19. März 2024

Um zeitgemäss unterrichten zu können, braucht es die Lehrmittelfreiheit

Im Kanton Bern gibt es nur drei obligatorische Lehrmittel: Die Passepartout-Reihe, das Englisch-Lehrmittel “New World” und das Mathbuch. Ruth Wiederkehr, Schulleiterin an einer Brennpunktschule in Biel, plädiert für eine weitgehende Lehrmittelfreiheit. In ihrem Beitrag blickt sie zurück und begründet, weshalb ein Obligatorium im Zeitalter der Standards und einer sich rasant veränderten Medienlandschaft nicht mehr zeitgemäss ist.

Ende 60er anfangs 70er Jahre, als ich die Oberstufe besuchte, arbeiteten wir zum Teil mit den gleichen Lehrbüchern, mit denen bereits unsere Grosseltern unterrichtet worden waren. Wir hatten je ein Buch für die Fächer Mathematik, Deutsch, Französisch und Englisch. Meine Mutter, die die Schulen in der Stadt Zürich besucht hatte, war entsetzt, dass wir in den Fächern Biologie, Geschichte, Geografie, Physik und Chemie keine Schulbücher hatten. In diesen Fächern mussten wir den Unterrichtsstoff von der Wandtafel in Hefte abschreiben oder er wurde uns diktiert. Man musste also sehr rasch schreiben können.

Bild: DonBoscoWeb

Dann, in den 80er Jahren, kam der Wandel. Auch im Kanton Bern hatte nun jeder Schüler und jede Schülerin der Oberstufe für jedes Fach ein Lehrbuch. Die Inhalte wurden nicht mehr von der Lehrperson diktiert oder von der Wandtafel abgeschrieben. Die Schülerinnen und Schüler mussten über ein gutes Textverständnis verfügen und zum Teil eigene Texte in die Schulhefte schreiben. Das Kopieren wurde billiger und so erhielten die Schüler und Schülerinnen nebst dem Lehrbuch zunehmend die unterschiedlichsten Kopien, die sie dann einordnen oder einkleben sollten.

Kopieren wurde billiger
Bild: api

In den 2000er Jahren kamen wieder neue Lehrmittel heraus, die Lehrpersonen verlangten danach, erklärten, dass die Texte in den «alten» Büchern für viele Schüler und Schülerinnen zu schwierig seien. Da viele Gemeinden in dieser Zeit Budgetkürzungen vornahmen, die Schulen weniger Geld zur Verfügung hatten, bekam an unserer Schule nicht mehr jeder Schüler und jede Schülerin sein oder ihr eigenes Buch. Es wurden Klassensätze angeschafft, die in für alle Lehrpersonen zugänglichen Schränken aufbewahrt – und zum Teil vergessen- wurden.

Lehrerbibliothek OSZ-Orpund

Heute, wiederum 20 Jahre später, hat sich die Situation aufs Neue geändert. Die Klassen sind viel heterogener, die Schülerinnen und Schüler kommen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und Kenntnissen in die Oberstufe. Gleichzeitig hat sich die Medienlandschaft vollständig verändert, die Forschung kommt immer rascher zu neuen Erkenntnissen.  Zunehmend stellen Lehrpersonen ihr Unterrichtsmaterial aus verschiedenen Büchern, aus unterschiedlichen Kantonen und sogar Ländern, aus dem Internet, aufgrund von YouTube oder Lernprogrammen selber zusammen. Ich beobachte, wie immer mehr Lehrpersonen mit Dossiers arbeiten. Das heisst, die Schülerinnen und Schüler lernen nicht mehr mit EINEM Buch, sondern mit einem von der Lehrperson zusammengestellten Dossier. Im Fremdsprachenunterricht ist wahrscheinlich der Unterschied der Kenntnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler am grössten. Da sitzen Muttersprachler und –sprachlerinnen neben quasi Anfängern und Anfängerinnen. Der Unterricht kann sich also gar nicht mehr auf EIN Buch abstützen, sondern er muss den Kenntnissen und Fähigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler angepasst werden können.

Lehrpersonen müssen auch auf der Sekundarstufe 1 die Möglichkeit und die Freiheit haben, geeignetes Unterrichtsmaterial zusammenstellen zu dürfen und zwar aufgrund der unterschiedlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Ansprüche der Schülerinnen und Schüler. Sie sind Profis für das Lehren und Lernen.

Lehrkräfte arbeiten zunehmend mit Dossiers, Bild: api

Was heisst das für die Schule? Wie müsste eine Schule, die mit dem raschen Wandel der Zeit mithält, nebst Computern, Beamern und Visualizer etc. ausgerüstet sein?

Ich denke Folgendes:

  • Lehrpersonen definieren in den Fachgruppen aufgrund des Lehrplans die Inhalte für die einzelnen Fächer. Sie bestimmen immer wieder neu, mit welchem Material (Buch, Zeitung, Internet, Lernprogramm, Arbeitsbuch, Film etc.) sie ihren Unterricht vorbereiten und erteilen, welches Übungsmaterial für ihre Schülerinnen und Schüler geeignet ist.
  • In der Bibliothek der Lehrpersonen stehen die neusten Lehrmittel, die von den Fachgruppen ausgewählt werden. Sie sind jederzeit für alle Lehrpersonen zugänglich.
  • Im Fremdsprachenunterricht werden Arbeitsbücher mit grammatikalischen Übungen für die Schülerinnen und Schüler angeschafft und zwar niveaugerecht (A1, A2, B1, B2 etc.). Sehr gut eignen sich dafür Lehrmittel aus dem Erwachsenenbereich, da für viele Schülerinnen und Schüler das Üben mit Computerprogrammen nicht reicht, sie vieles zu schnell wieder vergessen, wenn sie es nicht auf Papier festgehalten haben. Auch zum Wiederholen und Lernen eignen sich Arbeitsbücher besser.

Die Zeit, in der man während 20 Jahren mit ein und demselben Buch unterrichtete, ist eindeutig vorbei.

Um in einer sich immer schneller verändernden Welt zeitgemäss unterrichten zu können, braucht es die Lehrmittelfreiheit. Die Zeit, in der man während 20 Jahren mit ein und demselben Buch unterrichtete, ist eindeutig vorbei. Das Wissen ist nicht mehr nur aus EINEM Buch oder Lehrmittel aus EINEM Verlag zugänglich. Um guten Unterricht zu erteilen, braucht man eine Passion für sein Fach. Lehrpersonen müssen auch auf der Sekundarstufe 1 die Möglichkeit und die Freiheit haben, geeignetes Unterrichtsmaterial zusammenstellen zu dürfen und zwar aufgrund der unterschiedlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Ansprüche der Schülerinnen und Schüler. Sie sind Profis für das Lehren und Lernen.

Berufseinsteigende müssen von der Schulleitung und von Kolleginnen und Kollegen kompetent begleitet und unterstützt werden. Der Anschluss an weiterführende Schulen und Berufsschulen muss selbstverständlich gewährleistet sein, die Unterrichtsinhalte müssen auf dem Lehrplan basieren.

 

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Ein Kommentar

  1. “Sie (die Lehrpersonen) sind Profis für das Lehren und Lernen.” Wenn sie das wären, dann könnten sie auch Lehrwerke evaluieren. Doch diese Fähigkeit steht nicht in den Lehrplänen der PH. Wieso Lehrmittel auf ihre Qualität überprüfen – das macht doch ein Spezialistengremium?

    Doch es gibt kein Lehrmittel, das für jeden Kontext passt: Die Fähigkeiten des Lehrers, die Klassengrösse, die Fähigkeiten der Schüler usw. Auch aus diesem Grund sind Lehrmittelobligatorien unsinnig.

    Ich behaupte, dass es die guten Lehrer sind, welche sich umschauen und Material aus verschiedenen Quellen sammeln. Die bequemen oder unfähigen hängen an dem einen Buch und folgen allen Anweisungen unkritisch. Ein guter Lehrer riskiert auch mal etwas und probiert immer Neues aus. Dazu braucht es die Lehrmittel- und Methodenfreiheit.

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