Die Kinder unserer recht grossen Patchworkfamilie erlebten eine eigenartige Kindheit. Kein Handy, kaum mal ein Kinobesuch und bis 10 Jahre keinen Fernseher. Gerade mal der letzte unserer sechs Zöglinge hatte als Nachzügler das «Glück», mit einem Compi in Berührung zu kommen. Während Restaurantbesuchen zeichneten unsere Kinder mit Farbstiften in ihr Malheft und machten das «Henkerli-Spiel».
Wenn man der Rhetorik unserer Digitalisierungspropheten vertraut, dann müsste es sich bei unserem Familienumfeld um ein Katastrophengebiet gehandelt haben.
Digitalpakt in Deutschland
Glücklicherweise ist man jetzt daran, den heutigen Jugendlichen das traurige Schicksal unserer Kinder zu ersparen. Mit vielversprechenden Ergebnissen. Laut der grossangelegten internationalen Schülerbefragung «Health Behaviour in School-aged Children» (einsehbar auf «Sucht Schweiz») verbringen die 11- bis 15-Jährigen in der Schweiz heute im Schnitt unter der Woche 4,4 und am Wochenende 7,4 Stunden pro Tag vor dem Fernseher, Computer, Tablet oder Smartphone.» Dabei handelt sich dabei ausschliesslich um die Zeit, die ausserhalb der Schule vor dem Bildschirm verbracht wurde.
Keine Frage, dass hier auch die Schule unter Zugzwang gerät. In Deutschland ist deshalb am 17. Mai 2019 der «Digitalpakt in Kraft getreten. An 40.000 öffentlichen Schulen bundesweit können nun Gelder aus dem Pakt abgerufen werden, um die Medienkonzepte umzusetzen, welche die Software-Industrie und deren Experten eigens für die Schule entwickelt haben.
… und in Biel
Und auch die BielerInnen haben am 19. Mai dieses Jahres einen 14.7 Mio-Kredit beschlossen, der es möglich macht, für die gut 6000 Schülerinnen und Schüler und ihre knapp 900 Lehrkräfte rund 4000 Endgeräte anzuschaffen. Ausserdem werden im Rahmen des Projekts DiAna alle Schulstandorte mit schnellem Internet ausgerüstet. Damit erreicht die Stadt Biel zwar höchstens ein durchschnittliches Digitalisierungsniveau (andere Gemeinden sind da schon wesentlich weiter), aber es genügt, doch um eine gefährliche Lücke zu schliessen.
Ein vielversprechender Schüleralltag
Die Digitalisierung des Unterrichts könnte nun folgenden atemberaubenden Tagesablauf nach sich ziehen, der Condorcet-Autor Felix Hoffmann in seinem Beitrag Digitalisierung skizzierte (Aufschaltung folgt am Dienstag): «06.45: Der Handywecker läutet, erster Blick auf WhatsApp, Instagram oder Snapchat, eine erste Nachricht an den besten Freund; 07.20: Ankunft in der Schule, kurzer Austausch mit Kollegen der am Vortag auf YouTube neu entdeckten Clips; 07.30: Geometrie, Dreieckskonstruktionen am PC; 08.20: Französisch, einen digitalen Text lesen mit anschliessender Beantwortung von Fragen im Textverarbeitungsprogramm; 09.10: Deutschdoppelstunde, Aufsatz am Bildschirm; 11.05: Geschichtsprüfung online; 12.30: Mittagessen zuhause, der Fernseher läuft zur Unterhaltung im Hintergrund; Snapchat-, WhatsApp-, Instagram- News werden ausgetauscht. 13.30: Englisch, Übungen zum Past Simple am Computer, YouTube-Clip als Hörverständnisübung; 14.15: Geographie, Filmvorführung zur Erdölförderung im Nahen Osten; 15.05: Musik – Musik programmieren mit dem Musikprogramm «Garageband» 17.00: Wieder zu Hause: Treffen mit Kollegen, Call of Duty, Fortnite, Gamen. 19.00 Uhr Nachtessen. 19.30 Französischwörter lernen mit Quizlet, 19.45 – 22.00 Uhr: Netflix-Serie – Vampire Diaries, Riverdale, Walking Dead oder Ähnliches; 22.30: Nachrichtenaustausch am Handy.» [1]
Selbstredend wird die Digitalisierung auch dafür sorgen, dass die SchülerInnen endlich zukunftsweisende Berufe anstreben. Als der für meine Klasse zuständige Berufsberater die Kids letzte Woche fragte, wer von Ihnen einen handwerklichen Beruf erwäge, meldete sich niemand.
Schöne neue Zeiten!
[1] https://condorcet.ch/2019/09/die-gefahren-der-schulischen-digitalisierung-ein-plaedoyer-fuer-ein-umsichtiges-vorgehen/
https://www.lvb.ch/docs/magazin/2019-2020/01-September-2019/42_Gefahren-schulische-Digitalisierung-Plaedoyer-umsichtiges-Vorgehen_lvb-inform_1920-01.pdf