Die Bildungspolitik war gefordert. Schulen und berufliche Ausbildungs- und Weiterbildungsstätten interessierten sich natürlicherweise für die technische Seite der Neuerungen:
- Welche Kenntnisse braucht es nach CEFR, um eine bestimmte Arbeitsstelle in einer Firma zu erhalten? Genügt B1 oder sollte es eher B2 sein?
- Wann soll in den Schulen der Zweit- und Drittsprachenunterricht beginnen? Welche Sprachen? Wie soll die Stundentafel gestaltet werden?
- Wie müssen Lehrmittel aussehen, welche die neue «Mehrsprachigkeit» umsetzen? Welche Methoden müssen Lehrpersonen anwenden?
Diese Fragen lösten epische Debatten aus, grosse Betriebsamkeit entstand bei den Schulbehörden und beachtliche Finanzströme flossen in entsprechende Projekte. Was von der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen wurde, war die politische Zielsetzung, die hinter den Bemühungen steckte und die Neuorientierung überhaupt in Gang brachte. Zwei Ziele verfolgt der Europarat [1]:
- Integration
Viele europäische Staaten sind monolinguale Gebilde mit einer einzigen dominierenden Sprache und Kultur. Europa kann aber nur näher zusammenrücken, wenn das gegenseitige Verständnis gefördert, die sprachliche und kulturelle Diversität für gleichwertig anerkannt wird. Die Menschen sollen deshalb durch das Bildungssystem Gelegenheit erhalten, möglichst viele sprachliche und kulturelle Varianten kennen zu lernen. Auch diejenigen der Migranten sollen einbezogen werden. Sprachliche Hierarchien sollen überwunden werden. Das Ideal: die sprach- und kulturbewanderten «citoyens européens».
- Störfaktor Englisch
Das Englische hat sich als «lingua franca», als Sprache für Handel, Wissenschaft, Technik, Verkehr, Kultur längst durchgesetzt und bedroht die Sprachenvielfalt, weil es eigentlich genügen würde, wenn in allen Schulen Europas Englisch unterrichtet würde, um sich untereinander zu verständigen. Mit der Förderung der Sprachenvielfalt soll der erdrückende Einfluss des Englischen eingedämmt werden.
Auswirkung auf die Schweiz
Dieses politische Programm wurde in mehreren Empfehlungen vom Europarat verabschiedet [2], jedoch in den einzelnen Ländern politisch nicht diskutiert. In der Schweiz erfolgte eine Art «autonomer Vorausvollzug», wobei die EDK das Zepter übernahm, ohne dass auf Bundes- oder kantonaler Ebene demokratische Mitsprache möglich war. Die politischen Absichten wurden an den demokratischen Institutionen vorbei als «Umsetzung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse» und als «Anpassung an die modernen gesellschaftlichen Erfordernisse» eingeführt. Verkauft wurden die Massnahmen als Verbesserung und Innovation:
– Objektivere Bewertung mit einem international gültigen Massstab (CEFR),
– Förderung des Verständnisses für andere Kulturen,
– Entwicklung einer «funktionalen Mehrsprachigkeit» anstelle eines «sprachlichen Perfektionismus».
Das politisch motivierte Sprach- und Kulturprogramm berücksichtigte nicht, welche sprachlich-kulturellen Bedingungen in der Schweiz herrschten, wie der bestehende und historisch gewachsene Sprachunterricht zu diesen Bedingungen passte, welche Defizite tatsächlich bestanden und wie sie behoben werden könnten. Stattdessen übernahm man relativ unkritisch das Programm des Europarates, versuchte sogar, dieses in vorauseilendem Gehorsam mustergültig und zeitnah umzusetzen. Beispiele dafür sind die Einführung von Frühfranzösisch/Frühenglisch oder das sechskantonale Projekt Passepartout, das neue Lehrmittel und eine neue Didaktik in den Volksschulen top-down installierte.
Eine neue Didaktik als Kopfgeburt
Tatsächlich wirkt der politische Traum von einem Europa mit nicht auf eine Sprache fixierten und kulturell vielseitig informierten Menschen verlockend, obwohl in vielen europäischen Ländern zurzeit starke Tendenzen der Regression zu national-identitären Denkweisen im Vormarsch sind.
Der Europarat setzt alles auf die Karte Plurilingualismus (Mehrsprachigkeit). Deshalb soll dieses Konzept näher überprüft werden. Was ist damit gemeint?
Unter Mehrsprachigkeit (Plurilingualismus) versteht der Europarat «the ability to call flexibly upon an inter-related, uneven, plurilinguistic repertoire» (die Fähigkeit, flexibel aus einem unausgeglichenen Sprachrepertoire zu schöpfen, das aus Elementen besteht, die untereinander in Beziehung stehen) [3].
Daraus sollen sich vielfältige Kompetenzen ergeben:
► schnelles Umschalten zwischen den Sprachen (switch from one language or dialect (or variety) to another);
► sich in einer Sprache ausdrücken und eine Person verstehen, die eine andere Sprache benützt (express oneself in one language (or dialect, or variety) and understand a person speaking another);
► aus der Kenntnis mehrerer Sprachen schöpfen, um einen Text zu verstehen (call upon the knowledge of a number of languages (or dialects, or varieties) to make sense of a text);
► Wörter aus einem gemeinsamen internationalen Vorrat erkennen, wenn sie in neuem sprachlichem Gewand erscheinen (recognise words from a common international store in a new guise);
► vermitteln zwischen zwei Personen, die sich untereinander nicht verstehen, weil sie keine gemeinsame Sprache haben (mediate between individuals with no common language (or dialect, or variety), even with only a slight knowledge oneself) [4];
Im Februar 2018 veröffentlichte der Europarat eine Neufassung des Referenzrahmens. Das Werk ist inzwischen auf 230 Seiten angewachsen. Es wurde gegenüber der Erstauflage von 2001 um Hunderte Deskriptoren erweitert. Neu finden sich tatsächlich auch Deskriptoren zum Plurilingualismus nach obiger Definition.
Fünf Ungereimtheiten des Konzepts
- Mehrsprachigkeit als altbekannte Erscheinung
Der Plurilingualismus ist grundsätzlich nichts Neues. So sprechen in der Schweiz 64% der Bewohner(innen) pro Woche mehr als eine Sprache [5]. In touristischen Gegenden und unter der Migrantenpopulation dürfte die Mehrsprachigkeit im Alltag selbstverständlich sein. Dort, wo mehrere Sprachen (in unterschiedlicher Qualität) durch die Lebenssituation gefordert sind, wird Mehrsprachigkeit auch gelebt und muss nicht neu erfunden werden. Sie muss auch nicht optimiert werden, denn sie funktioniert, obwohl die Menschen noch nicht durch spezielle didaktische Verfahren darauf getrimmt wurden. Der Europarat rennt hier offene Türen ein.
Ein grundlegender Widerspruch ergibt sich, wenn Plurilingualismus zum überprüfbaren Bildungsziel und zur Lehrmethode in der Volksschule erhoben wird.
- Mehrsprachigkeit als Bildungsziel der Volksschule
Ein grundlegender Widerspruch ergibt sich, wenn Plurilingualismus zum überprüfbaren Bildungsziel und zur Lehrmethode in der Volksschule erhoben wird. Mehrsprachigkeitskompetenzen der obigen Liste sind vom Ende eines Lernvorganges her gedacht, aus der Warte von Menschen, die schon über Kompetenzen in verschiedenen Sprachen verfügen und dank dieser Kenntnisse Vergleiche anstellen, Bedeutungen herleiten, Folgerungen ziehen können. Schnelles Umschalten, Dolmetschen (vornehm: Mediation), Wiedererkennen von Wortmaterial in neuem Gewand, das alles setzt voraus, dass ein Lernvorgang in einzelnen Sprachen schon stattgefunden hat und ein aufmerksamer Geist die Möglichkeiten nutzen kann. Die Mehrsprachigkeitskompetenzen werden in diesem Modell zu früh anvisiert. Zuerst muss wenigstens der Rohbau des Hauses stehen, bevor man Verbindungstüren einbauen kann.
- Die Fragwürdigkeit von Sprachvergleichen
Bei der Umsetzung des Plurilingualismus in Lehrmitteln werden früh Sprachvergleiche gezogen. So wird z.B. in Mille feuilles die Verneinung in Französisch eingeführt mit dem Hinweis auf die Verneinung in mehreren anderen Sprachen. In dieser Weise entpuppt sich die Methode der Mehrsprachigkeit als eine theoretische Sprachanalyse. Da die Kinder noch nicht über Kenntnisse der aufgeführten Sprachen (mit Ausnahme der eigenen Erstsprache) verfügen, können die dabei allenfalls gewonnenen Erkenntnisse nicht fruchtbar werden. Weder ist durch solche Grammatikvergleiche die französische Verneinung im Sprachgebrauch verankert worden, noch ist für die nicht vertrauten andern Sprachen irgendein Effekt zu erwarten. Das Ganze ist zwar gut gemeint, bleibt aber weitgehend «l’art pour l’art».
- Rechtfertigung Chomsky
Zur Rechtfertigung der Mehrsprachigkeit wird Noam Chomskys Hypothese von der «angeborenen Sprachfähigkeit» herangezogen: Danach seien Menschen genetisch mit «Sprachkompetenz» (universal grammar) ausgerüstet, könnten neben ihrer Erstsprache der frühen Kindheit später auch jede weitere Sprache erlernen. Die Sprachfähigkeit bestehe aus einer grammatisch-semantischen Tiefenstruktur, die via Transformationsregeln in jede Menschensprache ausgeformt werden könne [6].
Aus dieser These leiten Plurilingualisten ab, dass es unterschiedliche Sprachbegabungen gar nicht gebe, da blosses Menschsein die Sprachfähigkeit garantiere. Im euphorischen Überschwang folgern sie, dass jedes Kind zur Mehrsprachigkeit problemlos befähigt sei.
Zweitens verbinden sie Chomskys Theorie mit der Beobachtung der Hirnforschung, dass verschiedene Sprachen in denselben Hirnarealen aktiviert werden. Sie deuten dies dahingehend, dass die Sprachen aus einem «gemeinsamen Repertoire» schöpften, die Sprachen somit alle untereinander verbunden seien.
Damit missdeuten sie Chomsky in doppelter Hinsicht:
Chomskys abstrakte, vorsprachliche Tiefenstruktur wird in dieser Interpretation plötzlich zu einem «gemeinsprachlichen Repertoire». Bei Chomsky entsteht Sprache aber erst durch die Transformation vorsprachlich-kategorialer Prinzipien in eine sprachliche Gestalt. Ausserdem sind bei Chomsky die Sprachen voneinander getrennte Gebilde, denn sie erhalten erst durch spezifische Transformationsregeln ihre individuelle Gestalt (bei Chomsky Oberflächenstruktur).
Auch die Hypothese von der für alle gleichen Sprachfähigkeit steht auf dünnem Eis. Widerlegt wird sie durch die psychologischen Tests, die Sprachfähigkeit unterschiedlicher Güte messen können. Im Faktorenmodell von Hufeisen (2007), einer Mehrsprachigkeitsforscherin der ersten Stunde, erscheint als neurophysiologische Voraussetzung für Mehrsprachigkeit der Faktor «General language acquisition capability» [7], also die allgemeine, individuell verschiedene Fähigkeit, Sprachen zu erwerben. Die Hypothese widerspricht ausserdem der Erfahrung mit Lernenden, die jede Lehrperson täglich machen kann.
Beide Behauptungen (gemeinsames Repertoire, angeborene Sprachfähigkeit) sollen ein ideologisch-politisches Programm rechtfertigen, beruhen jedoch auf gewagten Auslegungen von empirisch bisher nicht nachprüfbaren Hypothesen.
Diesen Zielkonflikt tragen Lehrmittel in sich, die wie Mille feuilles/Clin d’oeil die «Mehrsprachigkeit» umzusetzen versuchen. Einerseits streben sie einen sprachlichen Aufbau an, der sich nach dem Referenzrahmen in aufsteigender Qualität richtet (bis B1 und B2), anderseits sind wieder nur an einzelne Aufgaben gebundene partielle Kenntnisse für die Mehrsprachigkeitsziele nötig. Was soll gelten?
- Zielkonflikt
Einerseits genügen für die Mehrsprachigkeit «partielle» Sprachkenntnisse einer nicht näher definierten Art – Die Devise heisst, Sprachunterricht solle sich nicht am Niveau des «native speaker» ausrichten -, anderseits misst der europäische Referenzrahmen die Kenntnisse nach einem akribisch ausformulierten Kompetenzenkatalog, der von spärlichen Anfängen (A1) mit einer globalen Skala bis zur Meisterschaft (C2) reicht und höchste muttersprachliche Qualitäten umfasst (perfekte Grammatik, umfassender Wortschatz, Kenntnis aller idiomatischen Ausdrücke). Der gleiche Europarat vergibt also einerseits mit grösster Toleranz das Prädikat Mehrsprachigkeit für rudimentäre Gehversuche, während er anderseits den Kenntnisstand (proficiency) mit ausgeklügelten Kriterien aufsteigend nach dem muttersprachlichen Ideal ausrichtet.
Diesen Zielkonflikt tragen Lehrmittel in sich, die wie Mille feuilles/Clin d’oeil die «Mehrsprachigkeit» umzusetzen versuchen. Einerseits streben sie einen sprachlichen Aufbau an, der sich nach dem Referenzrahmen in aufsteigender Qualität richtet (bis B1 und B2), anderseits sind wieder nur an einzelne Aufgaben gebundene partielle Kenntnisse für die Mehrsprachigkeitsziele nötig. Was soll gelten?
Fazit:Verschwommen und widersprüchlich
Als sprachdidaktisches Prinzip bleibt Plurilingualismus verschwommen und widersprüchlich, ein idealistisch-politisches Konzept, das sich mit Hypothesen aus Linguistik und Psychologie legitimieren will. Die elsässische Verkäuferin, die mit ihrer Kollegin Französisch spricht, gleich darauf den Kunden auf Deutsch bedient; Die italienischen Secondos, die im Tram bald italienisch, bald deutsch sprechen, manchmal mitten im Satz umstellen: In beiden Fällen sind es die Gesprächspartner oder die Inhalte, welche das sprachliche Verhalten automatisch auslösen. In beiden Fällen greifen die Sprechenden jedoch auf getrennt existierende, historisch gewachsene Sprachsysteme zu, die nicht einem gemeinsamen Pool oder «Repertoire» entspringen, sondern einem Gedächtnisspeicher, der die Sprachen nicht mischt, sondern wechselt, und zwar systemgetreu, wenn auch nicht fehlerfrei.
[1] Nachzulesen in : Conseil de l’Europe, Beacco Jean-Claude/ Michael Byram : DE LA DIVERSITÉ LINGUISTIQUE À L’EDUCATION PLURILINGUE :Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe, 2007. https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016802fc3ab
[2] Conseil de l’Europe, Beacco Jean-Claude/ Michael Byram : DE LA DIVERSITÉ LINGUISTIQUE À L’EDUCATION PLURILINGUE :Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe, 2007, p. 36.
[3] Council of Europe COMMON EUROPEAN FRAMEWORK OF REFERENCE FOR LANGUAGES: LEARNING, TEACHING, ASSESSMENT COMPANION VOLUME WITH NEW DESCRIPTORS, February 2018, p. 28
[4] Council of Europe, 2018
[5] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/sprachen.html
[6] Michael N. Koslowski, A Survey and Synthesis of Cross-language Transfer Theory:
From Contrast to Interdependence to Interconnectedness and Back Again, York University, 2015, p. 32: “However, a shift toward innateness theory was instigated by Chomsky (1968) in ideas of universal grammar and the language acquisition device. Such notions of deep structure wired for language learning in the human brain led to approaches that no longer saw languages as separate and contrastable but rather underpinned by the same cognitive structure.”
[7] Hufeisen, B. & N. Marx (2007b). How can DaFnE and EuroComGerm contribute to the concept
of receptive multilingualism? Theoretical and practical considerations. In J. Thije & L. Zeevaert
(eds.), Receptive, multilingualism: Linguistic analyses, language policies and didactic concepts. Amsterdam: John Benjamins, 307–321.