Wir erinnern uns: Der Fremdsprachenunterricht in Schweizer Schulen beruht auf dem Sprachenkonzept der EDK von 2004. Im Wesentlichen brachte er zwei Neuerungen:
1. die Vorverlegung zweier Fremdsprachen in die 3. und 5. Primarklasse für alle Kinder,
2. die Einführung einer neuen Unterrichtsmethode, der so genannten «Mehrsprachigkeitsdidaktik».
Massgeblich stützte sich die EDK auf Expertenmeinungen, die eine markante Verbesserung der schulischen Leistungen versprachen. In seinem Artikel im «Journal of the European Second Language Association» von 2019 äussert nun aber Raphael Berthele, der frühere Leiter des Instituts für Mehrsprachigkeitsforschung der Universität Fribourg, grosse Bedenken gegen die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen, welche die Experten zuhanden der Bildungspolitik abgaben.[1]
An zwei Fallstudien zeigt er auf, wie leicht sich bei der Erforschung des Zweitsprachenerwerbs abgesicherte Wissenschaft mit reinem «Fürwahrhalten» (doxa) und Pseudowissenschaft vermischt hat. Er legt dar, dass im Falle des schweizerischen Sprachenkonzeptes oft nicht unterschieden wurde zwischen programmatisch (= spekulativ) formulierten Hypothesen und gesicherten evidenzbasierten Erkenntnissen[2], dass ausserdem evidenzbasierte Erkenntnisse, die auf eine bestimmte Situation zutrafen, unzulässigerweise auf Situationen mit andern Bedingungen übertragen wurden.[3] Das führte in der Konsequenz zu unsicheren Schlussfolgerungen, die sich nachteilig auf die Umsetzung im Schulbereich auswirken konnten.
Es wurde nicht unterschieden zwischen hypothetisch (spekulativ) und evident (datenbasiert).
Korrekt durchgeführte experimentelle Studien zu Transferwirkungen, die beim Lernen neuer Sprachen entstehen, weisen ebenfalls ihre Tücken auf: Wenn es darum geht, Lerneffekte (Interdependenz) nachzuweisen, können leicht Korrelationen als Kausalitäten interpretiert werden, obwohl auch andere, nicht untersuchte Parameter für die Korrelation verantwortlich sein könnten: z.B. Auswahl der Probandengruppe, generelle kognitive Voraussetzungen.
Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst.
Ferner besteht die Gefahr, dass bei unerwarteten Ergebnissen die zugrunde gelegte Hypothese nachträglich verändert wird, damit die gewonnenen Daten mit der Hypothese wieder übereinstimmen, wobei vergessen geht, dass die neue Hypothese mit einem zusätzlichen Test verifiziert werden müsste. Tritt ein erwarteter Effekt nicht ein, wird zur Rettung der Hypothese ein Schwellenwert angenommen, bei dessen Überschreitung die Theorie erst ihre Gültigkeit erweisen solle. Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst, um die nach ihrer Überzeugung erwünschten Lerneffekte bestätigt zu bekommen.
Jedenfalls warnt Berthele eindringlich davor, allgemeine Empfehlungen zur Sprachenpolitik und zum Unterricht abzugeben, wenn nicht mehrere unabhängige Studien vorhanden sind, deren Ergebnisse in die gleiche Richtung tendieren.[4]
Bertheles bemerkenswerte Selbstkritik
Im ersten Fallbeispiel nimmt sich Berthele mit bewundernswerter Selbstkritik selbst an der Nase. 2006 erklärte er auf die Frage eines Journalisten in «La liberté» am 22.9., ob Primarschulkinder mit dem Lernen von zwei Fremdsprachen nicht überfordert seien:
«You have only to look at the African example to prove the opposite. There, it is not rare to see children growing up with four or five languages, and that does not pose any problems.”[5]
Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem.
Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem. Seine damalige Äusserung sei von unwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst gewesen: von seiner Begeisterung für mehrsprachiges Lernen, von programmatischer, nicht evidenz-basierter Fachliteratur, vom Erwartungsdruck aufgrund seiner kürzlichen Ernennung zum Professor am Institut für Mehrsprachigkeit, das speziell zur Beförderung der Mehrsprachigkeitsdidaktik gegründet worden und auf externe Finanzierung angewiesen war[6], von der Bestätigung durch Kollegen mit den gleichen Überzeugungen («group conformity bias»).
Völlig unzulässige Übertragungen
In eigenen empirischen Forschungen untersuchte er die verbreitete und plausible These, inwiefern sorgfältiger Unterricht portugiesischer Kinder in ihrer Muttersprache deren Fähigkeiten in der Schweizer Schulsprache (Französisch bzw. Deutsch) förderten.
Dass es zwischensprachliche Transfereffekte gibt, ist tatsächlich wissenschaftlich erhärtet. Allerdings – und das ist das entscheidende Handicap – nicht durch Studien, die im schulischen Umfeld (d.h. im Unterricht) durchgeführt wurden, sondern durch Ergebnisse, die von mehrsprachigen Probanden oder in psycholinguistischen Laborexperimenten gewonnen wurden. Zudem befasst sich die Mehrheit der Studien mit negativen Transfereffekten. Diese Studien sind demnach ein Beispiel für unzulässige Übertragungen («surrogate outcomes») von speziellen Situationen auf die schulische bzw. für Umdeutungen von negativen auf positive Effekte.[7]
Bertheles eigene Daten aus dem schulischen Umfeld zeigen nun aber, dass es wohl positive Lerneffekte gibt, allerdings funktionieren sie in beide Richtungen: sowohl vom Portugiesischen zur Schulsprache als auch von der Schulsprache zur portugiesischen Muttersprache, ohne eine statistisch signifikante Präferenz. Die Gründe für die Korrelation können nicht bestimmt werden. Sie könnten auch in kognitiven oder motivationalen Unterschieden liegen. Jedenfalls liefern die Daten keinen ausreichenden Beweis für die Richtigkeit der These, dass man in die Migrantensprache investieren müsse, um die Leistung in der Schulsprache zu verbessern.[8]
Zwei Fremdsprachen in der Primarschule: Fallstudie 2
Das Fremdsprachenkonzept von 2004 hatte den Schönheitsfehler, dass man sich nicht auf die Reihenfolge der Fremdsprachen einigen konnte: Die Mehrheit der Kantone beginnt mit Englisch, die Kantone VS, FR, BE, SO, BL und BS beginnen mit Französisch. Diesen Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten.
Den Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten. Das war spekulativ und steht auf wissenschaftlich wackligen Füssen.
Damit sind wir wiederum bei einer These, die wissenschaftlich auf wackligen Füssen steht:
- In der Forschung besteht Einigkeit, dass «an earlier start of Foreign Language Teaching does not consistently lead to better proficiency” (ein früher Start des Fremdsprachenunterrichts nicht konsequenterweise zu besserer Leistung führt). [9]
- Bei der Frage, welche Sprache zuerst gelernt werden soll (Französisch oder Englisch), muss zwischen politischen Gründen und wissenschaftlich bewiesenen Lerneffekten unterschieden werden.
- Als Beweis für den frühen Lernbeginn führten Imgrund und Le Pape 2005 Erkenntnisse aus der Hirnforschung an: Beim jüngeren Gehirn sind mehr Gehirnaktivierungsmuster in spezifischen Arealen zu beobachten als bei älteren. Die neurowissenschaftliche Studie, auf die sich Imgrund und Le Pape bezogen, ergab jedoch keine Resultate in Bezug auf unterschiedliche Leistungen in beiden Altersstufen. Damit sind die Beobachtungen der Aktivierungsmuster für die Frage des frühen Lernbeginns von Fremdsprachen völlig irrelevant. Mit Bezug auf eine kritische Studie von McCabe und Castel meint Berthele, dass Forscher gerne Hirnforschung zitieren, um ihre Thesen zu untermauern, da Lesende dadurch leicht zu beeindrucken seien.[10]
- Ob ein früher Unterrichtsbeginn mit einer Fremdsprache sich tatsächlich auf die Leistung auswirkt, müsste in Vergleichsstudien eruiert werden, bei denen mehrere Kohorten in unterschiedlichen Klassenstufen mit dem Unterricht beginnen.
- Zum Transfer von Fremdsprache 1 auf Fremdsprache 2 und umgekehrt: Die Hypothese ist stark beeinflusst von der holistischen Theorie eines mehrsprachigen Repertoires im Gehirn, die ein grosser Teil spekulativ-programmatischer Fachliteratur suggeriert. Aus eigenen Untersuchungen zu rezeptiven Kompetenzen (Hörverstehen und Lesen) kann Berthele bestätigen, dass es spontane Transfers von einer Sprache zur andern gibt. In bilingualen Umgebungen (z.B. Baskenland, Südtirol) sind die Resultate nicht eindeutig: Manchmal gibt es Effekte, manchmal nicht. Diese Situation kann jedoch nicht auf das systematische schulische Lernen der dritten Fremdsprache in der Schweiz mit 2 bis 4 Wochenlektionen angewendet werden – eine unzulässige Übertragung («surrogate outcomes»). Zudem sind die beobachteten positiven Transfers an Erwachsenen und an Linguistikstudenten festgestellt worden, bei denen von begabten Sprachlernern ausgegangen werden kann, was man nicht mit Schweizer Primarschülern vergleichen kann.
- Zur oft angeführten Vergleichsstudie von Haenni Hoti 2011: Hier wurden Primarklassen verglichen, die mit einer bzw. mit zwei Fremdsprachen unterrichtet wurden. Die Klassen, die Französisch als Zweitfremdsprache lernten, wiesen im 5. Schuljahr bessere Leistungen im Hören und Lesen auf als diejenigen, die nur Französisch hatten. Allerdings war der Effekt in der meist unerwähnten Folgestudie von Heinzmann, 2009, ein Jahr später nicht mehr erkennbar. Die Verfasser nehmen an, das Nullresultat wäre mit besseren Tests positiver ausgefallen, ein Fall von CARKING (Kritisieren, nachdem die Resultate bekannt sind).[11]
- Zur Studie von Manno 2017: In dieser korrekt durchgeführten Vergleichsstudie fand der Forscher ebenfalls keine positiven Transfereffekte bei Kindern, die Französisch als zweite Fremdsprache lernten. Allerdings traut Manno seinen Resultaten nicht, sondern operiert mit einem nachträglich angenommenen «Schwellenwert», ein Fall von HARKING (Hypothesen bilden, nachdem die Daten ausgewertet sind, ohne diese neu zu überprüfen).
Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin, 1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen.
So kommt Berthele zum Schluss, dass es sich bei der Theorie des positiven Transfers um «vague theories and an optimistic view of language teaching and learning» (vage Theorien und ein optimistisches Bild vom Sprachunterricht und vom Sprachenlernen) handele. Er bekennt: «The more I learn about transfer, the less I feel comfortable when asked to give recommendations.” (Je mehr ich über Transferwirkungen lerne, desto weniger fühle ich mich wohl, wenn ich gebeten werden, Empfehlungen abzugeben.)[12]
Fazit
Berthele empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft, sich künftig streng wissenschaftlicher Erkenntnismethoden zu bedienen und nicht in spekulativen Annahmen stecken zu bleiben. Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin, 1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen. Eigene Werte (Mehrsprachigkeit, kulturelle Offenheit) zu vertreten, ist erwünscht, jedoch sollten einem diese bei der Forschung nicht in die Quere kommen, wenn die Resultate anders ausfallen, als man es gerne hätte.
[1] Berthele, R. (2019). Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience. Journal of the European Second Language Association, 3(1), 1–11. DOI: https://doi.org/10.22599/jesla.50
[2] «… oftentimes policy is not based on robust scholarly evidence» (Oft beruhen politische Programme nicht auf gesicherten wissenschaftlichen Beweisen.»), Berthele, S. 1
[3] «surrogate outcomes» (stellvertretend angenommene Wirkungen), Berthele, S. 4
[4] «converging evidence», Berthele, S. 3
[5] «Sie müssen nur das afrikanische Beispiel ansehen, um das Gegenteil zu beweisen. Dort geschieht es nicht selten, dass Kinder mit vier oder fünf Sprachen aufwachsen und dass dabei keinerlei Probleme entstehen.» Berthele, S. 1
[6] “my institution expected me and my colleagues to acquire external funding for multilingualism research, funding that was and still is associated with a multilingual policy agenda”, Berthele, p.2
[7] Berthele, S. 4
[8] «To sum up, the evidence for causal transfer effects from L1 to L2 in the literacy domain is inconclusive … and the evidence for positive effects of Heritage Language instruction on L2 is scarce.” (Zusammenfassend ist der Beweis für kausale Transfereffekte von L1 zu L2 im Bereich der Sprachbeherrschung nicht schlüssig … und der Beweis für positive Effekte von der Migrantensprache zu L2 schwach.), Berthele, S. 5
[9] Berthele, S. 6
[10] Berthele, S. 6
[11] Berthele, S. 7
[12] Berthele, S. 7
Machen wir es kurz: Die Verwissenschaftlichung der Sprachen und des Sprachenerwerbs ist per se Nonsens.
Heutige Schülerinnen und Schüler büffeln zuhauf sprachliche Strukturen, können aber schlecht formulieren. Von Stil kann oft gar keine Rede sein.
Urs Kalberer verglich in seiner Master-Arbeit Schüler, die nach dem neuen Lehrplan bereits in der Primarschule in Frühenglisch unterrichtet wurden, mit solchen, die erst in der Sekundarstufe die Fremdsprache aufnahmen. Wie aus seiner Studie hervorgeht, erbrachten die frühen Lerner keine besseren Leistungen. Ob Grammatik, Lesen oder Hören, in allen getesteten Bereichen holten die Spätlerner die Frühlerner nach kurzer Zeit auf – obschon diese mehrere Jahre zusätzlichen Englischunterricht genossen hatten.
Zur These, dass man in die Migrantensprache investieren müsse, um die Leistung in der Schulsprache zu verbessern, zeigt die Praxis, dass wenn die Muttersprache nicht beherrscht wird, auch die Fremdsprache darunter leidet. Kinder sollten mit den Eltern in der Muttersprache sprechen, weil die Eltern, diese besser beherrschen. Und die Schule sollte zuerst die KInder in der Muttersprache “sattelfest” machen, bevor auf eine zweite Sprache aufgesprungen wird.