„Rekord bei Übertritten ins [Luzerner] Gymi“, „Die Goldküste im gymnasialen Rausch“, „Zuger Gymnasien boomen wie noch nie“, „Ins Gymnasium – auf Biegen und Brechen“. Das sind nur einige wenige Schlagzeilen der letzten Monate. Die Titel mögen plakativ sein, doch sie verweisen auf einen Trend, der den Bildungsverantwortlichen nicht gleichgültig sein darf: den Hype ums Gymnasium – und die Frage: Gehen die Richtigen an die Mittelschule?
Qualität und Quote korrelieren
Die Matura ist heute für viele eine Conditio sine qua non. Doch ein Drittel schafft das Gymnasium nur mit Nachhilfeunterricht. Manche sind überfordert; etliche verlassen die Schule vor der Matura. Evaluationen zeigen Defizite. Nicht umsonst schreibt die ETHZ-Wissenschaftlerin Elsbeth Stern: „Wenn man die überdurchschnittlich Intelligenten an den Universitäten haben will, dann sollte man eine [Studier-]Quote von etwa 20 Prozent anstreben – das ergibt sich aus der Normalverteilung der Intelligenz.“[1] Für die gleiche Zahl votiert darum auch Stefan C. Wolter, Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Die Quote sollte nicht steigen.[2]
Gleichzeitig stellt der Bildungsökonom Wolter fest: „Das System ist in Schieflage geraten.“ Und er fügt bei: „Einzelne Gymnasien vergeben Noten, die in keinem Verhältnis zu den objektiven Leistungen stehen.“ Der Bildungsbericht 2018, Standardwerk zur Schweizer Bildungspolitik, hält nüchtern fest: Nicht allen Maturandinnen und Maturanden kann man „eine volle Studierfähigkeit attestieren“.[3] Höhere Quoten gehen oft mit sinkenden Ansprüchen einher. Der Zusammenhang von «upgrading access and downgrading skills» ist bildungsgeschichtlich nichts Neues: Qualität und Quote korrelieren.
Matura für alle?
„Mehr Maturanden, bitte!“, fordert Professor Philipp Sarasin, Universität Zürich, seit Jahren.[4] Dezidiert verlangt er für eine breite Bevölkerungsschicht den Zugang zum Gymnasium. Gar eine „Matura für alle!“ postulierte jüngst eine Publikation.[5]
Wohin das führt, zeigt Frankreich: 85 Prozent des gesamten (Schulabschluss-)Jahrgangs schafften 2016 die Matura; so viele wie noch nie zuvor. Das ist wahrscheinlich Weltrekord. Doch nach der Grundschule haben viele französische Schüler Schwächen im Lesen und Schreiben. Und bei den internationalen Vergleichen fällt Frankreich immer weiter zurück.[6] Ein hoher Prozentsatz der französischen Studenten scheitert im Studium. Die Hochschulreife gerät so zur Farce. Das Prinzip des pädagogischen Egalitarismus bedeutet Nivellierung nach unten, ja Negierung der Ansprüche. Wenn alle im Gymnasium sind, ist wohl keiner mehr im Gymnasium.
Vielfältiges Schweizer Bildungssystem
Das westliche Nachbarland mit seiner „Egalité“ kann kein Vorbild sein, obwohl die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD in Paris mit ihren Sibyllen und Propheten die Schweiz regelmässig rügt – und zwar wegen ihrer niedrigen Maturaquote. Paradoxerweise rühmt die gleiche OECD die helvetische Berufsbildung mit dem dualen System von Lehre in Betrieb und Schule. Sie sei eng mit dem Arbeitsmarkt verwoben und gelte als integrativ. Tatsächlich hat ja die Schweiz eine niedrige Jugendarbeitslosenquote. Gemäss Staatsekretariat für Wirtschaft SECO lag sie 2018 bei 2.5 Prozent.
2016 erwarben im Übrigen schweizweit 38.6 Prozent der jungen Erwachsenen einen Maturitätsabschluss: 20.8% die gymnasiale Matura, 15.1% die Berufsmatura und 2.7% eine Fachmaturität.
Der unaufhaltsame Drang ans Gymnasium
Wer die Postulate und Positionen um Qualität und Quote der Maturität studiert, dem brummt der Kopf. Da hilft nur ein Blick auf die Fakten. In einigen Kantonen bleibt der Anteil der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten stabil, in anderen Kantonen wächst er stetig. Die Maturaquote variiert zwischen den Kantonen enorm. Sie reichte 2016 von 11.7 im Kanton Glarus bis 32.1 Prozent in Basel-Stadt.
Auffallend ist der Andrang in urbanen Gebieten wie Genf, Zürich oder Basel. In einigen Stadtzürcher Quartieren stellen sich ganze Primarklassen fast geschlossen der Aufnahmeprüfung. In Basel-Stadt traten 2018 45 Prozent der Sekundarschüler ins Gymnasium über. Doch
der gleiche Kanton mit der „historisch hohen Gymnasialquote“, wie es der baselstädtische Erziehungsdirektor Conradin Cramer ausdrückt, liegt bei den nationalen Vergleichstests der Grundkompetenzen am Schluss.
Verantwortung als Conditio sine qua non
Viele Wege führen zu Bildung und Beruf. Das Schweizer Bildungssystem ist breit gefächert und gut ausgebaut – mit unterschiedlichen Passagen und Passerellen. Der gymnasiale Pfad ist einer von vielen. Doch wie kommen „die Richtigen“ auf diesen Weg, die begabten und nicht die gepushten? Das zu bewerkstelligen ist schwieriger, als es klingt.
Ein hohes Verantwortungsgefühl muss darum Lehrerinnen und Lehrer aller Stufen leiten. Das gilt für den pädagogischen Bezug zu den Schülerinnen und Schülern, das zielgerichtete Unterrichten wie das sorgsame Prüfen und die Feedbackgespräche. Lernfortschritte und damit Exzellenz bleiben nicht Zufall. Sie sind das Ergebnis systematischen und konsequenten Förderns der individuellen Begabungen. Grundlage des Gymnasiums ist und bleibt ein Curriculum, das von Beginn weg wissenschaftspropädeutisch ausgerichtet ist. Hintergrund bilden auch hier die Bloom’schen Taxonomiestufen, das konkrete klassische Klassifikationsschema für Lernziele mit sechs Niveaus und steigender Komplexität. Zu erreichen sind die obersten Stufen: Bildung als anspruchsvoller und anstrengender Bergauf-Prozess, die Lehrperson als verantwortungsvolle Expeditionsleiterin.
Zwischen elterlichem Anspruch und kindlichem Potential
Besonders anspruchsvoll ist die Rolle der 5./6.-Klasslehrerinnen und -lehrer. Oft ist sie mit konkreten, gar handfesten Erwartungen der Eltern verknüpft. Soziales Prestigedenken und die Angst vor dem sozialen Abstieg ihrer Kinder erhöhen den Druck; nicht selten hilft der Anwalt nach. Lehrpersonen müssen zwischen elterlichem Anspruch und kindlichem Potential unterscheiden können: Gehört das Kind zu jenen Schülerinnen und Schülern, die gerne und ausdauernd lernen, die viel lesen und gedankliche Ansprüche suchen, die Fragen stellen und den Dingen auf den Grund gehen möchten – und die sich vorstellen können, einmal an einer Hochschule zu studieren? Dann führt der Weg ins Gymnasium; dann ist das Ziel die gymnasiale Maturität.
Mitspracherecht der Eltern minimiert Chancengerechtigkeit
Je mehr Mitsprache die Eltern haben, desto eher landet das Kind am falschen Ort, schreibt die Bildungsforscherin Margrit Stamm, konkret: im Gymi statt in der Lehre – oder umgekehrt. Und sie fügt bei: „Die Chancengerechtigkeit beim Übertrittsentscheid […] ist in Kantonen mit einem grossen Mitspracherecht der Eltern deutlich kleiner als in Kantonen, in denen die Schule den Entscheid alleine fällt.“[7]
Lehrpersonen übernehmen eine Schlüsselfunktion – einerseits als Limes gegen überhöhte Elternansprüche, anderseits als Potenzialentwickler verdeckter Talente. Sie müssen die hellen Köpfe entdecken und erkennen, für wen der Weg ins Gymnasium der richtige ist. Doch Lehrerurteil und Erfahrungsnoten sind immer auch subjektiv und unterliegen einem soziodemografischen Einfluss. Das zeigt die Forschung. Sie weist zudem nach, dass Prüfungen gerechter sind und so einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit darstellen – sofern die Schule darauf vorbereitet und nicht der private Anbieter. Die Bildungspolitik darf sich diesen Erkenntnissen nicht verwehren, wenn sie „die Richtigen“ am Gymnasium haben will.
[1] Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer, Wir brauchen die Schlauen, in: DIE ZEIT, 21.03.2013, S. 76.
[2] Alexandra Kedves, „Gymi-Quote von 20 Prozent ist richtig“, in: Tages-Anzeiger, 09.09.2019. S. 31.
[3] Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 151.
[4] Philipp Sarasin, Mehr Maturanden, bitte!, in: Magazin. Die Zeitschrift der Universität Zürich 4/2012, 44f.
[5] Andreas Pfister (2018), Matura für alle! Wie wir das Geissenpeter-Syndrom überwinden. Embrach: Arisverlag. Der Autor fordert, dass (fast) alle Jugendlichen eine der drei Matura-Typen absolvieren: gymnasiale Matura, Berufsmatura oder Fachmatura.
[6] Jürg Altwegg, Geschlechterpolitik. Wie man eine Frau wird, in: FAZ, 05.10.2016.
[7] Margrit Stamm (2016), Arbeiterkinder an die Hochschulen! Hintergründe ihrer Aufstiegsangst. Dossier 16/2, S. 35.