21. Dezember 2024

Nicht vom Korn allein

Bei sich sein und zu Hause – das müssen zurzeit viele. Die Corona-Krise zwingt dazu. Bildung helfe, so Rüdiger Safranksi, es bei sich auszuhalten. Auf Spurensuche in einem Bilderbuch mit Condorcet-Autor Carl Bossard

Rüdiger Safranski, Schrifsteller und Philosoph: Wenn es mal still wird.

Bildung ist mehr als ein Ensemble überprüfbarer und situativ anwendbarer Kompetenzen. Sie ist nicht nur Ausbildung im funktionalistischen Sinne, die notwendig und für alle wichtig ist. Das steht ausser Zweifel; niemand bestreitet es, schreibt der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski. Und vieldeutig fügt er bei: Aber „wenn es mal still wird, muss man vermeiden, dass das Nichts aus einem emporsteigt.“[1]

Die Begegnung mit sich selbst

Das Nichts: ein wuchtiges Wort. Safranksi nimmt es bewusst in den Mund. Niemandem soll es so ergehen wie jenem Berliner, der auf den Appell: „Mensch, geh in dir!“ freiheraus antwortet: „War ik schon, is och nischt los!“

Wer hingegen für die alte Devise „Kluger Rat – Notvorrat“ plädierte, wurde im besten Fall milde belächelt.

Begegnung mit sich selbst, so Safranski, dürfe nicht zur Begegnung mit dem Nichts werden. Diesem Nichts widersteht man mit Vorräten, Notvorräten. Darum braucht es sie, diese Vorräte. Für Krankheiten, Krisen, Kriege. Doch im Zuge des Globalen und jederzeit Verfügbaren wurden viele Depots abgebaut, Lager geräumt, Magazine geleert. Wer hingegen für die alte Devise „Kluger Rat – Notvorrat“ plädierte, wurde im besten Fall milde belächelt, meist aber als antiquiert diffamiert oder als Pessimist etikettiert. Dabei ist der Slogan unerwartet aktuell. Die Hamsterkäufe zeigen es.

Auch immaterielle Vorräte

Die graue Maus Frederik: Es braucht auch immaterielle Vorräte.

Neben den materiellen Ressourcen gibt es auch geistige, ideelle Vorräte. Darauf verweist Safranski, und daran erinnert die Geschichte der kleinen grauen Maus Frederick von Leo Leonni.[2] Die Feldmaus Frederick lebt mit ihrer Familie in einer alten Steinmauer am Rande einer Wiese. Die Bauern sind weggezogen, Scheune und Kornspeicher stehen leer.

Ich sammle Farben

Kunst und Kultur braucht man zum Leben.

Der Winter naht. Die Mäuse arbeiten Tag und Nacht. Alle – bis auf Frederick. „Warum arbeitest du nicht?“, foppen sie ihn. „Ich arbeite doch“, sagt Frederick, „ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Wintertage.“ Und als die Mäusekollegen ihn so dasitzen sehen, spotten sie: „Und nun, Frederick, was machst du jetzt?“ „Ich sammle Farben“, sagt er nur, „denn der Winter ist grau.“ Und einmal sieht es so aus, als sei Frederick halb eingeschlafen. „Träumst du, Frederick?“, hänseln sie ihn vorwurfsvoll. „Aber nein!“, widerspricht er, „ich sammle Wörter. Es gibt viele lange Wintertage – und dann wissen wir nicht mehr, worüber wir sprechen sollen.“

Sonnenstrahlen, Farben, Wörter

Der Winter kommt; die fünf Mäuse ziehen sich in ihr Versteck zurück. Es ist dunkel, und die Kälte verkriecht sich zwischen die Steine. Die Vorräte sind bald aufgeknabbert, an Nüsse und Körner können sie sich kaum noch erinnern. Mut und Zuversicht verflüchtigen sich. Keine Maus will sich mehr räuspern. Jede ist mit sich allein, sozusagen auf sich selbst zurückgeworfen.

Da erinnern sich die Mäuse, wie Frederick von Sonnenstrahlen, Wörtern, Farben fabuliert und fantasiert hat. „Frederick!“, rufen sie, „was machen deine Vorräte?“ Da kommt Frederick und erzählt von seinen Träumen: Wie schön die Sonne ist! Die Farben! Die Musik!

Ideelle Ressourcen

Frederick plaudert von der Sonne; er berichtet von blauen Kornblumen und roten Mohnblumen im gelben Kornfeld und von grünen Blättern am Beerenbusch. Die gesammelten Sonnenstrahlen erwärmen das kalte Mäusenest; die hellen Farben nehmen dem Winter das dunkle Grau, und die farbigen Worte erheitern das Gemüt. Die Mäuse schöpfen wieder Mut; Zuversicht belebt sie. Einfache Bilder generieren Kraft.

Wir brauchen viele Frederiks.

Wir brauchen Fredericks

Von dieser bereichernden Kraft spricht auch Safranski, wenn er von Bildung erzählt und von Literatur und beifügt: Sie „ist also überhaupt das, was es einem erlaubt, es bei sich auszuhalten“.[3] Darum, so fährt er weiter, müssten die Leute das Gefühl haben, dass sie sich selber schadeten, wenn sie das Angebot ausschlügen. Ganz ähnlich heisst es über das kleine Mäuse-Bilderbuch: „Kunst und Kultur braucht man zum Leben, sonst kann man nicht überleben. Das ist Frederick.“

Frederik hat für den Winter Sonnenstrahlen, Farben und Wörter gesammelt, die Träume also und die Hoffnungen. Auch unsere Zeit braucht Fredericks. Viele Fredericks.

 

[1] Rüdiger Safranski (2019), Klassiker! Ein Gespräch über Literatur und das Leben mit Michael Krüger und Martin Meyer. München: Carl Hanser Verlag, S. 89.

[2] Leo Leonni (1967/2003), Frederick. Weinheim & Basel: Beltz & Gelberg.

[3] Safranski, a.a.O., S. 88.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

«Denn alles Lehren ist mehr Wärmen als Säen» Teil 2

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: «Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten.» * Wir bringen den Teil 2 des Essays unseres Condorcet-Autoren Georg Geiger.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert