25. April 2024

Kanamori: Schüler auf das Leben vorbereiten

Das japanische Bildungssystem ist zwar ausserordentlich erfolgreich, geniesst in unseren Landen jedoch einen zwiespältigen Ruf. Drill, unmenschlicher Leistungsdruck und hohe Suizidraten sind hier jeweils die Schlagworte, welche im Zusammenhang mit diesem Land genannt werden. Es gibt aber auch andere Signale und Eigenheiten, von denen hier niemand Kenntnis nimmt. Der japanische Pädagoge Toshiro Kanamori (bekannt geworden durch den Film “Children Full of Life: Learning to Care”) hat sich als Primarschullehrer das Ziel gesetzt, seinen Kindern nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, sondern sie umfassend auf das Leben vorzubereiten. Peter Aebersold stellt Kanamoris Arbeit vor.

Toshiro Kanamori, japanischer Pädagoge: Die Klassengemeinschaft im Zentrum

Sie sollten in ihrem Leben glücklich sein und auch schwierige Situationen meistern können. Die Lektionen für das Leben, sind Kanamoris Antwort auf Leistungsdruck, Isolation (Hikikomori), Verbergen von Gefühlen (Tatemae) und Selbstmord (Seppuku) in der traditionellen japanischen Kultur und ihrer Ausrichtung auf die westliche Welt.

Wichtig ist die Klassengemeinschaft

Die Herstellung einer emotionalen Verbundenheit in der Klassengemeinschaft steht dabei im Mittelpunkt. Die Schüler sollen ihre eigenen Gefühle kennen lernen und sich in ihre Mitschüler einfühlen können. Die Klassengemeinschaft soll für die Schüler zum Vorbild für das spätere, verantwortungsvolle und freudige Mittun in der Gemeinschaft werden, sie emotional zur Überwindung von Schwierigkeiten stärken und ihnen Vertrauen geben, dass die Freunde sie dabei unterstützen werden.

“Indem sie ihr Leben miteinander teilen, beginnen die Kinder zu erkennen, wie wichtig es ist, sich um ihre Klassenkameraden zu kümmern”.

Plakat zum Film

Der Dokumentarfilm Children Full of Life von Noboru Kaetsu aus dem Jahre 2003 ist ein intimes Porträt von Kanamori und seinem Klassenzimmer, das auf subtile Weise einen Weg für alle Pädagogen darstellt, die sich der Herausforderung stellen, die Schüler auf das Leben vorzubereiten. Er fängt während eines Schuljahres außergewöhnliche Momente der Dramen und der Emotionen in einem einzelnen japanischen Klassenzimmer ein und zeigt, wie Kanamori die Zukunft seiner 35 Schüler gestaltet: Er ermutigt sie, ihre Gedanken und Gefühle in ein Heft zu schreiben. Jeder Unterrichtstag beginnt damit, dass drei Kinder ihren Klassenkameraden die Notizen vorlesen und die Kinder miteinander darüber reden. Indem sie ihren Freunden offen sagen, was ihnen durch den Kopf geht, über ihre Gefühle und über Ereignisse in ihrem Leben sprechen, fühlen sich die Kinder nicht nur verbunden, sondern gewinnen auch an Kraft, auf ihren eigenen Füssen stehen zu können. Die Schüler suchen gemeinsam nach Wegen, wie sie gestörte Beziehungen, Unglück und den Verlust von geliebten Menschen verstehen und damit umgehen können.

“Wir gehen in die Schule, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Wenn ein einzelner Mensch nicht glücklich ist, ist niemand glücklich.”

Im Film erzählt ein Mädchen, was die Lektion für das Leben von Kanamori bedeutet: “Wir gehen in die Schule, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Wenn ein einzelner Mensch nicht glücklich ist, ist niemand glücklich.”

Im Laufe des Jahres wächst ihr Gemeinschaftsgefühl, wenn sie ihre Erfahrungen teilen und den Wert des Lebens und der Sorge um die Gefühle des anderen verstehen lernen. Das geschieht auch, wenn die Klasse zusammen Flosse baut, sich an einem Bach oder beim Schlitteln vergnügt oder über den Tod eines Vaters oder einer Großmutter gemeinsam trauert, für ein Mädchen, das in eine andere Stadt zieht, ein selbst gedichtetes und komponiertes Abschiedslied singt oder für einen Freund einsteht, der ihrer Meinung nach vom Lehrer zu hart bestraft wurde.

„Ich habe die Sprach- und Denkfähigkeiten kultiviert mit einer direkten Verbindung zu den Lebenskompetenzen. Das führt zu einem hohen Schulniveau“.

Hohes Unterrichtsniveau
Bild: AdobeStock

Die Schulleistung ist für Kanamori ebenso wichtig. Weil sich die Kinder im Klassenzimmer wohler fühlen, sind sie lernfähiger. Das Arbeitstempo ist daher hoch. Er betont, dass seine Art zu arbeiten nicht im Widerspruch zum Erreichen guter Leistungen stehe: „Ich habe die Sprach- und Denkfähigkeiten kultiviert mit einer direkten Verbindung zu den Lebenskompetenzen. Das führt zu einem hohen Schulniveau“.

Kanamori bildet an der Hokuriku-Gakuin-Universität Grundschullehrer aus

Kanamoris Ansatz ist ein sehr gutes Beispiel für John Hatties Meta-Meta-Studien-Befund, dass es in erster Linie „auf den Lehrer ankommt“, wie er die Schüler und die Klassengemeinschaft auf das Leben vorbereitet. „Der erste Lehrer“ ist für spätere Literaten (und nicht nur für diese) wie Tschingis Aitmatow und Albert Camus von besonderer Bedeutung für ihre Erziehung, Bildung und ihr ganzes Leben gewesen. (Albert Camus: „Mr. Bernard, sein Lehrer der letzten Volksschulklasse, hatte in einem bestimmten Moment sein ganzes Gewicht als Mann eingesetzt, um das Schicksal dieses Kindes zu ändern und er hatte es tatsächlich geändert.“) Das gilt nicht nur in Bezug auf die schulischen Leistungen, sondern ebenso für die Entwicklung von Sozialkompetenzen für verantwortungsbewusstes Handeln für Leben und Umwelt mit Hilfe der Sozialform des Klassenunterrichts. Die Erfahrungen aus der Lehrerpraxis zeigen, dass sich Schüler nicht auf das Lernen einstellen können, wenn sie noch mit einem (negativen) Ereignis in der Klassengemeinschaft beschäftigt sind, solange der Lehrer dazu nicht klar Stellung bezogen hat.

Zu Toshirō Kanamori

Kanamori wuchs auf einem Bauernhof in Nanao (früher Nakajima) in der Präfektur Ishikawa auf. Er studierte an der Pädagogischen Fakultät der Universität Kanazawa Philosophie und Pädagogik, wo er auch abschloss. Nach dem Studium unterrichtete er 38 Jahre als Grundschullehrer an verschiedenen japanischen Schulen. Unter seinem pädagogischen Motto „Fühl dich in deine Freunde ein, um glücklich zu sein“ erforscht Kanamori seit den 1980er Jahren verschiedene Wege der Verbindung zwischen Mensch und Natur. Er liess sich von der europäischen Tradition der Bildungsreformer inspirieren, von denen ihn Johann Heinrich Pestalozzi am meisten beeindruckte.

Das Glück kommt aus der Beziehung des Menschen

In seinem 2003 von der Japan Broadcasting Corporation (NHK) produzierten Dokumentarfilm “Children Full of Life” (Kinder voller Leben, glückliche Klasse der Tränen und des Lachens), zeigt er, wie er in einer seiner Klassen die Schüler auf das Leben vorbereitet. Für ihn kommt das Glück aus der Beziehung zwischen den Menschen. Der Dokumentarfilm war sehr erfolgreich, erhielt mehrere Auszeichnungen und fand ein weltweites Echo. Dadurch erhielt seine Bildungsphilosophie und -praxis die Aufmerksamkeit der Bildungsgemeinschaft und anderer Bereiche im Gesundheits- und Sozialwesen. Im März 2007 trat Kanamori als Grundschullehrer in den Ruhestand und lehrte anschliessend bis 2017 als Professor in der Abteilung für frühkindliche Bildung an der Hokuriku Gakuin Universität in Kanazawa.

 

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Toshir%C5%8D_Kanamori

https://de.wikipedia.org/wiki/Children_Full_of_Life

Dokumentarfilm “Children of Life” auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=uJhqdDoBp1w

Nickel van der Vorm: Toshiro Kanamori. In: Improving the Quality of Childhood in Europe, Volume 5, 2014

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