Schicksalsjahr 2010 – beruflich und bildungspolitisch
Im Sommer 2010 hatte ich neun Jahre Erfahrung als Lehrer im Vollpensum hinter mir und ein Jahr davor die Intensivweiterbildung zur «Fachperson für Projektentwicklung und Projektleitung im Schulbereich» abgeschlossen. Den Anstoss zu dieser Weiterbildung hatte mein Rektor gegeben, verbunden mit dem Hinweis, dies wäre ein guter Schritt im Hinblick auf eine künftige Anstellung als Schulleiter, denn er sah meine berufliche Zukunft in dieser Funktion. Auch ich konnte mir vorstellen, neue Herausforderungen anzunehmen.
«Mängisch bruucht’s wenig, dass öppis so chunnt oder so.»
(Kuno Lauener)

Parallel dazu war ich auf dem Radar des LVB aufgetaucht. «Schuld daran» war Heinz Bachmann, Ressortleiter «Beratung und Rechtshilfe» in der LVB-Geschäftsleitung, der an derselben Schule wie ich unterrichtete. 2008 und 2009 hatte ich seine Anfragen bezüglich der Übernahme eines Amtes im LVB noch abgelehnt, obwohl ich mich sehr für Bildungspolitik interessierte.
«Mängisch bruucht’s wenig, dass öppis so chunnt oder so» singt Kuno Lauener im Song «So wie denn i däm Summer» von Züri West. Treffender hätte meine berufliche Entscheidungsfindung im Sommer 2010 nicht beschrieben werden können: Mein Rektor beschied mir, an unserer Schule würde auf längere Sicht kein Posten in der Schulleitung frei werden. Diese Aussage sollte sich im Nachhinein zwar als unzutreffend erweisen, hatte zu jenem Zeitpunkt aber Gültigkeit für mich.
Da es für mich keine Option war, ohne Kenntnis von Kollegium und Umfeld an einer anderen Schule Schulleiter werden zu wollen, erschien die Möglichkeit einer leitenden Funktion beim LVB umso attraktiver. Am 15. September 2010 wurde ich von den LVB-Delegierten in den Kantonalvorstand gewählt und kurz danach vom Kantonalvorstand in die Geschäftsleitung mit Stellenantritt per 1. August 2011. Auch weil die LVB-Präsidentin Bea Fünfschilling krankheitsbedingt ausfiel, nahm ich bereits ab November 2010 an den Sitzungen der Geschäftsleitung teil.
Wiedererkennung im Selbstverständnis des LVB
Es wäre jedoch verkürzt, meinen Entscheid pro LVB nur darauf zurückzuführen, dass sich an meiner Schule keine Aussicht auf einen Posten als Schulleiter bot. Vielmehr war mir in jener Phase bewusst geworden, wie sehr mich die geplanten Umwälzungen im Schulsystem umtrieben – und wie mutig ich es fand, dass der LVB nicht davor zurückscheute, vermeintlich Gesichertes kritisch zu hinterfragen, unbequeme Wahrheiten zu benennen und Positionen zu vertreten, mit denen er aneckte.
Der LVB schreckt nicht davor zurück, vermeintlich Gesichertes kritisch zu hinterfragen, unbequeme Wahrheiten zu benennen und Positionen zu vertreten, mit denen er aneckt.
Was ich in meinem allerersten Artikel im «lvb inform», publiziert im Dezember 2010, geschrieben habe, kann ich noch immer unterzeichnen: «Zuwider sind mir […] Äusserungen im Brustton der vermeintlichen eigenen moralischen Unanfechtbarkeit, denn für mich steht fest, dass derjenige, der sich für moralisch überlegen hält, es in der Regel genau dadurch schon nicht mehr sein kann. […] Pädagogik ist eine Kunst der kleinen Schritte, nicht der grossen Würfe. […] Folglich gebührt auch bei bildungspolitischen Themen dem pragmatischen Ansatz der Vorzug, nicht dem ideologisch Aufgeblasenen. Allem Heilsbringerischen ist mit gesunder Skepsis zu begegnen.»1
Allem Heilsbringerischen ist mit gesunder Skepsis zu begegnen.
Die von mir beschriebenen Beobachtungen und Einschätzungen bezogen sich zumindest teilweise auch auf die bildungspolitischen Vorlagen, anlässlich derer die Baselbieter Stimmbevölkerung im Herbst 2010 an die Urne gerufen wurde: Beitritt zum HarmoS-Konkordat, Beitritt zum Konkordat Sonderpädagogik und Harmonisierung im Bildungsraum Nordwestschweiz.
HarmoS-Konkordat inklusive Frühfremdsprachen
In den Abstimmungsunterlagen war hinsichtlich HarmoS-Konkordat u.a. zu lesen: «Für die Volksschule werden folgende Änderungen eingeführt: […] Einführung sechstes Primarschuljahr: Die obligatorische Schule wird neu gegliedert in eine 8 Jahre dauernde Primarstufe und eine 3 (heute 4) Jahre dauernde Sekundarschule (Sekundarstufe I). Die Primarstufe beinhaltet den zweijährigen Kindergarten und neu die auf 6 Jahre verlängerte Primarschule.
Zwei Fremdsprachen an der Primarschule: Die Verpflichtung, spätestens ab der 3. Klasse der Primarschule (5. Schuljahr nach neuer Zählweise) die erste Fremdsprache und ab der 5. Klasse der Primarschule (7. Schuljahr) die zweite Fremdsprache einzuführen, wird eingelöst. Im Vergleich zu heute setzt der Französischunterricht ein Jahr früher ein, der Englischunterricht zwei Jahre früher. […]
Nach Abschluss der Einführung der Schulstrukturen werden für Kanton und Gemeinden zusammengerechnet jährlich wiederkehrende Minderkosten von 9,5 Millionen Franken resultieren. Diese Minderkosten werden durch die tieferen Besoldungskosten aufgrund des künftigen 6. Primarschuljahres bewirkt. Für die damit verbundene Lastenverschiebung wird eine einvernehmliche Lösung für eine kostenneutrale Kompensation zwischen Kanton und Gemeinden gewährleistet.»2
Ich war im Kanton Solothurn aufgewachsen, wo schon seit längerer Zeit das System «6/3» (6 Jahre Primar- und 3 Jahre Sekundarstufe; Zählweise ohne Kindergarten) gegolten hatte. Mir war daher durchaus bewusst, dass auch dieses System praktikabel war. Auf der anderen Seite hatte ich durch meine Unterrichtstätigkeit im Baselbiet dessen System «5/4» ungemein schätzen gelernt. Die vierjährige Sekundarstufe I fand ich ausgezeichnet, gerade weil Lehrende und Lernende zwei Jahre lang Zeit hatten, um sich richtig gut kennenzulernen, bevor der gemeinsame Blick auf die Anschlussmöglichkeiten auf der Sekundarstufe II gerichtet wurde.
Umso weniger Verständnis konnte ich dafür aufbringen, dass eine echte pädagogische Debatte über Vor- und Nachteile der Systeme «5/4» respektive «6/3» praktisch ausblieb. Ich erinnere mich etwa an ein von der AKK organisiertes Podium, u.a. mit dem heutigen SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, an dem sich alle Gesprächsteilnehmer für «6/3» aussprachen und niemand die potenziellen Vorzüge von «5/4» auch nur erwähnte. Dass zudem in den Abstimmungsvorlagen die künftigen Minderausgaben durch tiefere Personalkosten als Argument für den Systemwechsel veranschlagt wurden, bestärkte mich in meinem Eindruck, dass andere Aspekte weit stärker im Fokus standen als pädagogische.
Eine echte pädagogische Debatte über Vor- und Nachteile der Systeme «5/4» und «6/3» blieb aus.
Der mit HarmoS verknüpften Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts stand ich als Fremdsprachenlehrer von Beginn weg ablehnend gegenüber. In den Französisch- und Englischfachschaften meiner Schule waren wir uns darüber einig, dass das Verteilen einer gleich gross bleibenden Anzahl von Lektionen pro Fremdsprache an der Volksschule auf mehr Schuljahre nicht zielführend war. Eine hohe Exposition pro Woche, gerade in Französisch auf der Sek I, war aus unserer Sicht eine zwingende Voraussetzung für einen produktiven Unterricht. Die extrem vollmundigen Versprechungen im Kontext des angestrebten früheren Beginns des Fremdsprachenunterrichts teilten wir kraft unserer Berufserfahrung nicht ansatzweise.
Die extrem vollmundigen Versprechungen im Kontext des früheren Beginn des Fremdsprachenunterrichts teilten wir nicht ansatzweise.
Konkordat Sonderpädagogik
Betreffend Konkordat Sonderpädagogik stand in den Abstimmungsunterlagen u.a. Folgendes: «Die meisten Integrationen verlaufen erfolgreich. Für die Kinder ohne Behinderung entsteht kein Nachteil. Dies belegen eigene Erfahrungen im Kanton und Untersuchungen im In- und Ausland über die Lernzielerreichung in Klassen, in denen Kinder mit Behinderungen integriert unterrichtet werden. Festgestellt wird, dass in durchmischten Klassen die soziale Kompetenz aller Kinder steigt. […] Mit dem Beitritt zum Konkordat Sonderpädagogik […] wird insbesondere der Grundsatz der vorzugsweisen integrativen Schulung im Gesetz verankert. […] Der Kanton stellt die Angebote der Sonderschulung bereits heute zur Verfügung, weshalb keine zusätzlichen Kosten entstehen.»3
Fairerweise muss betont werden, dass es im Kanton Basel-Landschaft – anders als in anderen Kantonen – nie darum ging, sämtliche Formen separativer Beschulung aufzulösen. So war im Abstimmungsbüchlein zu lesen: «Nicht für alle Kinder mit Behinderung ist die integrative Schulung die richtige Schulungsform. Es braucht deshalb weiterhin Sonderschulen und Sonderschulheime, die mit ihrem Angebot dem speziellen Bildungsbedarf dieser Kinder und Jugendlichen gerecht werden.»4 Umstritten, auch im Landrat, war hingegen die explizite Bevorzugung der integrativen Schulung.
Umstritten war die explizite Bevorzugung der integrativen Schulung.
Auch dieser Vorlage gegenüber war ich zurückhaltend, nicht zuletzt aufgrund von Berichten diverser Schulbeteiligter aus meinem Wohnkanton Solothurn, wo die Umsetzung der integrativen Schulung schon vor dem Baselbieter Abstimmungstermin hohe Wellen geworfen hatte. Ich führte damals viele Gespräche mit Solothurner Lehrpersonen, Schulleitungsmitgliedern, Politikern und Politikerinnen, Gemeinde- und Schulbehörden sowie Erziehungsberechtigten. Viele Kritikpunkte und Befürchtungen konnte ich nachvollziehen.
Woher etwa – hinsichtlich Fachkräfte-Problematik ähnlich wie bei den Frühfremdsprachen – wollte man überhaupt die erforderliche Anzahl Heilpädagoginnen und -pädagogen nehmen? Musste eine kostenneutrale Umsetzung nicht zwangsläufig eine Illusion bleiben, sodass vielmehr ein «Pfusch» drohte zu Lasten der Kinder mit besonderen Bedürfnissen, des Lernerfolgs der anderen Schülerinnen und Schüler sowie der Arbeitsbedingungen der Lehrpersonen? Welche tatsächlichen Belege gab es für die pauschale Behauptung, in gemischten Klassen steige die soziale Kompetenz aller Kinder und Jugendlichen?
Und ganz allgemein: Wusste denn nicht jede Lehrperson aus eigener Erfahrung, dass nur schon ein bis zwei ausserordentlich verhaltensauffällige Schützlinge – ob mit oder ohne «Integrationslabel» – das Lern- und Arbeitsklima in einer Klasse zum Kippen bringen konnten? Würde der Grundsatz der Bevorzugung einer integrativen Beschulung nicht unweigerlich dazu führen, dass nicht gelingende Integrationsversuche zum Nachteil aller Beteiligten auf unbestimmte Zeit andauern würden? Zudem brachte ich den Begriff der «organisierten permanenten Unterrichtsstörung», formuliert durch den damaligen Leiter der pädagogischen Arbeitsstelle des LCH, Anton Strittmatter, nicht mehr aus dem Kopf.
«Organisierte permanente Unterrichtsstörung.» (Anton Strittmatter)
Der LVB zum HarmoS-Konkordat
Um dies klar zu betonen: Mit den Abstimmungsempfehlungen des LVB vor
besagtem Urnengang am 26. September 2010 hatte ich noch nichts zu tun gehabt. Inhaltlich aber empfand ich die Argumentationen der LVB-Geschäftsleitung als nachvollziehbar und gleichermassen von der Berufspraxis wie von den Kindern und Jugendlichen her gedacht.
Zu HarmoS hielt der LVB fest: «Die Umstellung auf 6 Primar- und 3 Sekundarschuljahre sieht einen Abbau von Lektionen vor und macht keine einzige Schulstunde besser. Und dies für zweistellige Millionenbeträge. […] Der Name HarmoS gaukelt eine gesamtschweizerische Harmonisierung vor und verschweigt, dass […] der Flickenteppich in der Deutschschweiz Bestand haben wird, denn neben dem Kanton Aargau […] haben schon 8 weitere Kantone HarmoS abgelehnt. Zudem lässt HarmoS unter dem Druck der Kantone Schulmodelle zu, welche die emporstilisierte interkantonale Mobilität statt verbessern zusätzlich erschweren. […]
6/3 wurde von den Bildungsplanern nicht etwa gewählt, weil es das beste Modell ist, sondern weil diese Struktur in den Kantonen vorherrscht und man deshalb auf die beste Akzeptanz zählen konnte. […] Anders als Basel, das mit seinem unbestritten gescheiterten Schulsystem in Zugzwang geriet, kann Baselland mit 5/4 auf eine erfolgreiche Tradition vertrauen […].
Anders als Basel-Stadt, das mit seinem gescheiterten Schulsystem in Zugzwang geraten war, konnte Baselland mit 5/4 auf eine erfolgreiche Tradition vertrauen.
Noch völlig unklar ist, wer in der 6. Primarklasse unterrichten soll. […] Auch wenn die meisten Kantone mit 6/3 gut leben, zieht in Baselland ein Strukturwechsel einen Bildungsabbau mit enormer Kostenfolge und ungelöste personalrechtliche Probleme nach sich. […] Die Harmonisierung ist nicht prioritär abhängig vom Schulmodell, sondern von den harmonisierten Stundentafeln und Lehrplänen in den entsprechenden Klassen.
Frühfremdsprachen: Realitätsfremd und praxisuntauglich ist dieser Ansatz, weil Kinder aus bildungsfernen Milieus oder mit Migrationshintergrund, die ohnehin für ihre Leistungserfolge kämpfen müssen, zusätzlich in hohem Masse belastet werden und teils mit bis zu fünf Sprachen konfrontiert sind (Muttersprache, Mundart, Standarddeutsch, Französisch und Englisch). […]
Zudem sind mit dem Frühfremdsprachenkonzept ein enormer Weiterbildungsaufwand für die Lehrpersonen, eine Umstellung auf das Fachlehrersystem an den Primarschulen mit wachsender Anzahl von Bezugspersonen und hohen Kosten […] verbunden. Die unterschiedliche Staffelung (F/E oder E/F) der Fremdsprachen erhöht die Hürde für die betroffenen Kinder bei Kantonswechseln. […] In den Vorreiterkantonen (z.B. Zürich) zeigt sich ein krasses Missverhältnis zwischen finanziellem Aufwand und Gewinn für das Bildungswesen. […]
In Vorreiterkantonen wie Zürich zeigte sich bei den Frühfremdsprachen ein krasses Missverhältnis zwischen Aufwand und Gewinn für das Bildungswesen.
Ausgaben in jedem anderen politischen Bereich werden minutiös auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis geprüft. Just in der Bildung, die unumstritten als eine der wichtigsten politischen Aufgaben erachtet wird, beschränkt sich das Interesse auf übergeordnete Erwartungen wie z.B. das Heil durch Harmonisierung. Die Wirkung auf die am meisten Betroffenen, nämlich die Schülerinnen und Schüler, wird jedoch nicht hinterfragt. […] Deshalb ein überzeugtes «Nein» zum HarmoS-Konkordat!»5
Die integrative Schulung erhöht den Bedarf an spezialisiertem Personal und die Anzahl der Bezugspersonen.
Der LVB zum Konkordat Sonderpädagogik
«Die Integration von behinderten Kindern in die Regelklassen ist sinnvoll, wenn diese dem Unterricht mehrheitlich folgen können, wenn die Klasse als Ganzes gut lernt und funktioniert und wenn genügend Ressourcen für die Integration (Betreuung, bauliche Massnahmen etc.) vorhanden sind. Diese Voraussetzungen sind mit dem Sonderpädagogik-Konkordat nicht gegeben! […]
Mit dem Beitritt würde dem Kanton Basel-Landschaft die vorzugsweise Integration aller sonderpädagogisch zu betreuenden Kinder in die Regelklassen vorgeschrieben, und zwar ohne Rücksicht auf die Art ihrer Behinderung. Viele dieser Kinder können die Anforderungen des schulischen Alltags nicht erfüllen und werden von den Lernzielen befreit. Es ist pädagogisch mehr als fragwürdig, Kinder […] tagtäglich schulischen Anforderungen auszusetzen, die sie nie erfüllen können. Die Betroffenen […] leiden unter dieser Erkenntnis. […]
Der Bedarf an spezialisiertem, gut ausgebildetem Personal und damit die Anzahl der Bezugspersonen steigt mit integrativer Schulung in einem ungesunden Masse an. Lehrermangel und in der Folge abnehmende Unterrichts- und Bildungsqualität, verbunden mit steigenden Kosten, sind die logische Konsequenz. […] Ohne die nötigen personellen und finanziellen Ressourcen kann Integration nicht gelingen. Deshalb ein überzeugtes «Nein» zum Sonderpädagogik-Konkordat!»6

Tabubruch mit gravierenden Folgen
Mit den Nein-Parolen zu den Konkordaten «HarmoS» und «Sonderpädagogik» stach die damalige LVB-Spitze in ein Wespennest. Kein anderer Lehrpersonenverband schweizweit tätigte einen vergleichbaren Schritt. In vielen Baselbieter Kollegien wurde über die Vorlagen und die Haltung des LVB gestritten. Mitglieder der Geschäftsleitung wurden teilweise persönlich angefeindet und als reaktionär etikettiert, auch in Leserbriefen und Presseartikeln. Vorwürfe eines falschen Welt- und Menschenbildes, der Rückständigkeit und Verstocktheit wurden erhoben.
Schlimmer noch: Eine Austrittswelle erfasste den LVB. Eine dreistellige Anzahl Aktivmitglieder kündigte ihre Mitgliedschaft, auch wenn nicht bei allen Betroffenen eine Kausalität zwischen Abstimmungsparolen und Austritt nachgewiesen werden konnte. Manche liessen ihrer Wut und Enttäuschung in Schreiben an die Verbandsspitze freien Lauf. Verglichen mit 2009, verlor der LVB bis 2011 über 10 % seiner Aktivmitglieder und drohte in eine existenzielle Krise abzugleiten.
Durch die Austrittswelle drohte der LVB in eine existenzielle Krise abzugleiten.
Die LVB-Präsidentin Bea Fünfschilling erkrankte schwer und schied, ebenso wie Doris Boscardin und Myrtha Michot, 2011 definitiv aus. Von den fünf Geschäftsleitungsmitgliedern, denen ich mich im Sommer 2010 vorgestellt hatte, waren ein Jahr später nur noch deren zwei im Amt: Heinz Bachmann und der neue Präsident Christoph Straumann, wobei Letzterer 2013 ebenfalls seinen Abschied gab. Es galt, den LVB neu aufzustellen, zumal der Verband als Folge seiner Positionsbezüge innerkantonal stark isoliert war respektive wurde.
Die heutige LVB-Geschäftsleitung lässt ihre Abstimmungsparolen jeweils durch Mitgliederbefragungen abstützen und spricht sich gegenüber der Öffentlichkeit nur dann klar aus, wenn sich intern deutliche Mehrheiten zeigen. Allerdings sind die technischen Möglichkeiten der Gegenwart auch andere als vor 15 Jahren.
Und ohnehin: Die Vehemenz und die üblen Unterstellungen eines Teils der eingegangenen Reaktionen an die Adresse der Verbandsspitze im Herbst 2010 hinterliessen bei mir einen bleibenden Eindruck, zumal die Parolen des LVB aus meiner Sicht mit einer Reihe von Argumenten unterlegt worden waren, die man gutheissen oder ablehnen konnte, ohne deshalb ausfällig werden zu müssen.
Wahrscheinlich nicht unerheblich für die Beschlussfassung des LVB war die DV vom 24. März 2010 gewesen, wo die beiden Lehrer Hanspeter Amstutz und Jules Fickler hinsichtlich Sonderpädagogik und Frühfremdsprachen über die Lage im Vorreiterkanton Zürich berichtet hatten. Amstutz hatte beschrieben, dass durch die vorzugsweise Integration die Auflösung aller Kleinklassen forciert worden sei, wobei die erforderlichen Heilpädagogen/-innen für integrative Settings fehlten. Ausserdem seien die Lehrpersonen durch die vielen nötigen Absprachen zusätzlich stark belastet worden.
Sein Kollege Fickler hatte ausgesagt, eine klare Erkenntnis bestehe darin, dass man mit zwei Wochenlektionen Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe nicht vorwärtskomme. Er riet den LVB-Delegierten dazu, eine harte Position einzunehmen. Es gebe kein «Ja, aber …», sondern nur ein «Nein, so nicht!»7
Die Zürcher Vertreter hatten gewarnt: «Ja, aber …» wird nicht gehört, nur ein «Nein, so nicht!»
Die Abstimmungsresultate
Die Baselbieter Stimmberechtigten nahmen am 26. September 2010 sowohl den Beitritt zum HarmoS-Konkordat als auch jenen zum Konkordat Sonderpädagogik (und die damit verbundenen Änderungen des Bildungsgesetzes) mit Anteilen zwischen ca. 56 und 59 % an.
Auch die dritte bildungspolitische Vorlage des Abstimmungssonntags, welche eine Harmonisierung im sogenannten «Bildungsraum Nordwestschweiz» der vier Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt und Solothurn vorsah, wurde angenommen, und zwar mit einem deutlichen Ja-Stimmen-Anteil von ca. 68 %. Der LVB hatte zu dieser dritten Vorlage die Ja-Parole gefasst und dabei die Wichtigkeit einer inhaltlichen Harmonisierung betont, was im ganzen Trubel um die Nein-Parolen zu den beiden Konkordaten jedoch wenig Beachtung fand.
Die heutige Situation betreffend Harmonisierung
Bei Ablauf der Umsetzungsfrist am 31. Juli 2015 hatten 15 Kantone HarmoS zugestimmt. Elf Kantone haben entweder den Beitritt per Volksabstimmung abgelehnt, ihn sistiert oder sind nicht darauf eingetreten. Das ursprüngliche Ziel einer gesamtschweizerischen Umsetzung wurde verfehlt, einige grundlegende Pfeiler der Harmonisierung aber wurden in der ganzen Schweiz zumindest annähernd einheitlich umgesetzt, so etwa der Zeitpunkt der Einschulung und die Dauer der obligatorischen Volksschule sowie gemeinsame Bildungsziele und Grundkompetenzen in definierten Fachbereichen.
Konkrete Bereiche, die trotz HarmoS kantonal unterschiedlich blieben, sind unter anderem bestimmte Schulstrukturen (z.B. «traditioneller» Kindergarten vs. Basisstufe oder die Art der Gliederung der Sekundarstufe I), Fremdsprachen- und Ferienregelungen, Stundentafeln, Bewertungs- und Promotionssysteme, Übertrittsregeln, Organisation der Tagesstrukturen und der frühkindlichen Bildung. Auch bei der Finanzierung und Betreuungsangeboten – etwa für Kinder mit besonderem Förderbedarf – gibt es grosse kantonale Unterschiede.
Selbst Aspekte wie der Zeitpunkt der Einschulung, die grundsätzlich infolge HarmoS als «harmonisiert» wahrgenommen werden, sind bei näherer Betrachtung nicht deckungsgleich. So variiert der Stichtag für die Einschulung in den Kindergarten bzw. die Basisstufe. In der Mehrheit der Kantone (19 von 26) liegt er auf dem 31. Juli. Es gibt jedoch Kantone, die andere Stichtage haben, und in einzelnen Kantonen ist eine gewisse Flexibilität möglich. All dies führt dazu, dass Kinder je nach Kanton ein Jahr früher oder später eingeschult werden können, obwohl das Konkordat einen einheitlichen Rahmen vorgibt.
Selbst Aspekte wie der Zeitpunkt der Einschulung sind bei näherer Betrachtung nicht deckungsgleich in den Kantonen.
Speziell hervorzuheben ist der Umstand, dass eine Harmonisierung innerhalb des Bildungsraums Nordwestschweiz nicht gelungen ist, obwohl diese Vorlage 2010 im Kanton Basel-Landschaft am deutlichsten angenommen worden war. Zwei Aspekte stechen dabei besonders heraus: Einerseits beginnt der Aargau als einziger Nordwestschweizer Kanton in der Primarstufe zuerst mit Englisch und erst später mit Französisch, andererseits dauert die Sek P exklusiv im Kanton Solothurn nur zwei anstatt drei Jahre.
Letztere Kuriosität war bereits vor der Baselbieter Abstimmung bekannt gewesen und entsprechend im LVB-Argumentarium für die Beibehaltung des Systems «5/4» moniert worden: «Schulmodelle […], welche die […] interkantonale Mobilität statt verbessern zusätzlich erschweren.»8 Die Frage, weshalb Baselland sein System «5/4» der Harmonisierung zuliebe aufgeben «musste», während Solothurn die Dauer der Sekundarstufe I im leistungsstärksten Niveau nicht anzugleichen brauchte, war und ist zumindest diskutabel.
Im Bildungsraum Nordwestschweiz ist nicht einmal die Harmonisierung der Sprachenreihenfolge und der Dauer der Sek P gelungen.
In der hiesigen Lehrerschaft jedenfalls, so förderte es eine LVB-Mitgliederbefragung zur schulischen Selektion im Mai 2025 zutage, geniesst das System «5/4» weiterhin Sympathien, und zwar nicht nur auf der Sekundarstufe I (Zyklus III), sondern auch im Zyklus II: «Interessant ist, dass mit 54.8 % nicht nur eine Mehrheit der Teilnehmenden des Zyklus III den Selektionszeitpunkt als «zu spät» einstuft, sondern auch 41.1 % […] des Zyklus II diese Haltung vertreten. […] Wie es in auffällig vielen Kommentaren zum Ausdruck kommt, muss ein ansehnlicher Teil der Baselbieter Lehrpersonen mit dem früheren System «5/4» […] zufrieden(er) gewesen sein.»9
Die Fragen, welche die Leserinnen und Leser – sofern sie sich ein Urteil zutrauen – im Kontext der sogenannten Harmonisierung für sich beantworten können, lauten: Hat es sich für den Kanton Basel-Landschaft gelohnt, im Namen von HarmoS sein Volksschulsystem von «5/4» auf «6/3» umzustellen? Und: Sind durch HarmoS sogenannte Mobilitätshindernisse zwischen den Kantonen, deren Beseitigung als starkes Pro-Argument gegolten hatte, aufgehoben worden?
Die heutige Situation betreffend Fremdsprachen
Die Vorverlegung des Beginns des Fremdsprachenunterrichts war Teil des HarmoS-Konkordats gewesen. Im Kanton Baselland wurde nach dem Ja zu HarmoS zusätzlich aufs Gas gedrückt: Der Bildungsrat entschied im März 2011, die Einführung der Frühfremdsprachen nicht wie geplant per Schuljahr 2015/16 vorzunehmen, sondern ganze drei Jahre früher – zwecks Kooperation mit anderen Kantonen und ohne Mehrkosten, wie es hiess.
Der LVB blieb höchst skeptisch und lancierte schon im Februar 2013 eine Umfrage zu den ersten Erfahrungen mit dem Frühfranzösisch. Eine deutliche Mehrheit der teilnehmenden Primarlehrkräfte stufte die an die Kinder gestellten Anforderungen unter den gegebenen Rahmenbedingungen als unrealistisch ein. Auch die Konzeption des «spielerischen Lernens» innerhalb weniger isolierter Wochenlektionen wurde arg in Frage gestellt. In den Folgejahren publizierte der LVB, namentlich Philipp Loretz und ich, diverse weitere kritische Analysen zu den Frühfremdsprachen, den dazugehörigen Lehrmitteln und der von den PHs verordneten sogenannten Didaktik der Mehrsprachigkeit; hinzu kamen zusätzliche Mitgliederbefragungen.
Im September 2014 widmete der LVB seine DV der Thematik: Zwei kontradiktorischen Referaten folgte eine Publikumsdiskussion. Die BaZ schrieb im Anschluss: «Wie es schien, hatten die beiden [Passepartout-Befürworter] zuvor noch nie einen Fuss in ein Klassenzimmer gesetzt, derart akademisch tönten ihre wissenschaftlichen Rechtfertigungen des «einmaligen Pionierprojekts Passepartout», das zurzeit an den Primarschülern in der Schweiz ausprobiert werde. Sie ernteten bei den versammelten Praktikern vorwiegend Gelächter. Und bittere Vorwürfe.»10

Ebenso unterstützten wir 2016 an einem von der GLP Basel organisierten Podium die Linguistin Simone Pfenninger, deren Studie11 zum frühen Fremdsprachenunterricht den Dogmen der Passepartout-Apologeten widersprochen hatte, worauf sie vom Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann faktenbefreit öffentlich diskreditiert worden war. Rückblickend meint Pfenninger, heute ordentliche Professorin an der Universität Zürich, sie sei als junge Frau ohne unbefristete Stelle an einer Hochschule ein leichtes Opfer und eine perfekte Zielscheibe gewesen.12
Und es gab, wenn man sie hören respektive lesen wollte, weitere kritische Stimmen aus der Wissenschaft – ganz abgesehen von den zahlreichen Studien13, die schon vor der Festlegung des früheren Fremdsprachenunterrichts gegen dieses Ansinnen gesprochen hatten. Der Mehrsprachigkeitsforscher Raphael Berthele von der Universität Fribourg plädierte, durchaus selbstkritisch, in einem Aufsehen erregenden Aufsatz14 für strengere Massstäbe bei der Auswertung von Forschungsergebnissen und der Abgabe von Empfehlungen an die Politik im Bereich Fremdsprachenunterricht.
Berthele warnte vor «Pseudowissenschaft» und dem Zurechtbiegen von Studien, damit sie den eigenen Überzeugungen entsprächen, um daraus vage Theorien als fundierte Wahrheiten zu präsentieren. Die Rede ist zudem von nachträglichen Abänderungen von Hypothesen, der Vermischung von Korrelationen und Kausalitäten, dem Verschweigen von Zweitstudien mit anderen Ergebnissen und unzulässigen Übertragungen von Wirkungen bei erwachsenen Studierenden auf Kinder. Viel deutlicher kann eine Kritik an der eigenen Zunft eigentlich nicht ausfallen.
Mehrsprachigkeitsforscher Raphael Berthele wirft der eigenen Zunft Pseudowissenschaft und grobe Mängel vor.
Fernab jeglicher Selbstkritik bewegen sich jedoch weiterhin jene Kräfte, welche die Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts seinerzeit vehement gepusht hatten, namentlich Exponentinnen und Exponenten der PHs, deren Studien in Bertheles Aufsatz teilweise explizit kritisiert wurden. Ihr unlängst publiziertes Synthesepapier ist ein Appell an die Politik, sich nicht vom eingeschlagenen Kurs abbringen zu lassen: «Vor diesem Hintergrund lautet die klare Empfehlung der Unterzeichnenden, das bestehende System beizubehalten, weiterzuentwickeln und zu optimieren.»15 EDK und Bundesrat lavieren derweil, hilflos und maximal unkonkret, zwischen «nationaler Kohäsion» und «Unterricht stärken».

In den Kantonen indes hat sich der Wind gedreht. Insbesondere der Französischunterricht soll wieder später beginnen. Appenzell Ausserrhoden und Zürich haben entsprechende Motionen im Kantonsparlament bereits gutgeheissen. Im Thurgau, in Schwyz und St. Gallen sind Vorstösse hängig. Zu schlecht sind die Ergebnisse der Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK). Zu viele andere Studien und Erhebungen16 kommen ebenfalls zum Schluss: So wie bis anhin, d.h. mit dieser zeitlichen Staffelung, dieser niedrigen Exposition pro Woche, dieser Didaktik und diesen Lehrmitteln, kann es nicht einfach so weitergehen.
In den Kantonen hat sich der Wind gedreht. So kann der Fremdsprachenunterricht nicht weitergehen.
Was dabei gerne missverstanden oder willentlich missinterpretiert wird: «Niemand möchte Französisch aus der Schule verbannen, an der Wichtigkeit des gegenseitigen Verständnisses wird nicht gezweifelt. Nur gibt es gute Gründe, dass ein späterer Beginn von Vorteil ist.»17
Und dann gibt es noch einen weiteren, beeindruckend grossen Elefanten im Raum: Immer weniger Studierende, die Lehrpersonen werden wollen, entscheiden sich für Französisch, und zwar auf allen Stufen. Dadurch wird es permanent schwieriger werden, qualifizierte Unterrichtende für das Französisch zu finden.
Die Fragen, welche die Leserinnen und Leser – sofern sie sich ein Urteil zutrauen – im Kontext der Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts für sich beantworten können, lauten: Hat es sich für den Kanton Basel-Landschaft respektive die Schülerinnen und Schüler gelohnt, im Zuge von HarmoS und «Passepartout» den Beginn des Französisch- und Englischunterrichts früher einsetzen zu lassen? Und: Beherrschen die Jugendlichen am Ende ihrer Volksschulzeit seit dieser Umstellung die Fremdsprachen besser als davor?
Die heutige Situation betreffend Sonderpädagogik und Integration
Die integrative Schule steht in mehreren Kantonen unter Druck. Besonders betroffen sind die Kantone Bern, Zürich, Aargau, Luzern, Basel-Stadt, Schwyz und Thurgau, wo ein starker Trend zu mehr separierten Sonderschulklassen beziehungsweise einer Platzierung von Sonderschülern und -schülerinnen in Privatschulen feststellbar ist.
Im Kanton Bern wurden im vergangenen Schuljahr 50 neue Sonderschulklassen eröffnet. Im Kanton Zürich wurden im gleichen Zeitraum fast 800 Sonderschüler und -schülerinnen in Privatschulen platziert, weil die integrativ-öffentlichen Kapazitäten nicht ausreichen. Der wachsende Anteil an Kindern und Jugendlichen, die nicht mehr im integrativ-öffentlichen Rahmen unterrichtet werden können, wird auf Faktoren wie Ressourcenmangel, Personalknappheit (fehlende Heilpädagoginnen und -pädagogen), Überlastung der Lehrpersonen oder komplexere Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zurückgeführt.
Um auch dies noch einmal ganz klar zu betonen: Niemals hat der LVB den grundlegend integrativen Charakter der Volksschule in Frage gestellt oder abgelehnt. Faktisch erbringt die öffentliche Schule permanent eine gewaltige Integrationsleistung. Heterogenität in Schulklassen ist selbstverständlich. Aber: Durch die Konzeption der vorzugsweisen integrativen Schulung («alle zusammen im gleichen Klassenzimmer») wurde die Heterogenität noch einmal deutlich erhöht, und dies im Wissen, dass es an Personal fehlen würde. Vor einem sich dadurch verschärfenden Lehrpersonenmangel hatte der LVB schon vor der Abstimmung 2010 gewarnt.
Die öffentliche Schule erbringt permanent eine gewaltige Integrationsleistung.
Zudem deutet alles darauf hin, dass immer mehr Kinder zuhause nicht die erforderliche «Basis-Sozialisation» erfahren und es immer mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt. Regelklassen können das nicht alles auffangen. In Beratungsgesprächen des LVB kommen oft Erschöpfung, Resignation und Verzweiflung zum Ausdruck. Lehrpersonen drohen unter der Last schwieriger Klassenkonstellationen, unkooperativer Erziehungsberechtigter sowie aufwändiger Absprachen inklusive Berichterstattung und Dokumentation zusammenzubrechen – oder verlassen den Beruf.
Speziell die stark verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schüler stellen für Lehrpersonen einen enormen Belastungsfaktor dar.
Als der LVB Ende 2022 unter seinen Mitgliedern die verschiedenen Belastungsfaktoren im Beruf erhob, zeigte sich folgendes Bild: «Für 82.4 % der Lehrpersonen der Primarstufe respektive 72.3 % der Sekundarschulen sind stark verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ein Belastungsfaktor. Auch 70.6 % der Heilpädagoginnen und -pädagogen erleben das gleich.»18
Der LVB kam in der Auswertung dieser Mitgliederbefragung zum Schluss, dass mit der integrativen Schule in der bestehenden Form kaum jemand der Befragten zufrieden sei und leitete diese Forderungen ab: «1. Es sind mehr separative Angebote zu schaffen für verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht massiv stören bis lahmlegen. 2. Die Schwellen, damit Lehrpersonen erfolglose Integrationen abbrechen können, müssen so niedrig ausgestaltet sein, dass der Leidensdruck auf die Beteiligten nicht schädigende Ausmasse annehmen kann […]. 3. Absprachen zum Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern sind auf das Notwendige zu reduzieren und Lernberichte zu straffen.»19
In der Berufszufriedenheitsstudie unseres Dachverbandes LCH im Jahr 2024 stuften die teilnehmenden LVB-Mitglieder fast alle Aspekte der integrativen Förderung als ungenügend ein und bestätigten so die zwei Jahre davor durchgeführte kantonale Erhebung. Der LVB hielt fest: «Der Leidensdruck und der daraus abzuleitende Handlungsbedarf sind unübersehbar.»20
Die Fragen, welche die Leserinnen und Leser – sofern sie sich ein Urteil zutrauen – im Kontext der vorzugsweise integrativen Beschulung für sich beantworten können, lauten: Fällt die Bilanz dieses Systemwechsels aus den verschiedenen Perspektiven aller Schulbeteiligten (Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse, Regel- und Förderlehrpersonen) positiv oder negativ aus? Und: Hat sich die Behauptung der Pro-Seite bewahrheitet, wonach im integrativen Setting die soziale Kompetenz aller Kinder steige?
Aussagen von Sabine Bucher und Markus Eigenmann
Nach dem ersten Wahlgang um die Nachfolge von Bildungsdirektorin Monica Gschwind lagen mit Sabine Bucher und Markus Eigenmann noch zwei Kandidierende im Rennen, die kumuliert vom gesamten politischen Spektrum unterstützt wurden: Sabine Bucher primär von linker Seite bis zu ihrer GLP, Markus Eigenmann (FDP) hauptsächlich vom bürgerlichen Block. Was beide (!) Kandidierende im Wahlkampf hinsichtlich Fremdsprachenkonzept und integrative Schule äusserten, wäre vor 15 Jahren wohl noch unsagbar gewesen. Ihren Aussagen folgte kein Aufschrei, weder von links noch von rechts. Und ja, so manches erinnerte sehr stark an klassische LVB-Argumente.
Sowohl Sabine Bucher als auch Markus Eigenmann vertraten im Wahlkampf Positionen mit klassischen LVB-Argumenten.
Sabine Bucher: «Ich bin für die Abschaffung von Frühfranzösisch, damit auf der Primarstufe vertieft Deutsch unterrichtet werden kann und so alle Fächer in der Sekundarschule leichter fallen (insbesondere durch besseres Leseverständnis). Dann bleibt in der Sekundarschule mehr Zeit für intensiven Französischunterricht. Dadurch werden alle Fächer – auch Französisch – gestärkt.»21
Markus Eigenmann: «Unterdessen ist klar, dass die Ziele des Sprachenkonzepts insbesondere im Fach Französisch nicht erreicht werden – die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler am Ende der Volksschule sind nicht gut genug. Es ist somit klar, dass es Änderungen braucht. Ob das eine komplette Abschaffung des Französischunterrichts auf der Primarstufe oder ein späterer Beginn mit mehr Wochenlektionen sein wird, ist für mich noch offen.»22
Sabine Bucher: «Reformen wie die integrative Schule […] waren gut gemeint, haben aber in der Praxis zusätzliche Belastungen gebracht, ohne dass die Resultate messbar besser geworden wären. […] Den Grundgedanken der integrativen Schule finde ich wichtig: Es soll nicht ausgegrenzt werden. So wie ich es heute erlebe, geschieht aber genau das teilweise sehr direkt und einzelne Kinder leiden darunter. Auch die Überforderung der einen und Unterforderung der anderen sind schwer aufzufangen.»23
Markus Eigenmann: «Ich kann damit leben, dass nach Möglichkeit integrativ gearbeitet wird, aber nur so weit, wie dies pädagogisch, sozial und auch ökonomisch Sinn macht. In einigen Fällen ist eine separative Beschulung einerseits für das betreffende Kind, andererseits aber auch für die übrigen Kinder in der Klasse sinnvoller. […] Dort, wo die integrative Beschulung derart viel Unruhe in die Klasse bringt, dass die übrigen Schülerinnen und Schüler dem Unterricht nicht mehr aufmerksam folgen können oder der Unterrichtsablauf stark gestört wird, sollen auch separative Lernformen zur Anwendung kommen können.»24
Goethes Faust im Shitstorm
Halten wir fest: Im Jahr 2025 kann man im Kanton Basel-Landschaft als Regierungsratskandidat oder -kandidatin seine Vorbehalte oder Bedenken gegenüber den Frühfremdsprachen und der vorzugsweisen integrativen Schulung zum Ausdruck bringen, ohne deswegen einen Aufruhr zu erregen oder gar Gefahr zu laufen, die eigenen Wahlchancen zu schmälern – wohl eher im Gegenteil. Das ist ein gutes Zeichen.
Im Jahr 2010 hatte eine breite Allianz aus Politik, Verwaltung, Forschung, anderen Verbänden und vielen Medien die Position vertreten und verbreitet, dass, wer halbwegs bei Trost sei, gar nichts gegen die Konkordate HarmoS und Sonderpädagogik vorbringen könne. Der LVB aber hegte begründete Zweifel, formulierte diese und fällte in Gestalt der Nein-Parole einen konsequenten Entscheid. Wie Goethes Faust hatte die LVB-Spitze die Botschaft wohl gehört, allein ihr fehlte der Glaube.
Für dieses vollkommen legitime Vorgehen wurde der LVB in einem Ausmass abgestraft und schlechtgemacht, das für mich bis heute schwer nachvollziehbar bleibt. 2011 wurde das Wort «Shitstorm» übrigens zum «Anglizismus des Jahres» im deutschen Sprachraum gewählt. Vielleicht hatte die zuständige Jury ja ins Baselbiet geschielt vor ihrem Entscheid.
Das Wichtigste in Kürze
Vor 15 Jahren wurde im Kanton Basel-Landschaft über die Beitritte zu den Konkordaten «HarmoS» (inklusive Frühfremdsprachen) und «Sonderpädagogik» (vorzugsweise integrative Schulung) sowie eine Harmonisierung im Bildungsraum Nordwestschweiz (NWCH) abgestimmt.
Der LVB sagte Ja zur Harmonisierung im Bildungsraum NWCH, gab aber die Nein-Parole zu den beiden Konkordaten aus. Dies sorgte für grosses Aufsehen. Eine breite Allianz aus Politik, Verwaltung, Forschung, Medien und anderen Verbänden betrachtete ein Ja als einzig vertretbare Haltung.
Die Baselbieter Stimmbevölkerung nahm am 26. September 2010 alle drei Vorlagen an, am deutlichsten die Harmonisierung im Bildungsraum NWCH, die auch der LVB bejaht hatte.
Eine Austrittswelle erfasste den LVB. Mitglieder der Geschäftsleitung wurden teilweise massiv angefeindet. Innerhalb kurzer Zeit kam es zu einem umfassenden personellen Umbruch.
Wie es sich zeigt, hat sich der Wind seither gedreht. Der (sehr) frühe Beginn des Fremdsprachenunterrichts steht unter grossem politischen Druck. Die zum Ziel gesetzte Harmonisierung wurde, wenn überhaupt, nur teilweise erreicht. Die integrative Schulung leidet dauerhaft unter Mangel an qualifiziertem Personal und stellt einen grossen Belastungsfaktor für viele Lehrpersonen dar.
Die beiden Kandidierenden des zweiten Wahlgangs zur Nachfolge von Bildungsdirektorin Monica Gschwind, namentlich Sabine Bucher und Markus Eigenmann, vertraten im Wahlkampf zu den genannten Themen Positionen, die stark an die Argumentarien des LVB von 2010 erinnerten.
1 Roger von Wartburg: «Der Neue hat das Wort», lvb inform 2010/11-02
2 Kanton Basel-Landschaft: Abstimmungsvorlagen 26. September 2010, S. 24-26
3 Kanton Basel-Landschaft: Abstimmungsvorlagen 26. September 2010, S. 43-44
4 Kanton Basel-Landschaft: Abstimmungsvorlagen 26. September 2010, S. 43
5,6,8 Bea Fünfschilling: Hauptargumente für ein Nein zu den Konkordaten «HarmoS» und «Sonderpädagogik», lvb inform 2010/11-01
7 Myrtha Michot: Protokoll DV/MV 2.2009/2010, lvb inform 2010/11-01
9 Roger von Wartburg: LVB-Basis lehnt Volksschule ohne Selektion ab – Mitgliederbefragung zeitigt deutliche Ergebnisse, lvb inform 2024/25-04
10 Thomas Dähler: Wie die Baselbieter Lehrer die Professoren vorführten, Basler Zeitung, 26. September 2014
11 Simone E. Pfenninger und David Singleton: Beyond Age Effects in Instructional L2 Learning. Revisiting the Age Factor. Bristol: Multilingual Matters, 2017
12 Anja Burri: «Ich war die perfekte Zielscheibe»: Als Simone Pfenninger das Frühfranzösisch infrage stellte, Tages-Anzeiger, 9. Oktober 2025
13 vgl. hierzu etwa die umfassende Zusammenstellung in: Urs Kalberer: Früher Fremdsprachenunterricht – Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema, lvb inform 2022/23-03
14 Raphael Berthele: Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience, in: Journal of the European Second Language Association, 3 (2019)
15 Mirjam Egli Cuenat, Wilfrid Kuster, Sylvia Nadig, Kristel Ross, Vincenzo Todisco: Sprachenunterricht: zwei Fremdsprachen ab der Primarstufe, 27.03.2025
16 u.a. Susanne Zbinden: Leseverstehen mit altem und neuem Lehrmittel im Vergleich. Eine empirische Studie über das Verstehen von französischen Texten auf der Sekundarstufe I. Universität Freiburg (CH), 2017; Eva Wiedenkeller und Peter Lenz: Schlussbericht zum
Projekt «Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen», 2019; Christian Henzi: Clin d’oeil – Ein Lehrmittel in der Kritik, Eine umfassende Analyse des Französisch-Lehrmittels auf Sekundarstufe I, Masterarbeit an der PH FHNW, 2021
17 Sebastian Briellmann: Frühfranzösisch funktioniert nicht. Doch die Politik ignoriert die Realität – zum Schaden der Schüler, NZZ, 6. November 2025
18,19 Roger von Wartburg: Die LVB-Mitgliederbefragung «Belastungsfaktoren im Lehrberuf», lvb inform 2022/23-02
20 Roger von Wartburg: Gutes Zeugnis für den LVB – Die LCH-Berufszufriedenheitsstudie 2024, lvb inform 2024/25-02
21,22 Keystone-SDA: Die Schulpolitik aus Sicht der drei Baselbieter Kandidierenden, www.swissinfo.ch [abgerufen am 14. November 2025]
23 Starke Schule beider Basel: Interview mit Regierungsratskandidatin Sabine Bucher, www.starke-schule-beider-basel.ch [abgerufen am 14. November 2025]
24 Starke Schule beider Basel: Interview mit Regierungsratskandidat Markus Eigenmann, www.starke-schule-beider-basel.ch [abgerufen am 14. November 2025]


Ich erinnere mich noch gut an dieses AKK-Podium von damals mit Eric Nussbaumer und habe mich aus dem Publikum heraus als entschiedener Verfechter von 6/3 einbringen können. Die Antwort von Nussbaumer auf meine Positionierung war: Er habe seinen Weg mit 6/3 ja auch gemacht. Wie doof…
Hätte man damals in den 90igern ein Gremium mit dem Auftrag versehen, die Volksschule zu zerstören – genau so hätte es laufen müssen.