29. März 2024

Ökonomisierung der Kindheit – Interview mit Jochen Krautz

Im Vorfeld der Veranstaltung der St. Galler Kinderärzte traf Yasemin Dinekli den deutschen Kunstpädagogen Professor Dr. Jochen Krautz aus Wuppertal. Der neue Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW) ist in der Schweiz auch als Autor (“Im Hamsterrad”, “Time for Change” und “Ware Bildung”) und Veranstalter der Wuppertaler Tagung “Time for Change” (siehe Condorcet-Blog: “Mut zur Freiheit”, 6.5.19) bekannt. Frau Dinekli stellte Professor Krautz unter anderem die Frage, was er denn vom Condorcet-Blog halte. Lesen Sie seine ausführlichen Antworten!

«Prof. Krautz, was müssen wir uns unter der Formulierung «Ökonomisierung der Kindheit» vorstellen?

Prof. Dr. Jochen Krautz, Präsident der GBW, Buchautor, Kritiker der Bildungsreformen
Yasemin Dinekli, Gymnasiallehrerin in Zürich, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs, führte das Interview mit Jochen Krautz.

Man stellt sich meistens zunächst auf einer äusseren Ebene vor, dass Kinder immer mehr in die Konsum- und Warenwelt hineingezogen werden. Ganz offensichtlich ist das bei Spielzeug, Kleidung und digitalen Geräten, die schon ab der Kinderwiege Kinder als Konsumenten ansprechen. Das beschreibt die äussere Ökonomisierung der Kindheit. In Bezug auf das Thema Bildung und Schule zeigt sich noch eine ganz andere Ebene, dass nämlich zunehmend ökonomisch geprägte Denk- und Handlungsmuster auf Erziehung und Bildung übertragen werden. Das heisst, Kinder werden nicht nur zu Konsumenten erzogen, sondern Schule – und damit Bildung und Erziehung – funktioniert zunehmend nach ökonomischen Kriterien und nach Handlungsmustern, die eigentlich aus dem Management, aus der Betriebswirtschaft, kommen und in pädagogischen Handlungszusammenhängen nichts verloren haben. Wir erleben insgesamt die Übertragung eines ökonomischen Menschenbildes, des sogenannten Homo oeconomicus, auf Zusammenhänge, in denen dieses Menschenbild nichts verloren hat. Das führt dazu, dass man Schüler, Kinder, immer stärker als sogenanntes Humankapital versteht, in das man investieren muss. Die Schüler sollen auch in sich selbst investieren, in ihre eigene Bildung. Sie gelten sozusagen als «Unternehmer ihrer selbst», als Verwerter ihres eigenen Bildungskapitals.

Das sogenannte Kompetenzverständnis, das dort vertreten wird, reduziert Bildung auf anwendungsbezogene Fertigkeiten. Kompetenz wird verstanden – auch das steht wörtlich in den OECD-Papieren – als  Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse der globalen Ökonomie.

Wie ist diese Ökonomisierung in den Bildungsbereich gelangt?

Das hat Einzug gehalten seit Anfang der 1990er Jahre und dann verstärkt seit Anfang der 2000er Jahre durch die PISA-Studien. Dieses Menschenbild, also der Homo oeconomicus und die Humankapital-Theorie, sind ausdrücklich Grundlage des Bildungsverständnisses der PISA-Studien. Es steht wörtlich in den Studien, dass der ganze Ansatz, der hinter den scheinbar objektiv-empirischen Tests steht, sich in diesen Humankapitaleinsatz einordnet. Das sogenannte Kompetenzverständnis, das dort vertreten wird, reduziert Bildung auf anwendungsbezogene Fertigkeiten. Kompetenz wird verstanden – auch das steht wörtlich in den OECD-Papieren – als  Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse der globalen Ökonomie.

Der messbare, quantitative Outcome ist entscheidend, nicht die Qualität.

Ganz konkret gefragt: An welchen Anzeichen kann man erkennen, ob in Schulen Entscheidungen nicht mehr nach pädagogischen, sondern nach ökonomistischen Gesichtspunkten gefällt werden?

Das sind Anzeichen, die man womöglich erst mal gar nicht damit verbindet. Ich nenne zwei Beispiele: Es ist z.B. üblich – in Deutschland ganz besonders – dass man Schulen als autonome Einheiten versteht. Da denkt man erst einmal: Schön, wenn Schulen sich selbst bestimmen können. Tatsächlich heisst das nur, dass jetzt die Schülerzahlen, die Absolventenquoten wichtig sind, also Output-Kriterien. Der messbare, quantitative Outcome ist entscheidend, nicht die Qualität. Das hat zur Folge, dass Schulen nun in einem künstlich inszenierten Wettbewerb stehen und alles Mögliche an Öffentlichkeitsarbeit, an Projekten, an bunten Veranstaltungen organisieren, aber der Kern, nämlich Unterricht und Erziehung, immer unwichtiger wird. Zunehmend richten sich dann auch Eltern nach dem bunten Angebot, ohne zu fragen, was eigentlich Aufgabe der Schule ist und was ihren Kindern tatsächlich gut tut.

Modernes Klassenzimmer
Bild: api

Ein anderes Beispiel ist das auch in der Schweiz sehr dominante «selbstgesteuerte» oder «selbstorganisierte Lernen». Das klingt zunächst einmal recht kinderfreundlich und etwas nach Reformpädagogik: Eine Lernumgebung wird gestaltet, in der die Kinder nicht mehr unterrichtet werden, sondern selbstgesteuert Aufgaben abarbeiten nach Wochenplänen und Ähnlichem, in Klassenräumen, die wie Grossraumbüros aussehen. Tatsächlich wird so gerade nicht Individualität gefördert, sondern solche Individualisierung vereinzelt und isoliert die Kinder. Sie lernen, Vorgaben abzuarbeiten. In einem tatsächlich schon wie in einem Grossraumbüro organisierten Setting lernen sie, Aufgaben zu bearbeiten, darüber Rechenschaft abzulegen, sich selbst zu kontrollieren und Kompetenzfortschritte in Raster einzutragen. Sie werden sozial atomisiert, und damit löst sich eigentlich das Grundverhältnis von Pädagogik auf. Ganz interessant ist, dass damit das kapitalistische Marktprinzip Einzug hält, denn mit dieser Situation werden die ohnehin starken Schüler, die von Zuhause schon kulturelles «Kapital» mitbringen, besser zurechtkommen als die Schwachen. Gerade aber die schwachen Schüler, die sehr konkrete Anleitung und Beziehung bräuchten, gehen darin unter. Man hat auf eine ganz merkwürdige Art und Weise eine Art radikalkapitalistisches System installiert, das nach dem Prinzip des «survival of the fittest» selektiv wirkt. Derjenige, der sich behaupten kann, kommt durch, und die anderen gehen unter. Hinter all diesen natürlich sehr blumig als Fortschritt beschriebenen Lernformen geht eigentlich genau das verloren, worum es angeblich immer geht, nämlich Bildungsgerechtigkeit herzustellen.

Bild: Adobe Stock

Gibt es in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz?

Ich kann das nur aus meiner Beobachtung beurteilen. Die Unterschiede scheinen sich mehr und mehr anzugleichen. Deutschland war seit Anfang der 2000er Jahre weit voraus in der Umsetzung dieser Reformen. Die Schweiz hat aber in den letzten Jahren rasant und auch mit einer erstaunlichen Brutalität das System adaptiert und umgesetzt. Meiner Beobachtung nach ist das fast zu einer Gleichschaltung im pädagogischen Denken und Handeln gekommen. Die Instrumente, die in der Schweiz eingesetzt werden, wirken meiner Einschätzung nach schärfer, weil in Deutschland die Lehrer verbeamtet sind – was aufgrund der deutschen Historie immer ambivalent ist: Deutsche Lehrer sind grundsätzlich erst mal misstrauisch gegen das, was von oben kommt, machen vieles auch einfach nicht mit, sind aber gesichert. In der Schweiz scheint zunehmend der Druck auf Lehrerinnen und Lehrer ausgeübt zu werden, so dass es tatsächlich zu Entlassungen oder Androhungen von Entlassungen kommt, was in der Schweiz ja möglich ist. Die öffentliche Diskussion um diese Fragen scheint inzwischen in beiden Ländern zu beginnen. Ich kann der Schweiz nur wünschen, dass dies zunimmt.

Sie haben dieses Jahr die Präsidentschaft der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW) übernommen. Die GBW ist ein Zusammenschluss von Hochschullehrenden und Wissenschaftlern, der sich gegründet hat, nachdem die Universitäten gegen ihren Willen mit der Bologna-Reform überrannt wurden. Ziel war es, die Hintergründe des Paradigmenwechsels in der gesamten Bildungsdebatte eingehend zu verstehen und ein Instrument gegen den damit einhergehenden Abbau von Bildung und Wissen in den Hochschulen zu entwickeln. Können Sie uns etwas über die Arbeitsweise und den Wirkungsradius der GBW sagen?

Prof. Dr. Hans Peter Klein gründete die GBW,
Autor von “Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt”

Die Gesellschaft wurde eigentlich in der Nachfolge der «Frankfurter Einsprüche gegen die Ökonomisierung des Bildungswesens» von 2006 gegründet. Sie geht zurück auf eine Initiative der Kollegen Gruschka und Klein aus Frankfurt. Von Anfang an bestand die Gesellschaft nicht nur aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern genauso aus Lehrerinnen und Lehrern und anderen pädagogisch Tätigen. D.h., es ist ein inzwischen doch recht grosser Zusammenschluss eben von Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft mit denen aus der pädagogischen Praxis. Ich halte genau das für wichtig, um den Austausch zwischen dem, was man wissenschaftlich analysieren kann mit der Praxis herzustellen. Zur Arbeitsweise: Es ist ein freier Zusammenschluss als Plattform für den Austausch über diese Fragen. Der läuft vor allem über die Webseite der Gesellschaft. Wir haben zudem regelmässig grosse Tagungen veranstaltet, in Frankfurt, in Köln, in Offenburg, in Wuppertal, mit jeweils 300 bis 400 Teilnehmern. Die Tagungen bringen einerseits  die inhaltliche Analyse voran und sind zum anderen  Möglichkeit des Austauschs. Aus einigen der Tagungen entstanden auch Publikationen, die z.T. online zugänglich sind. Zudem halten viele Kolleginnen und Kollegen zahllose Vorträge in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Zudem versuchen wir Stellungnahmen zu aktuellen Problemen zu erarbeiten. Es gibt eine Publikation der GBW, den «Bildungsrat», der politisch Verantwortlichen eine Möglichkeit geben will, sich auch positiv zu orientieren, was Schule und Unterricht eigentlich ausmacht. Die Publikation zeigt, dass das, was heute passiert, nicht alternativlos ist, sondern dass die Pädagogik in ihrer Geschichte und Systematik sehr wohl andere Möglichkeiten hat, pädagogisches Handeln zu gestalten.

Und eine jüngere Entwicklung ist, dass sich regionale Gesprächsgruppen in der GBW organisieren, so dass auch der Austausch vor Ort in kleineren Kreisen vorankommt. Ich halte das für wichtig, weil viele Lehrerinnen und Lehrer unter diesen Entwicklungen massiv leiden und der wechselseitige Austausch und die Bestärkung enorm wichtig sind, um dem fast totalitären Druck, der ausgeübt wird, überhaupt standzuhalten.

Besteht auch mit der Schweiz eine Zusammenarbeit?

Ja, wir haben einen Vizepräsidenten der Gesellschaft in der Schweiz, das ist der Kollege Carl Bossard, ebenso wie einen Vizepräsidenten in Österreich, den Kollegen Konrad Paul Liessmann, so dass wir auch in die Schweiz und Österreich hinein einen Austausch haben.

Meine Erfahrung ist auch, dass an vielen Stellen Kolleginnen und Kollegen sitzen, die sehr froh sind über solche Möglichkeiten und darüber, im Condorcet-Blog etwas anderes zu lesen und zu hören, selbst wenn man von diesen Leserinnen und Lesern nichts hört.

Nun eine letzte Frage in eigener Sache. Wir haben ja unseren Blog gebildet, um auch innerhalb der Schweiz einen solchen Austausch zu ermöglichen. Was halten Sie vom Schweizer Condorcet-Blog?

Mich hat es sehr gefreut, dass diese Initiative zustande kam und dieser Blog nun eine Plattform bildet, der ähnlich wie die GBW eine Möglichkeit eröffnet, die Diskussion und den öffentlichen Diskurs voranzubringen. Soweit ich den Condorcet-Blog beobachte, spriesst das ja sehr erfreulich und sehr lebhaft. Ich kann nur wünschen, dass sich das weiter so entwickelt. Denn der Bedarf daran, die Diskussion voranzubringen, ist gross. Meine Erfahrung ist auch, dass an vielen Stellen Kolleginnen und Kollegen sitzen, die sehr froh sind über solche Möglichkeiten und darüber, im Condorcet-Blog etwas anderes zu lesen und zu hören, selbst wenn man von diesen Leserinnen und Lesern nichts hört. Er ist als Möglichkeit von Vernetzung, Austausch und Klärung der Sache von grosser Bedeutung.

Danke für diese Rückmeldung und das Gespräch, Prof. Krautz.

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