18. April 2024

Im Nachklang zum «Hype ums Gymnasium»

Claudia Meier hat sich an gewissen Aussagen in Carl Bossards Beitrag “Der Hype ums Gymnasium – Kommen auch die Richtigen?” gestört. Sie fragt sich, ob es nicht überholt ist, heute noch in den Kategorien, “gescheit”und “weniger gescheit”, “begabt” und “weniger begabt” zu denken.

Claudia Meier, Luzern

Lesen regt zum Nachdenken an. Die Thematik im Condorcet-Beitrag Hype ums Gymnasium tut’s bei mir im Besonderen. Von den überdurchschnittlich intelligenten Schülerinnen und Schülern ist dort die Rede. Von den Begabten, die für den gymnasialen Weg geeignet sind. Sie hätten die obersten Bildungsstufen in einem anspruchsvollen und anstrengenden Bergauf-Prozess zu erreichen. Die Klassenlehrkräfte sollen jene Schüler ausfindig machen, die gerne und ausdauernd lernen und gedankliche Ansprüche suchen. Schülerinnen, die viel lesen, die Fragen stellen und den Dingen auf den Grund gehen möchten. Die Lehrtätigen müssten diese hellen Köpfe entdecken und abwägen, ob der Weg ins Gymnasium für sie der richtige sei. Auch Eltern werden erwähnt, die vorwiegend aus Prestigegründen ihre Kinder zu stark unter Druck setzen und mit Nachhilfeunterricht oder gar mit einem Anwalt dafür sorgen, dass Tochter oder Sohn ins Gymnasium kommen – und dass sie dort bleiben bis und mit bestandener Maturitätsprüfung.

Nichts misslang

Vor Jahren stand auf unserem Hof die Sanierung unseres rund 300-jährigen, stark baufälligen Bauernhauses an. Es musste grundlegend neu konzipiert und vom Kellerboden bis zu den Dachziegeln ausgehöhlt und wiederaufgebaut werden. Für diese anspruchsvolle Aufgabe konnten wir einen befreundeten Schreiner-Zimmermann gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, über welch enormes Sachwissen und grosses Können er verfügte. Fähigkeiten, die er sich aufgrund seiner grossen Neugierde in diversen Ausbildungsgängen und im Selbststudium mit Entschlossenheit und Fleiss angeeignet hatte. Angefangen mit dem Zeichnen der Baupläne und dem Einholen der Baubewilligung auf Gemeinde und Ämtern meisterte er die ersten Hürden. Danach beriet er uns in diversen Entscheidungen überaus sachkundig. Selbst die Berechnung der Gebäudestatik bewerkstelligte er so selbstverständlich wie zuverlässig. Und schliesslich führte er den diffizilen Umbau in der monatelangen praktischen Umsetzung unfallfrei und ohne Schäden durch alle Herausforderungen und Schwierigkeiten. Nichts misslang. Mehr, die Renovation zum ökologisch umgebauten, modernen neuen Zuhause glückte von A bis Z. Jede Wahl konnten wir dank ‘unserem’ Schreiner klug und weitsichtig treffen. Seither ist mein Verständnis, was die menschliche Intelligenz anbelangt, ein anderes geworden.

Die Unterscheidung der Menschen in gescheite und weniger gescheite ist eine künstliche. Und dazu eine unangebrachte und ungerechte, eine unüberlegte und ja, ich finde bisweilen auch eine anmassende.

Die eingangs umschriebenen Fähigkeiten des künftigen Gymnasiasten, der künftigen Maturandin – entsprechen sie nicht genau dem gezeichneten Bild dieses Schreiners? Und weiter überlege ich, ob es nicht überholt ist, heute noch in den Kategorien, gescheit und weniger gescheit, begabt und weniger begabt zu denken? Weshalb die Sachlage um eine mögliche gymnasiale Ausbildung nicht rein pragmatisch und ohne jede Klassifizierung und Wertung diskutieren und behandeln? Wie im erwähnten Text sehr klar beschrieben ist, meine auch ich, dass Primarschulkinder von einer fachlich wie menschlich befähigten Lehrkraft systematisch unterrichtet und gefördert werden sollen. In wachsenden Anforderungen mit einer für alle verbindlichen Lernzielvorgabe sollen die Zöglinge zudem konsequent gefordert werden. Von Anfang an müssen der Jugend jene wissenschaftlich ausgerichteten schulischen Vorkenntnisse vermittelt werden, die Grundlage sind für ein Hochschulstudium. Mit der anspruchsvollen bestandenen Aufnahmeprüfung soll gewährleistet sein, dass nur jene im Gymnasien aufgenommen werden, die auch wirklich dorthin gehören. Welche, die bereit sind, noch viele weitere Jahre vorwiegend theoretische und komplexe Kopfarbeit zu leisten. Und dies bisweilen unter Entbehrungen, beispielsweise finanziellen. Nach einer Probezeit, deren Anforderungen für Eltern nicht verhandelbar sein dürfen, hat der junge Mensch Jahr für Jahr den intellektuell hohen Anforderungen zu genügen. Ansonsten muss mit Repetition oder gar mit dem Schulausschluss gerechnet werden. Alle anderen jungen Menschen, die ihr geistiges Potenzial beispielsweise mit ihren handwerklichen oder technischen, kommunikativen oder künstlerischen Begabungen und Fähigkeiten kombinieren wollen, entschliessen sich entsprechend ihren Wünschen und Möglichkeiten für eine alternative Ausbildung. Eine, die deshalb aber nicht minder taxiert werden darf.

Denn: Die Unterscheidung der Menschen in gescheite und weniger gescheite ist eine künstliche. Und dazu eine unangebrachte und ungerechte, eine unüberlegte und ja, ich finde, bisweilen auch eine anmassende.

Seit einiger Zeit ist immer wieder von der menschlichen Begegnung auf Augenhöhe die Rede. Man sagt dies so schnell, als sei es eine unschwer machbare, mitunter etwas technische Angelegenheit. In Wirklichkeit geht der Kern aber viel tiefer. Der einzelne Mensch ist angesprochen, wie er seinem Gegenüber in allen Feinheiten gegenübertritt. Es geht um das Gefühl der Gleichwertigkeit – ohne ein Besser und Schlechter, ohne das Oben und Unten. Dieses gilt es im sozialen Verbund in jeder Konsequenz zu leben.

 

 

 

  1. 09. 2019

Claudia Meier

Mutter, Kindergärtnerin u. Bäuerin

Oberkirch LU

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Ein Kommentar

  1. Die Reaktionen auf den Artikel «Hype ums Gymnasium» von Carl Bossard veranlassen mich zu folgendem Klärungsversuch:

    1. Die Schweiz hat sich längst bemüht, das duale Bildungssystem dahingehend auszubauen, dass die Gleichwertigkeit der beruflichen Ausbildung gewahrt bleibt. In den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden nämlich die Fachhochschulen ins Leben gerufen, die auch Jugendlichen, die den Weg über einen Lehrberuf gewählt haben, ein Studium auf jedem gewerblichen, technischen und künstlerischen Gebiet ermöglichen. Auch der Umstieg auf ein universitäres Studium ist via Passerelle noch möglich. Dieses System hat sich bewährt, die Jugendarbeitslosigkeit ist praktisch inexistent, die Berufsleute leiden nicht unter Minderwertigkeit, ihre finanziellen Erfolgsmöglichkeiten sind intakt.

    2. Carl Bossard wollte in seinem Beitrag nicht «Gescheite» von «Dummen» absondern. Hingegen spielte er auf eine auch von der Lernforscherin Elsbeth Stern, ETH, unterstützte Tatsache an, dass die rein kognitive Begabung (gemeint damit: logisches Denken in Mathematik, Sprache, die Abstraktionsfähigkeit, das Tempo, mit der Denkoperationen bewältigt werden können) nun einmal unterschiedlich stark bei Menschen ausgebildet ist. Menschen, die über diese theoretische Begabung schon als Kind verfügen, sind für Mathematik, Natur- und Geisteswissenschaften prädestiniert. Sie lösen Aufgaben in diesen Bereichen mit einer gewissen Leichtigkeit. Später erarbeiten sie u.a. die mathematischen, physikalischen,
    naturwissenschaftlichen Grundlagen, auf denen Ingenieure, Techniker, Gewerbler aufbauen können. Das Gymnasium bietet diesen Jugendlichen die Möglichkeit, ihre spezifischen Fähigkeiten auszubilden. Das sagt bei nüchterner Betrachtung nicht, dass sie mehr wert seien als andere, sondern das ermöglicht ihnen, den für sie geeigneten Beitrag im Leben zu leisten. Ob Albert Einstein den Bauernhof so gut hätte ausbauen können wie der Schreiner von Claudia Meier, ist stark zu bezweifeln. Allerdings auch, ob der Schreiner die Formel E = mc2 gefunden hätte. (Nein, Einstein war kein Schulversager: In seinem Maturzeugnis der Kantonsschule Aarau stand: Mathematik 6, Physik 6).

    3. Wer die Schülerinnen und Schüler am Gymnasium als «Gescheite» beneidet und glaubt, die andern in Schutz nehmen zu müssen, hält im Grunde das alte Prestigedenken am Leben, das durch die Einführung von Fachhochschulen längst obsolet geworden ist. Dieses falsche Prestigedenken geht von dem verhängnisvollen Impuls aus: Wie kann mein Kind den höchsten Status mit dem besten Lohn erreichen? Der richtige Impuls wäre: Welche Interessen und Fähigkeiten hat mein Kind, was ist dafür der beste Weg? Noch nie standen Jugendlichen beiden Geschlechts (einschliesslich LGBT) so viele Wege offen wie heute. Die Möglichkeit, den eingeschlagenen Weg zu korrigieren, ist heute auch leichter zu verwirklichen. Für das Prestigedenken kann man aber nicht das Gymnasium verantwortlich machen. Es wird auch nichts damit gewonnen, wenn das Gymnasium für alle geöffnet wird, weil dann das Niveau unweigerlich sinkt.

    4. Die Definition von kognitiver Intelligenz ist ein psychologisches Konstrukt. Es sagt nichts darüber aus, welche handwerklichen, sozialen, künstlerischen, motorisch-sportlichen, politischen Fähigkeiten jemand hat. Aber dieses Konstrukt hat sich insofern bewährt, als es Leute mit dem Potenzial für wissenschaftliche Studien in den letzten hundert Jahren gut identifizieren konnte. Arztpersonen, Theologinnen/Theologen, Lehrpersonen, Juristinnen und Juristen, etc. können sich ihre Kenntnisse nur aneignen und ihre Aufgaben nur wahrnehmen, wenn sie über das notwendige Quantum an kognitiver Intelligenz verfügen.

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