Wer in den Unterricht hineinzoomt, der sieht, dass hier vieles geschieht – zum Beispiel in der fünften und sechsten Primarklasse des Kantons Zürich: Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik, Mensch-Natur-Gesellschaft (MNG), Religionen, Kulturen, Ethik (RKE), Bildnerisches sowie Technisches und Textiles Gestalten, Musik, Bewegung und Sport, Medien und Informatik. Für diese Bereiche sind 30 Lektionen eingesetzt, zehn allein für die drei Sprachen. Zur Fächeraddition der letzten Jahre kommen die Integration und als Folge die verstärkte Individuation. Beides absorbiert Zeit und erhöht den Anspruch an die Lehrerinnen und Lehrer.
Die Fülle fordert und überfordert
Erfahrene Lehrkräfte wissen es schon lange: Wer addiert, muss reduzieren. Wer die Fächerfülle maximiert, muss beim Üben und Automatisieren minimieren. Es fehlt die Zeit zum Konsolidieren. Das ist schlichte Proportionenrechnung und hat nichts mit Ideologie zu tun. Kein wirksames Lernen kann ungestraft gezieltem und systematischem Wiederholen ausweichen.
Darum haben langjährige Pädagoginnen und Pädagogen vor zwei Fremdsprachen in der Primarschule gewarnt: Das Konzept überfordere lernschwächere und mittelmässige Schüler – und oft auch Kinder mit Migrationshintergrund. Denn zu vieles müsse heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar oft von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert.
Ernüchternde Resultate
Wie sehr diese erfahrenen Stimmen recht behalten, hat eine repräsentative Studie von 2016 in der Zentralschweiz an Tag gelegt. Sie schockierte. Die Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler lagen weit unter dem versprochenen Erfolg: Nur jeder 30. Achtklässler sprach lehrplangerecht Französisch, nicht einmal jeder zehnte erreichte die Ziele im Hörverstehen. Etwas besser, aber immer noch unbefriedigend, waren die Resultate beim Lesen und Schreiben. Untersucht wurden 3’700 Schüler der 6. und 8. Klasse.
Nicht zufriedenstellend, wenn auch leicht günstiger, sahen die Ergebnisse im Kanton Zug aus. Hier haben die Schüler bis zum achten Unterrichtsjahr insgesamt zwei Wochenlektionen mehr Französisch als in den Nachbarkantonen. Und doch erreichte eine deutliche Mehrheit der Zuger Schülerinnen und Schüler die Lehrplanziele nicht
Man weiss es; die Studie zeigt es: Der Frühfranzösisch-Unterricht in der Primarschule führt unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht weit. Doch Konsequenzen gab es keine; Korrekturen sind kaum in Sicht. Die Karawane zieht einfach weiter.
Die Bildungsbehörden verschweigen die Wirklichkeit
Wenn Bildungsidee und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Doch diese Schulzimmerrealität wird ausgeblendet, obwohl man sie über Evaluationen kennt. „Was tut man, wenn man eine Studie in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse unbefriedigend ausfallen?“, fragt der Tages-Anzeiger sibyllinisch.[1] Und er fügt bei: „Man kann sie zum Beispiel einer breiteren Öffentlichkeit gar nicht vorstellen und nur auf ein paar Internetseiten aufschalten, die kaum konsultiert werden.“ Das erinnert an Christian Morgensterns messerscharfen Schluss, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Diesem Prinzip folgen die Bildungsbehörden der sechs Kantone Bern, Solothurn, Freiburg, Wallis und beider Basel. Sie halten die Ergebnisse einer Studie zum Frühfranzösisch weitgehend verborgen, obwohl sie seit Mitte April dieses Jahres vorliegt.[2] Warum wohl?, fragt sich der Beobachter. Weil Resultate und Erwartungen deutlich differieren? Weil „ein beachtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler […] am Ende der Primarstufe auch ein elementares Niveau bei den Sprachkompetenzen nicht [erreicht]“?[3] Denn nur gerade knapp elf Prozent (!) erfüllen beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Beim Leseverstehen sind es lediglich 33 Prozent, während beim Hörverstehen immerhin 57 ein positives Resultat erreichten. Untersucht wurden über 1000 Sechstklässlerinnen und Sechstklässler an 193 Schulen. Sie alle lernen seit der dritten Klasse Französisch.
Jeder konstruiert sich seine Welt
Die Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg evaluierte den Lernfortschritt der Kinder unter dem Einfluss des sogenannten Passepartout-Lehrplans. Obligatorische Grundlage bildet das Lehrmittel „Mille feuilles“. „Passepartout“ heisst der Zusammenschluss der sechs Kantone, welche die Unterrichtsmittel für die Primarschule generierten.
Das Sprachmodell „Passepartout“ basiert auf einem konstruktivistischen Lernverständnis. Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich jedes Subjekt lernend seine Welt konstruiert. Gerade für jüngere Lernende sei das schwer umsetzbar, weil es ein hohes Mass an Selbstorganisation und selbstverantwortetem Lernen verlange, erklärt der Studienleiter Professor Thomas Studer.[4]
Warum nicht offenlegen, dass die Grammatik, vor allem die Morphosyntax, schwierig ist – und gerade darum ein systematisches Lernen und Üben der massgebenden Grundstrukturen notwendig wird?
Das Sprachbad ist illusionär
Das Konzept von „Mille feuilles“ verfolgt die Didaktik des Sprachbads. Die Kinder probieren die Sprache spielerisch aus. Sie tauchen in die Sprache ein. Im Direktkontakt mit französischen Texten und Sachthemen sollen sie Wortschatz und Grammatik lernen – sozusagen en passant. Auf den systematischen Aufbau grammatikalischer Strukturen wird im Lehrmittel bewusst verzichtet; das Konjugieren der Verben „être“ und „avoir“ beispielweise kommt nicht vor.
Die Studienergebnisse erstaunen darum nicht. Ob die Probleme aber am richtigen Ort gesucht werden? Warum nicht offenlegen, dass die Grammatik, vor allem die Morphosyntax, schwierig ist – und gerade darum ein systematisches Lernen und Üben der massgebenden Grundstrukturen notwendig wird? Das Sprachbad mit drei Wochenlektionen bleibt eine Illusion. Viele Schülerinnen und Schüler lernen erfolgreicher mit Anschluss an bereits Bekanntes, also Deutsch. Sie verfügen über einen eher analytischen Zugang zur Sprache. Das wissen viele Lehrerinnen und Lehrer. Sie lassen ihre Schulkinder die Sprache so lernen – aber sie bleiben nicht dabei stehen. Wenn die Strukturen gefestigt sind, kann man die Kenntnisse kommunikativ einbetten, möglichst unter Einbezug der vier Sprachkompetenzen. Dazu braucht es Zeit. Und die steht in der Primarschule neben all den vielen andern Fächer kaum bereit.
Die Behörden beschwichtigen
Die Studie der Universität Freiburg war bekannt, das enttäuschende Resultat ebenfalls. Und doch liess die grüne Berner Erziehungsdirektorin Christine Häsler die Öffentlichkeit wissen, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg.
50 Millionen Projektinvestitionen in das neue Sprachenkonzept Passepartout wiegen wohl schwerer als die Wahrheit – und das Können der Kinder. Oder darf über die entscheidenden Sinntiefen offenbar gar nicht debattiert werden?
[1] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Tages-Anzeiger, 28. September 2019.
[2] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.
[3] Ebda, S. 4, 9.
[4] von Bergen, a.a.O.
Der Schulrealität endlich ins Auge sehen
Zum Glück melden sich praxisverbundene Persönlichkeiten wie Carl Bossard zu Wort, wenn es um Wesentliches in der Pädagogik geht. Meist wird in der Bildungspolitik sehr viel geredet über innovative Neuerungen, welche unsere Volksschule voranbringen sollen. Grosse Erfolge werden versprochen, und diese würden sich schon bald in den wissenschaftlichen Evaluationen zeigen. Doch zurzeit ist es seltsam still im bildungspolitischen Teil des Blätterwalds. Was ist los? Die Bildungsreformer haben zwei böse Tiefschläge zu verdauen: Die teilweise miserablen Ergebnisse der nationalen Studie zur Evaluierung der Grundanforderungen und das generell schlechte Abschneiden der Schüler bei Erhebungen zum Französischunterricht.
Auf Seiten der Erziehungsdirektorenkonferenz herrscht Ratlosigkeit. Schliesslich hat man bei der EDK den Turbo-Didaktikern geglaubt, dass die neuen Lehrmittel und die modernen Methoden auch resultatmässig einen Durchbruch bringen würden. Zwei frühe Fremdsprachen zu lernen sei dank der neuen didaktischen Erkenntnisse kein Problem und auch in der Mathe könne man viel weiter kommen als bisher. Doch die Resultate sind wirklich peinlich.
Nun, wie geht es weiter? Zurzeit gilt bei der EDK die Devise, dass man möglichst nicht über das Debakel reden soll. Beruhigende Stellungnahmen oder allenfalls Relativierungen der Resultate könnten das Vergessen fördern.
Doch diese Art des Politisierens ist wenig hilfreich. Es gilt herauszufinden, was denn in der Volksschule grundsätzlich nicht stimmt. Dies setzt voraus, dass sich mutige Politiker und unbefangene Bildungswissenschafter nicht länger mit Beschönigungen zufrieden geben und der Wirklichkeit ins Auge sehen. Genau das hat Carl Bossard getan. Er weist in seiner klaren Analyse darauf hin, dass das Bildungsprogramm der Volksschule überladen ist und ungeeignete didaktische Wege eingeschlagen wurden.
Hoffen wir, dass seine Worte gehört werden. Die gesunde Entwicklung unserer Volksschule hängt davon ab, ob es gelingt, die künftigen bildungspolitischen Diskussionen mit mehr Tiefgang und Praxisbezug zu führen als bisher.
Hanspeter Amstutz
Fehraltorf