21. Dezember 2024

Dauerbrenner Integration: Vergleich der Bildungschancen

Condorcet-Autor Urs Kalberer hat das Buch von Riccardo Bonfranchi, Renate Dünki und Eliane Perret «Integration – Separation – Kooperation» gelesen und stellt es in seinem Beitrag in einen grösseren aktuellen Zusammenhang.

Condorcet-Autor Urs Kalberer: Kooperation statt Integration!

Eine NZZ-Wahlumfrage zur Thematik der Wiedereinführung von Kleinklassen im Kanton Zürich zeigt, dass sich zwei Drittel der Bevölkerung vom Prinzip der integrativen Förderung abwenden wollen. Davon unbeeindruckt ist die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner, die am eingeschlagenen Weg festhalten will. Im Kanton Basel-Stadt ist ausserdem eine Initiative zustande gekommen, die eine Stärkung der sonderpädagogischen Angebote – und damit einer vermehrten Förderung in kleinen Lerngruppen – erreichen will. Obwohl das Thema der schulischen Integration seit Jahren vielen Eltern und Lehrkräften unter den Nägeln brennt, fehlte bisher ein vertiefter Vergleich der Bildungschancen von Kindern mit Behinderungen in verschieden betreuten Settings. Diese Lücke füllt nun ein kürzlich erschienenes Buch.

Es braucht eine enge Zusammenarbeit im Betreuungsteam, viel zeitliche Ressourcen und Beharrlichkeit.

Die Autoren des Buches sind bereits mit einer Publikation zur gleichen Thematik («Heilpädagogik im Dialog», 2021) hervorgetreten. Sie stellen im vorliegenden Werk das integrative Modell dem Unterricht in einer spezialisierten heilpädagogischen Bildungseinrichtung gegenüber. In zehn Kapiteln werden die Möglichkeiten der integrierten und der separierten Betreuung verglichen. Dies geschieht an praktischen Fallbeispielen, welche zeigen, was eine entsprechend geführte Sonderschule im Vergleich zu einer integrierten Grundschulklasse leisten und erreichen kann.

Erwartungen nicht erfüllt

Obwohl sich in der Schweiz die Integrierte Förderung und die Integrierte Sonderschulung im Rahmen der Regelklasse weitgehend etabliert haben, muss man feststellen, dass viele dieser Integrationsprojekte von Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung abgebrochen werden. Die Kinder sitzen zwar im Klassenzimmer, können dem Unterricht trotz Unterstützung aber nicht folgen. Ein aktives Mitlernen und echtes Partizipieren im Unterricht erfolgt nicht. Diese Kinder stehen folglich am Rand der Klassengemeinschaft und leiden, trotz wohlgemeinter Bemühungen der Lehrerschaft, unter mehr oder weniger offen gezeigter Ablehnung. Oft werden sie daher aus der Klasse genommen und separat betreut. Diese Pseudo-Integration ist weit entfernt von einer wirklichen Integration und geschieht mit stillschweigendem Einverständnis der Schulleitung.

Markante Unterschiede

Die Betreuung innerhalb einer speziellen heilpädagogischen Einrichtung unterscheidet sich davon in vielen Punkten deutlich und kann dank zahlenmässig kleineren Lerngruppen viel gezielter auf die individuellen Bedürfnisse eingehen. Das Buch zeigt, wie komplex die Herausforderungen sind, die sich in der Praxis stellen. Zur Lösung derselben braucht es eine enge Zusammenarbeit im Betreuungsteam, viel zeitliche Ressourcen und Beharrlichkeit. Die notwendigen Voraussetzungen dafür sind in einem Integrationsmodell nicht gegeben.

Übersetzungsfehler

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung aus dem Jahr 2006 bildet die grundlegende Weichenstellung zur Einführung des integrativen Schulmodells in der Schweiz. Sie fordert den gleichberechtigten Zugang aller Kinder zu einem öffentlichen Bildungsangebot. Das in Englisch verfasste Dokument spricht davon, dass niemand vom unentgeltlichen obligatorischen Grundstufenunterricht ausgeschlossen werden dürfe («… excluded from free and compulsory primary education»). Der Begriff «compulsory primary education» schliesst alle Schuleinheiten der Grundstufe mit ein, also auch die bisherigen Kleinklassen. Fälschlicherweise wurde «compulsory primary education» aber als «Primarschul-Regelklassenunterricht» verstanden. Der Systemwechsel basiert also möglicherweise auf einem simplen Übersetzungsfehler.

Mit einer vermehrten Kooperation zwischen Kindern mit unterschiedlichen Ausgangspositionen könnte mindestens eine Verbindung zwischen der Regelschule und der heilpädagogischen Sonderschule erreicht werden.

Das Buch schliesst mit einer Aufzählung von Fragen rund um den Themenkreis des Umgangs mit behinderten Kindern. So wird vor einer Bagatellisierung von Behinderung gewarnt und gefragt, ob mehr Lohn die Lücken am Arbeitsmarkt schliessen könne. Mit einer vermehrten Kooperation zwischen Kindern mit unterschiedlichen Ausgangspositionen könnte mindestens eine Verbindung zwischen der Regelschule und der heilpädagogischen Sonderschule erreicht werden. Die Lösung soll also heissen: Kooperation statt Integration!

Mit Gewinn liest sich das Buch nicht nur für Eltern und Lehrpersonen aller Stufen, sondern es kann für Heilpädagoginnen auch eine Inspiration sein und den Blick öffnen für Methoden, wie sie im Primarschulsetting nicht möglich sind.

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  • Via: Integration – Separation – Kooperation, Ein heilpädagogischer Blick auf Bildungschancen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen von Riccardo Bonfranchi, Renate Dünki, Eliane Perret (Athena, 2022, 102 Seiten)
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Ein Kommentar

  1. Bevor ich an einen Übersetzungsfehler glaube, kommen Osterhase und Weihnachtsmann. Wahrscheinlicher ist, dass unsere Bildungswissenschaftler die Gelegenheit beim Schopf ergriffen haben, das zu tun, was sie seit 30 Jahren (und verstärkt seit PISA) tun: Unser Bildungssystem zerschlagen, wo immer es geht. Die Presse fasst diese Parasiten leider seit ebenso vielen Jahren mit Samthandschuhen an, und sie sind die ersten, die gefragt werden, was man machen soll, wenn das jeweils letzte ihrer großartigen Projekte gegen die Wand gefahren ist. Warum setzt man die Namen der Leute, die diesen und ähnlichen Unsinn durchgesetzt haben, nicht unter jeden Artikel, in dem beschrieben wird, was alles nicht so funktioniert, wie sich das die Elfenbeinturmler ausgedacht haben?

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