27. Dezember 2024
Was ist Bildung?

Von der Banalisierung der Bildung

Für die Vierteljahres-Publikation der Ehemaligen der Kantonalen Mittelschule Nidwalden, den «STANSER STUDENT», hat sich Carl Bossard Gedanken zur Bildung im Mainstream der «Kompetenzorientierung» gemacht. Wir drucken die Kolumne und das bildungspolitische Postskriptum unseres Condorcet-Mitarbeiters ab.

Liegt die Zukunft der Bildung in ihrer Vergangenheit? Wer über Bildung spricht, der blickt zurück – auf vorhandene Bestände, auf philosophische Werke, auf den humanistischen Bildungsbegriff. 1999 noch erzielte Dietrich Schwanitz mit seinem verwegenen Vademecum «Bildung – alles, was man wissen muss» einen Verkaufsschlager. Doch er publizierte auf der Schnittlinie eines Umbruchs.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte: Das enge Könnens-Korsett wird zum Problem

Der Wissens- und Informationsgesellschaft droht die Bildung abhandenzukommen. Bildung hat es heute schwer. Gefragt sind Kompetenzen, beruflich kalkulierbar, finanziell verwertbar. Die Idee der betriebswirtschaftlichen Effizienz hat die Idee der Bildung verdrängt. Das Kalkül der Nützlichkeit! Hochkonjunktur hat darum das Wort «Kompetenzorientierung» – zuerst in der Volksschule, nun auch am Gymnasium.

Gegen Kompetenzen kann niemand etwas einwenden: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen – ein Postulat, das gar nicht veralten kann. Doch wenn sich Bildung auf die Vokabel «können» reduziert, regt sich Skepsis. Rund 3’500-mal taucht das Wort Im Lehrplan 21 auf – und mit ihm lauter kleinparzellierte Einzelkompetenzen. Anwendbare, kontrollierbare. Das Fach Musik beispielsweise verlangt von einem Kind: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.» Jede einzelne Kompetenz ist zusätzlich in drei unterschiedliche Stufen aufgeteilt.

Das enge Könnens-Korsett wird zum Problem. Es reduziert das Rätselwesen Mensch – diese unergründliche Seele, von der Heraklit sprach – auf den Kompetenzbegriff, beschneidet ihn aufs Können und die Überprüfbarkeit dieses Könnens. Der Mensch erscheint im Wesentlichen als ein Behälter sicherer Kompetenzen. So wird Bildung instrumentalisiert und funktionalisiert. Doch Wissen nur aufs Können, aufs Instrumentale oder Funktionale, zurückzuführen, wirkt banausisch.

Bildung ist stets auch das Gegenteil: leidenschaftliche Hingabe, Staunen, Neugier.

Bildung kann nicht allein das sein, was ich kompetenzmässig beherrsche. Bildung ist stets auch das Gegenteil: leidenschaftliche Hingabe, Staunen, Neugier. Das Ich besteht auch in der Kunst, sich zu verlieren an etwas anderes – an etwas, das grösser ist als dieses winzige Ich, an die Kunst, an Musik, ans Universum beispielweise. An sich völlig unbrauchbar, aber voller Inspiration. Sollen wir nun von unseren kosmologischen Kompetenzen reden? Bitte nicht! Kompetenz zeigt sich nicht nur in dem, was ich kann und weiss, sondern auch in dem, was ich bin. Bildung als humane Kultivierung seiner selbst – um es mit Humboldt zu sagen – lässt sich nicht standardisieren und nicht in Kompetenzen fassen. Wer das versucht, banalisiert Bildung.

Bereits die Antike wusste: Wissen meint ein Erkennen, Verstehen, Begreifen. Ob Wissen nützen kann, ist nie eine Frage des Wissens selbst, sondern der Situation, in die man gerät.

Ein bildungspolitischer Imperativ als Postskriptum

 Humboldt oder McKinsey? Das fragt sich, wer in die pädagogische Provinz schaut und die Bildungslandschaft betrachtet. Bildung ist die entscheidende Ressource für ein rohstoffarme (Binnen-)Land. Kaum ein Satz bleibt so unwidersprochen wie dieser. Allerdings ist Bildung heute – so scheint es – primär relevant als ökonomischer Faktor und Kennzahl des Humankapitals – unter den Parametern des Gewinns. Ganz gemäss der griechischen Anekdote: Der Schüler Stobaios studiert beim Mathematiker Euklid Geometrie. Als er den ersten Lehrsatz gelernt hat, fragt er seinen Lehrer: «Welchen Gewinn habe ich nun davon, wenn ich all das lerne und all das weiss?» Da ruft Euklid seinen Diener und sagt: «Gib ihm drei Drachmen! Er muss Gewinn schlagen aus dem, was er lernt.»

Peter Bieri, Schriftsteller und Philosoph: Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen.

Bereits die Antike wusste: Wissen meint ein Erkennen, Verstehen, Begreifen. Ob Wissen nützen kann, ist nie eine Frage des Wissens selbst, sondern der Situation, in die man gerät. 2‘500 Jahre sind seither vergangen. Stobaios lebt weiter, und seine Devise, von Euklid kritisiert, ist aktueller denn je: Wissen am möglichen Geldwert bemessen und orientiert am Gedanken des Pragmatismus mit der Frage: Was nützt mir Bildung?

Der Philosoph und Romancier Peter Bieri bringt es auf den Punkt: «Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.» Bildung als Kultivierung seiner selbst: McKinsey braucht Humboldt. Ein notwendiges Korrektiv, ein ethischer Imperativ! Und einer ohne Verfallsdatum!

Carl Bossard, Rektor Kollegi Stans/Kantonale Mittelschule Nidwalden (1988-1996), in: STANSER STUDENT. Zeitschrift der Ehemaligen der kantonalen Mittelschule/Gymnasium Nidwalden. Dez. 2024, S. 34-35.

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