafft unterm Strich dieselben Probleme, deren Lösung sie eigentlich hat vorantreiben wollen. Rechtschreibung ist nur unwesentlich einfacher geworden. Fraglich bleibt auch, ob es sinnvoll ist, wenn die Probleme vieler Schüler/innen beim Erlernen der Erstsprache in der öffentlichen Wahrnehmung als Orthographieschwächen erscheinen. Natürlich haben viele Menschen unter dem unseligen Rotstift gelitten. Doch die Artikulationsdefizite gegenwärtiger Schüler/innen gehen weit über dieses Fehlerverständnis hinaus. Darüber wird zu wenig gesprochen. Die Rechtschreibdebatte überlagert die Sprachdiskussion.
Verbalismus, der sich an keine Erfahrung mehr anschließt.
Zu reden geben müsste dagegen in zunehmendem Masse der Verbalismus einer begrifflichen Abstraktion, die sich an keine Erfahrung mehr anschließt und nur das alte Schulübel des bezugslos bleibenden, demotivierenden Stofflernens noch verschärft.
„Den kapitalen Fehler unserer Schulen, die Kinder viel zu sehr mit Worten zu belehren, auch dort, wo sie selber erkennen, entdecken und handeln könnten, hat auch der große Genfer Psychologe Jean Piaget immer wieder verurteilt.“ (Andreas Flitner, NZZ, 12./13. 2. 1983)
Das ist bedenklich, weil dadurch Strukturen und Zusammenhänge der Alltagswelt, die für die unmittelbare Erfahrung nicht durchschaubar sind, der Einsicht, Reflexion und Kritik entzogen bleiben. Diese Beschneidung der Einsichtsfähigkeit verhindert Mündigkeit.
Die wesentlichere, tiefer liegende und verhängnisvollere generelle Ausdrucksschwäche kann leider denselben (politischen) Raum wie etwa die Fragen über die Gross- und Kleinschreibung nicht einnehmen. Ob das ein Akt kollektiven Verdrängens ist, bleibe dahingestellt. Tatsache bleibt, dass die – wenn auch unter grössten Schwierigkeiten – angestrebte Rechtschreibreform unglaublich viel Geld und Energien verpufft hat, was manchen Schulpraktiker, der dringend auf mehr Unterstützung in seiner Arbeit angewiesen wäre, mit Wehmut erfüllen dürfte. Denn die Fähigkeit der Artikulation lässt sich nicht „gratis“ erwerben. Was im Sport eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich das Training, das Üben und die Disziplin, belastet Lehrkräfte mit grossen Klassen und zunehmend sprachschwachen Schülern, die von Hause aus keinen Umgang mit Sprache im weitesten Sinne haben, über Gebühr.
Wer „aus eigenem Antrieb“ weder liest noch schreibt, kann in einer anspruchsvollen Schule keinen Erfolg haben.
Wer „aus eigenem Antrieb“ weder liest noch schreibt, kann in einer anspruchsvollen Schule keinen Erfolg haben. Die Bedeutung der Sprache in einer komplexen Gesellschaft ist nach wie vor gross. Der Beherrschung der Erstsprache kommt eine fundamentale Rolle zu, gerade in einer Schule, die mit hehren Bildungszielen förmlich überschüttet wird. Reformerische Absichtserklärungen müssten deshalb immer und vorgängig einer Machbarkeitsprüfung unterzogen werden.
Der Beherrschung der Erstsprache kommt eine fundamentale Rolle zu, gerade in einer Schule, die mit hehren Bildungszielen förmlich überschüttet wird.
Wenn’s mit der eigentlich wünschbaren Schule im Argen liegt, muss mit anderen Massnahmen als mit jahrelangem Palaver über Struktur- und Organisationsreformen, denen wohlklingende und oft irreführende Namen gegeben werden, reagiert werden.
Vor allem Versuche, erzieherische Ziele, welche Missstände beheben wollen, die nicht hausgemacht sind, die also nicht durch den Unterricht hervorgerufen wurden, genau in diesem umzusetzen, belasten die Schulen enorm.
Die Schulen können, und zwar auf allen Stufen, weder die Frustrationsgefühle ehemaliger Schulabgänger/innen auflösen noch ein gewisses Elend der Pädagogik auffangen. So verständlich der Reformeifer allenthalben ist, so notwendig ist eine intensive Diskussion darüber, welche Ziele der „Reformer“ sinnvoll sind und welche nicht. Vor allem Versuche, erzieherische Ziele, welche Missstände beheben wollen, die nicht hausgemacht sind, die also nicht durch den Unterricht hervorgerufen wurden, genau in diesem umzusetzen, belasten die Schulen enorm. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Energie, Geld und Zeit werden so von der eigentlichen Verbesserung des Unterrichts abgezogen und Bildungsreformer, Eltern sowie viele Schüler/innen und Lehrkräfte werden noch mehr frustriert.
Die Schule kann “es” so wirklich nicht richten
Die Schule kann „es“ so wirklich nicht richten. Schulen können, entsprechend ihrem allgemeinbildenden Charakter, bildungsfähigen und -willigen Menschen zu einem Mehr an Auseinandersetzung und Lernerfahrungen verhelfen. Schulen haben aber beschränkte Mittel, was pädagogische Missstände betrifft. Letztere gehören auf eine andere Traktandenliste. Zu ihrer Behebung hülfe ein pädagogisches Bewusstsein, das die ersten Lebensjahre der Kinder nicht ins Ressort „Privatsache“ abschiebt. „Zu Hause muss beginnen, …“ ist mehr als ein Slogan des 19. Jahrhunderts. Ein Brückenschlag zwischen Vorschul- und Schulpädagogik ist dringend vonnöten. Zurzeit macht es den Anschein, als wollte man dieses Thema offiziell nur zögerlich aufgreifen. TV-Sendungen befassen sich zwar (auf bisweilen unerträglich voyeuristische Art) mit dem Phänomen Erziehung, „der Staat“ dagegen gibt sich auffallend kleinlaut. Das hat politische Konsequenzen, denn die Hinführung junger Menschen auf ein Leben in der Bürgergemeinschaft bleibt damit jenen vorbehalten, die von zu Hause aus darauf vorbereitet werden. Dies sind die Kinder, respektive die Jugendlichen, die später von der sogenannt höheren Bildung profitieren können. Für die anderen entsteht ein gnadenloser Überlebenskampf mit ungewissem Ausgang. Allgemeinbildung und im Speziellen politische Bildung drohen mehr und mehr zu einem Privileg zu werden, während die Volksschule darum kämpft, ein halbwegs praktikables Lernklima sicherzustellen, damit ein elementarer Lern- und Lehrbetrieb aufrechterhalten werden kann.
Resultat ist eine politische Querschnittlähmung.
Diese Entwicklung ist weder für die sozial Benachteiligten noch für die „Privilegierten“ zufriedenstellend und die eigentliche Bildungsaufgabe der Volksschule ist nicht mehr erfüllbar. Das schon fast üblich gewordene allgemeine Wegschauen, wenn’s um die erzieherische Misere geht, lastet schwer auf (allen) Schulen. Wenn einfach zugesehen wird, wie grössere Teile der Kinder völlig ungeschützt in Situationen aufwachsen, die mehr von einer Stillhalte- und Verblödungsindustrie geprägt sind als von kindergemässen Erfahrungen, leistet man einem gefährlichen Trend Vorschub, der zu Orientierungslosigkeit und massiven Selbstwertproblemen bei Kindern und Jugendlichen führt. Dadurch wird Unterricht schlicht behindert. Resultat ist eine pädagogische Querschnittlähmung: Die vom Reformeifer überforderte, von Sparaposteln zurechtgestutzte und vom erzieherischen Elend gebeutelte Schule kann nicht mehr angemessen agieren und reagieren. Sie kann „es“ nicht richten, weil sie von der Politik im Stich gelassen wird. Dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die Schulen verpolitisiert sind wie schon lange nicht mehr.
Dr. Markus Waldvogel, Autor & Philosoph, ehem. Fachdidaktiker Philosophie PH Bern
Das Problem der Erziehung, wie es Eltern und Lehrer auf ihrem Wege vorfinden, ist eines der schwierigsten. (Alfred Adler, 1904). Daran hat sich in den mehr als hundert Jahren, seit Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, diesen Satz prägte, nichts geändert. Mütter und Väter stehen einer Lebensaufgabe gegenüber, die eine der verantwortungsvollsten, komplexesten und anspruchsvollsten ist, wenn nicht sogar die anspruchsvollste überhaupt, nämlich die Herausforderung, dem „ungelernten Beruf“ Vater oder Mutter gerecht zu werden. Zugleich jedoch ist es die Aufgabe, für die es keine Ausbildung gibt – „Mutter“ und „Vater“ ist ein ungelernter „Beruf“. Die Erfahrungen der Eltern aus ihrer eigenen Kindheit, in der sie erzogen wurden, sind oft wenig hilfreich. Hier wäre eine breite Elternschulung nötig.
Wenn es die Eltern nicht “richten” können, bleibt jedoch nur noch die Schule. Wer sonst? Das ist ein altes Postulat, dass schon Heinrich Pestalozzi in seinen Büchern gefordert hat (Warum hört man nichts mehr über ihn?). Damit die Schule das schaffen kann, müssen die Lehrer zu Erziehern ausgebildet werden, wie das schon bei der Schulreform im Roten Wien in grossen Massstab organisiert wurde (Erziehungsberatungsstellen für Eltern und Lehrer). Die Aufgabe der Schule ist nicht nur die Vermittlung von Wissen sondern auch – wo nötig – die ergänzende Erziehung, weil jedes Kind ein Anrecht darauf hat. Die Lehrer müssen das mit den Politikern zusammen angehen und sie haben dabei die Führung zu übernehmen, weil sie die Fachleute sind. So wie sie es bei der Gründung der Volksschulen in den Schweizer Kantonen vorbildlich gemacht haben.