WELT: Herr El-Mafaalani, Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) hat Obergrenzen für migrantische Kinder in Schulklassen ins Gespräch gebracht, denkbar sei etwa eine Quote von 30 oder 40 Prozent. Sie haben das als “Wünsch-dir-was-Diskussion“ bezeichnet. Warum?
El-Mafaalani: Weil bundesweit bereits jetzt durchschnittlich über 40 Prozent aller Kinder einen Migrationshintergrund haben. Eine solche Quote wäre also schon allein rechnerisch nicht erreichbar. Wenn man sie bei 50 Prozent ansetzen würde, wäre das bundesweit rein rechnerisch zwar möglich, aber in vielen Städten ginge auch das nicht. Denn auch in Stuttgart, Köln, Frankfurt oder Hamburg haben wesentlich mehr als 50 Prozent aller Kinder diesen Migrationshintergrund.

Und selbst in Städten wie Regensburg oder Münster, wo man eine 50-Prozent-Quote rein rechnerisch umsetzen könnte, müssten wirklich viele Kinder von einem Stadtteil in den anderen fahren. Und zwar sowohl Kinder ohne Migrationshintergrund als auch Kinder mit Migrationshintergrund. Viele Kinder könnten nicht mehr wohnortnah beschult werden, viele Eltern hätten kaum noch Einfluss darauf, welche Schule ihre Kinder besuchen.
Das wäre ein logistisches Unternehmen der Sonderklasse und wahrscheinlich die aufwendigste bildungspolitische Maßnahme, die jemals gemacht wurde. Ich befürchte, dass die Wirkung wesentlich geringer wäre als der Aufwand, den man dafür betreiben müsste. Für mich klingt das alles so, als würden jemand in einer wirtschaftspolitischen Debatte vorschlagen: Uns fehlt das Geld? Drucken wir doch welches! Und alle würden dann ernsthaft darüber reden. Auf dem Niveau möchte ich nicht weiter diskutieren.
WELT: Trotzdem: “Wünsch dir was“ beinhaltet ja letztlich dennoch die Aussage, dass es theoretisch wünschenswert wäre, den Anteil migrantischer Kinder pro Klasse zu begrenzen, oder?
El-Mafaalani: Tatsächlich gibt es an vielen Orten eine Konzentration von Herausforderungen und Problemlagen. Allerdings sind sie mit dem Kriterium Migrationshintergrund nicht adäquat beschrieben. Wir haben beispielsweise in München einen höheren Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund als in Berlin. Dennoch sind die Probleme dort geringer. Die größte Herausforderung sind die sozialen Problemlagen und der regional sehr unterschiedliche Zustand des Schulsystems.
WELT: Hätte Frau Prien recht, wenn es eher um eine Obergrenze für in erster Generation eingewanderte Kinder ginge?
El-Mafaalani: Auch dann würde ich nicht von einer Quote sprechen. Eher muss es um eine strategische Planung gehen, die Kinder, die wirklich neu zugewandert sind und dementsprechend noch gar keine Deutsch-Kenntnisse haben, sinnvoll auf die Schulen zu verteilen. Aber selbst das ist eine Herausforderung, weil die Kompetenzen und Erfahrungen im Umgang mit neu zugewanderten Kindern nicht in allen Schulen gleich verteilt sind. Häufig haben bestimmte Schulen durch ihre jahrzehntelange Erfahrung eine besondere Expertise. Auch hier würde eine Quote also nicht unbedingt etwas lösen. Zudem müsste eine solche Verteilung dann auch mit Investitionen und Förderprogrammen einhergehen.
WELT: “Migrationshintergrund“ ist inzwischen ohnehin ein sehr unscharfer Begriff, es ist ein großer Unterschied, ob Kinder selbst eingewandert sind oder in zweiter oder dritter Generation hier leben. Wie unterschieden sich die unterschiedlichen Gruppen im Bildungserfolg?
El-Mafaalani: Hier muss man tatsächlich stark differenzieren. Kinder, die selbst eingewandert sind, haben tatsächlich deutlich messbare Nachteile – vor allem, wenn sie erst als Jugendliche kommen.
Bei der zweiten Generation braucht man schon statistische Expertise, um noch einen Unterschied zu messen – natürlich nur, wenn alle anderen Problemfaktoren herausrechnet werden. Diese Kinder haben bei der Einschulung vielleicht noch Probleme, wenn die Eltern zu Hause kein Deutsch sprechen. Vielleicht auch in der fünften Klasse noch. Am Ende der Schullaufbahn aber kann man kaum noch Unterschiede messen. Der Migrationshintergrund als eigenständiger Faktor ist in der zweiten Generation also nur noch schwach messbar.
Das zeigt also, dass selbst in unserem Schulsystem, in dem sehr viel nicht gut läuft, die Lage ab der zweiten Einwanderer-Generation für alle gleich ungünstig ist.
In der dritten Generation kann man dann gar keinen statistischen Unterschied mehr messen, wie das Nationale Bildungspanel zeigt. Und das ist ein spannender Befund. Das zeigt also, dass selbst in unserem Schulsystem, in dem sehr viel nicht gut läuft, die Lage ab der zweiten Generation für alle gleich ungünstig ist.
WELT: Wenn die Herkunft an sich also eine eher untergeordnete Rolle für den Bildungserfolg spielt – Was sind denn dann die wesentlichen Faktoren für den Schulerfolg?
El-Mafaalani: Das sind tatsächlich die ökonomischen Rahmenbedingungen, das Bildungsniveau der Eltern und die Möglichkeiten der Förderung. Wenn wir Kinder aus prekären Lebenslagen mit niedrigem Bildungsniveau im Elternhaus vergleichen, die einen mit, die anderen ohne Migrationshintergrund, dann haben beide gleichermaßen schlechte Bildungschancen. Der soziale Faktor ist also viel wichtiger.
Das kann man auch bei den in erster Generation eingewanderten Kindern sehen. Wenn die Eltern ein hohes Bildungsniveau haben, haben diese Kinder deutlich weniger Nachteile. Mit einem hohen Bildungsniveau der Zugewanderten kann man also sogar den Erste-Generation-Effekt abschwächen. Selbst wenn die Kinder zu Hause nicht in der deutschen, sondern in ihrer Muttersprache gefördert werden. Familien sind intergenerationale solidarische Gemeinschaften, in denen Emotionalität und Bindung eine Rolle spielen. Da muss man eine Sprache sprechen, in der man soziale Nähe und Emotionen auch ausdrücken kann.
WELT: Sie forschen konkret zu “Superdiversität“ in Institutionen der Kindheit und Jugend. Der Begriff beschreibt eine extreme Vielfalt von Gesellschaften etwa infolge von Migration. Wie kann Bildungserfolg in dieser superdiversen Gesellschaft gesichert werden?
El-Mafaalani: Das Spannende bei Superdiversität ist, dass die Amtssprache Deutsch eigentlich gestärkt wird. Anders als bei der Migration des letzten Jahrhunderts, die sich auf wenige Herkunftsländer beschränkte, haben wir jetzt deutlich mehr Herkunftssprachen. Es ist kein Einzelfall, wenn an einer Grundschule Kinder aus 50 Nationen vertreten sind. In vielen Klassen gibt es für jede Herkunftssprache nur zwei, drei Sprecher. Das bedeutet, dass Deutsch eigentlich die einzige Sprache ist, in der sich die Kinder unterhalten können. Und in den Fallbeispielen, die wir betrachtet haben, ist Deutsch auch die Sprache, in der sie am liebsten kommunizieren.

Für den Umgang der Kinder untereinander ist Superdiversität daher kein Problem. Aber es ist natürlich eine Herausforderung für Lehrkräfte, wenn sie in einer kleinen Schule Kinder aus mehr Ländern haben als ein durchschnittliches Unternehmen, das international agiert.
WELT: Vielen Menschen macht diese superdiverse Gesellschaft Angst. Was ist nötig, damit Vielfalt als Gewinn erlebt werden kann?
El-Mafaalani: Das ist eine gute Frage, die ich Ihnen gar nicht so genau beantworten kann, weil wir sehen, dass überall dort, wo wir superdiverse Verhältnisse haben, auch die Skepsis steigt. Es gibt viele Dinge, die in Deutschland nicht mehr funktionieren, jedenfalls weniger, als man es in der Vergangenheit gewohnt war. Die Art und Weise, wie wir Kinder versorgen und fördern, gehört sicher dazu. Bevor wir alle überreden, Superdiversität gut zu finden, sollten wir erst mal dafür sorgen, dass die Institutionen damit konstruktiv umgehen können. Es ist eine Herausforderung, die man in den Griff bekommen kann, wenn man die richtigen Diskussionen führt und die richtigen Maßnahmen ergreift.
WELT: In diesem Schuljahr haben die ersten Brennpunktschulen vom Startchancen-Programm der Bundesregierung profitiert. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass es seine Ziele erreicht?
El-Mafaalani: Das Problem ist nicht das Programm, sondern der Zeitpunkt. Vor 20 Jahren hätte ich gesagt: super. Jetzt ist alles ein bisschen spät, ein bisschen langsam und ein bisschen wenig. Das Volumen ist zu gering, als dass man wirklich hoffen kann, damit eine umfassende Trendwende hinzubekommen. Wir beobachten in jedem Bundesland sinkende Schülerkompetenzen – nicht nur bei den Kindern mit Migrationshintergrund, sondern insgesamt.
Es gibt einen ausgeprägten, dauerhaften Abwärtstrend. Für einen wirklichen Aufschwung ist das Programm zu klein. Mit zwei Milliarden Euro pro Jahr für ganz Deutschland wird man den Herausforderungen bei dem Ausgangszustand des Schulsystems nicht gerecht. Es müsste viel mehr getan werden. Wir haben so wenige Kinder wie noch nie, werden ihnen aber immer weniger gerecht.
WELT: Die Bundesregierung will die Zahl der Schüler, die am Ende der Grundschulzeit Mindeststandards nicht erreichen, binnen zehn Jahren halbieren. Ist das realistisch?
El-Mafaalani: Wenn das gelänge, hätte man wirklich unfassbar effizient Geld eingesetzt. Ich wäre schon zufrieden, überhaupt eine signifikante Wirkung zu messen.
Aladin El-Mafaalani, Jahrgang 1978, ist Soziologe, Buchautor und Inhaber des Lehrstuhls für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor war er Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück.
Sabine Menkens berichtet für WELT über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.
“Am Ende der Schullaufbahn aber kann man kaum noch Unterschiede messen. Der Migrationshintergrund als eigenständiger Faktor ist in der zweiten Generation also nur noch schwach messbar.”
Beim Bericht zu PISA 2018 (Tabelle 6.6.) und bei PISA 2022 (Tabelle 7.6) steht aber, dass es bei der zweiten Generation sehr wohl –praktisch in ganz Europa — deutliche Unterschiede zu den nicht-Migranten gibt. Und das “Ende der Schullaufbahn” kann man auch auf 15-Jährige beziehen. Bei PISA 2012 gibt es zusätzlich noch Zahlen zu den verschiedenen Herkunftsländern. Sind diese Zahlen also unzuverlässig? Warum werden dann PISA-Werte immer so wichtig genommen?
Außerdem scheint Herr El-Mafaalani vergessen zu haben, was er früher über einen Teil der jugendlichen Migranten selbst geschrieben hat (Abschnitt 5 auf S. 115 ff.):
https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=db25b34c-1fa9-18ca-8880-e6dc8e997ed6&groupId=252038
Zitat von Seite 115: “Die Kinder und Jugendlichen erleben in Familie und Peergroups Anerkennungsmodi und Regelwerke, die mit jenen der Schule nur schwer in Einklang zu bringen sind.”
Diese Probleme wird wohl kein Förderprogramm der Welt beseitigen können, weil diese Förderprogramme selbstverständlich denselben “Regelwerken” folgen werden: Bildung nach westeuropäischem Verständnis, die “Familie” und die “Peergroups” müssten das eigentlich anerkennen, statt eventuellen archaischen Traditionen zu folgen.