7. November 2024

Überrollt uns nun eine unreflektierte Digitalisierungswelle?

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz warnt vor der nun möglichen erzwungenen Digitalisierung und preist die Vorzüge eines Schulunterrichts im Klassenverband und mit einer Lehrperson.

Hanspeter Amstutz
Bild: Fabü

Ob digital oder analog, Lehrpersonen versuchen zurzeit mit viel Engagement mit ihren Schülerinnen und Schülern in gutem Kontakt zu bleiben. Doch immer lauter taucht in der Presse der Vorwurf auf, die Schule habe die Digitalisierung verschlafen und sei für einen modernen Unterricht schlecht gerüstet. In vielen Berichten wird die Überzeugung geäussert, dass die Corona-Krise die künftige Schule grundlegend verändern werde.

Neues Lernen mit digitalen Lehrpräsentationen

 Geschichtsphilosoph Hegel ist überzeugt, dass der Mensch nur am Menschen zum Menschen werde. Diese pädagogische Leitidee gilt auch  in Zeiten des Corona-Virus. Nur ist es schwierig, bei einer vorgeschriebenen räumlichen Distanz diese unmittelbare Präsenz beim Unterrichten zu erreichen. Digital bietet sich eine durch eine sympathische Person präsentierte Lektion geradezu als Ersatz an. Didaktisch gut aufbereitet, kameratechnisch geschickt aufgenommen und inhaltlich solid kann ein Ersatz-Unterricht digital eine Weile lang ganz gut gelingen. Diese Einsicht ist nicht neu, denn schon früher waren spannende Schulfernseh-Sendungen eine Bereicherung im Biologie- und Geografieunterricht. Dass ein seriöser Mathe-Youtuber wie Daniel Jung mit gut präsentierten Mathe-Lektionen viele Schüler anspricht, ist nicht von der Hand zu weisen. In Zeiten des Corona-Virus können solche Lektionsreihen helfen, das schulische Angebot teilweise aufrechtzuerhalten. Aber ein vollwertiger Ersatz für einen lebendigen Klassenunterricht ist dies wirklich nicht.

Der Mensch wird nur am Menschen zum Menschen. Hegel. 

Der lebendige Dialog bleibt die pädagogische Basis

Der Mensch wird nur am Menschen zum Mensch

Im realen Unterricht ist eine Lehrperson da, welche mit den Kindern im Dialog steht und spürt durch deren Körpersprache, was sie jetzt gerade brauchen. Kinder können mit Fragen direkt intervenieren, wenn sie etwas nicht verstehen und die Lehrerin weiss so, wo sie etwas vertieft erklären muss. Eine Youtuber-Beziehung im Einbahnverkehr lässt sich deshalb nicht mit einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung vergleichen. Wenn jetzt einige Digital-Turbos glauben, den Mathematik- und Deutschunterricht der Volksschule könne man mittels hervorragender Präsentatoren und individualisierter Lernsoftware auch weitgehend ohne gestaltende Lehrpersonen durchführen, dann begibt sich die Pädagogik auf einen Holzweg. Wer auf dieses falsche Pferd der Digitalisierung setzt, wird sich gewaltig verrennen.

Forcierte Digitalisierung verbessert die Chancengerechtigkeit nicht

Bereits ist der laute Vorwurf zu hören, dass die unterschiedliche Ausrüstung der Primarschulen mit digitalen Geräten nun zu einer starken Verzerrung der Chancengerechtigkeit führe. Glauben diese Kritiker allen Ernstes, dass sich mit einem breit installierten digitalen Fernunterricht die volle schulische Leistung über Monate hinweg aufrechterhalten liesse? Kann mit einer analogen Unterstützung mit Arbeitsmaterialien und Telefonkontakten nicht auch einiges erreicht werden?

Die Schere des Lernerfolgs zwischen geförderten und ungenügend betreuten Kindern wird im Fernunterricht noch viel weiter auseinandergehen.

Droht uns nach der Corona-Krise die totale Digitalisierung?

Doch letztlich geht es gar nicht darum, In welcher Form die Lernappelle und Aufträge an die Schüler zuhause gelangen. Wer nur einigermassen Einblick in die unterschiedlichen Rahmenbedingen in den Familien bezüglich elterlicher Lernunterstützung hat, wird im Zusammenhang mit dem Fernunterricht das Wort Chancengleichheit kaum noch verwenden. Die Schere des Lernerfolgs zwischen geförderten und ungenügend betreuten Kindern wird im Fernunterricht noch viel weiter auseinandergehen.

Eine forcierte Digitalisierung löst die schulischen Herausforderungen der Corona-Krise nur zu einem begrenzten Teil. Gar nicht zum Vorteil der Schule wäre es, wenn die Krise als Auslöser für einen Paradigmenwechsel hin zu einer totalen Digitalisierung des Mathematik- und Deutschunterrichts benützt würde. Für einen solchen schulischen Umbau fehlen die überzeugenden pädagogischen Argumente.

Behalten wir einen kühlen Kopf und ziehen wir für die  Schulentwicklung die richtigen Schlüsse:

  • Digitale Lehrpräsentationen sind nützlich, wenn Notsituationen überbrückt werden müssen oder Kinder Musse zum freien Lernen haben.
  • Lehrpersonen sollten Zugriff auf qualitativ gute Lernsoftware haben und nicht ihre Zeit mit dem Aussortieren ungenügender Präsentationen und Programme vergeuden müssen.
  • Gute Präsentationen mit anschaulichem Bild- und Filmmaterial können den täglichen Unterricht bereichern, aber nicht ersetzen.
  • Digitalisierte Lehrpräsentationen sollen als positive Herausforderung für die Verbesserung der realen Fachdidaktiken verstanden werden.
  • Die Lehrerinnen und Lehrer sind in den verschiedenen Fachdidaktiken so aus- und weiterzubilden, dass sie selber einen ausgezeichneten lebendigen Unterricht gestalten können.
  • Der Wert des gemeinsamen Klassenunterrichts als Zentrum der Schullebens muss wieder ins richtige Licht gerückt werden.
  • Die finanziellen Mittel für die Schulentwicklung dürfen nicht einseitig für die schulische Digitalisierung verwendet werden. Vielmehr sollen die Schulen mehr in die interne fachliche Weiterbildung investieren.

Unterricht in Schulklassen schafft Geborgenheit

 Die aktuelle Krise zeigt, dass die Kinder den unmittelbaren Kontakt zu ihren Mitschülern und zu ihren Lehrpersonen schon nach wenigen Tagen am meisten vermissen. Pädagogik in gut geführten Klassen vollzieht sich im Miteinander, im Zuhören, im lebendigen Mitdiskutieren und Miterleben.

Digitalisierung mit Mass
Bild: Pietro Masztalerz aus Schlaue Bilder, Lappan

Ich teile in Übereinstimmung mit Condorcet-Autor Carl Bossard die Auffassung, dass die Frage der Menschenbildung in der Pädagogik eine zentrale Rolle spielt. Der anerkannte Pädagoge hält den lebendigen Dialog im Klassenzimmer im Ganzen gesehen für nachhaltiger als die Einbahn-Kommunikation in einer Fernseh-Lektionsreihe. Diese kann zwar durchaus einige Lernfortschritte bringen, vor allem dann, wenn die Schüler das Lernen bereits als etwas Positives erfahren haben. Aber es ist gefährlich zu glauben, auch ohne hervorragende Lehrerinnen und Lehrer könne man dank der Digitalisierung unsere Volksschule einen grossen Schritt voranbringen.

 

 

 

 

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Neue Autorität – oder wie man den Lehrern Konzepte verkauft

Condorcet Autor Urs Kalberer berichtet über eine von der Schulkommission angeordnete Weiterbildung an seinem Kollegium. Dabei geht es dem Autor nicht um die Qualität der Arbeit von Haim Omer, sondern um die Umsetzung einer an und für sich interessanten Idee und die Tendenz, vermehrt in das operative Geschäft der Schulen einzugreifen, ganz im Sinne des Change Managements.

Liebe Musliminnen, liebe Muslime

Condorcet-Autor Alain Pichard bezeichnet sich als Anwalt der Migrantenkinder. Aber, so betonte er stets, Integration sei keine Einbahnstrasse. In diesem Text verbeugt er sich aber vor der grossen Anpassungsleistung der Muslime in unserem Land. Sie bringen ihrer Heimat viel und sie sind die Mehrheit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert