Fjällräven-Rucksack, Jeans oder schlabbrige Trainerhose, weisse Sneakers: Wenn es um die modischen Insignien geht, folgen Italiens Schüler denselben Trends wie ihre Altersgenossen in anderen Ländern Europas. Ihre Schulwege hingegen sind bisweilen anders – einzigartig anders.
Schüler, die zum Beispiel eine der Primarschulen in der Römer Altstadt besuchen, laufen an Monumenten vorbei, für deren Besuch Touristen aus Übersee Tausende Franken hinblättern: an der Ausgrabungsstätte auf dem Largo Argentina etwa, jenem Ort, wo Cäsar an den Iden des März des Jahres 44 vor Christus ermordet wurde; an den Überresten des Pompeius-Theaters; an Tempeln aus vorchristlicher Zeit. Selbst ausserhalb der Zentren ist die Geschichte in diesem Land präsent wie nirgendwo sonst. Das historische Erbe liegt offen da.

Da kann es nicht erstaunen, wenn die Kinder neu schon in den ersten Schuljahren an das Geschehen in der Antike herangeführt werden sollen. Der Geschichtsunterricht in der vierten und fünften Primarklasse soll ganz dem Altertum gewidmet werden, dies verlangen die neuen Leitplanken des Bildungsministers für die Unter- und Mittelstufe.
Ohne Wissen keine Kompetenzen
Sie wurden im Januar erstmals präsentiert und kürzlich in einer detaillierten und überarbeiteten Fassung publiziert. Athen und Sparta, Alexander der Grosse, der Aufstieg Roms, der Übergang von der Republik in die Kaiserzeit, Konstantin und das Christentum, Krise und Untergang und so weiter – das Papier des Bildungsministeriums enthält für die ersten fünf Schuljahre schon das volle Programm. In der Mittelstufe (sie beginnt in Italien im Alter von elf Jahren und dauert drei Jahre) geht es weiter mit einer Palette, die von Karl dem Grossen bis zum italienischen Faschismus und zu den Schmiergeldskandalen der neunziger Jahre reicht.
Die Pläne haben für lebhafte und polemische Diskussionen gesorgt. Denn die Leitplanken für den Geschichtsunterricht sind Teil der Reform, mit der die Regierung von Giorgia Meloni den Lehrplan an Italiens Schulen generell umbauen will. “Gott, Vaterland und Latein”, so haben die Medien die Ideen auf den Punkt gebracht und sie in den weiteren Zusammenhang des Kampfes der rechten Regierung gegen die angebliche kulturelle Hegemonie der Linken gestellt.
Mehr Auswendiglernen, mehr Gewicht auf Grammatik und (Hand-)Schrift, mehr Musik und Kunst, Geschichte als eigenständiges Hauptfach, Latein und Religion als Wahlfächer ab der Sekundarstufe: Was Bildungsminister Giuseppe Valditara im Winter ankündigte, tönt in der Tat nach einer konservativen Wende an den Schulen.
“Die neuen nationalen Richtlinien geben den Lehrpersonen einen klaren Bezugsrahmen für die Gestaltung des Unterrichts. Ohne Wissen können keine Kompetenzen entwickelt werden”, heisst es in den Erläuterungen des Ministeriums.
Mehr Auswendiglernen, mehr Gewicht auf Grammatik und (Hand-)Schrift, mehr Musik und Kunst, Geschichte als eigenständiges Hauptfach, Latein und Religion als Wahlfächer ab der Sekundarstufe: Was Bildungsminister Giuseppe Valditara im Winter ankündigte, tönt in der Tat nach einer konservativen Wende an den Schulen. Für das im nächsten September beginnende Schuljahr hat Valditara an diesem Montag schon einmal die Einstellung von über 6000 Religionslehrern in Aussicht gestellt – “eine Rekordzahl”, so der Bildungsminister.
Die Zeiten eines Silvio Berlusconi, der die Schüler noch mit mehr IT-Unterricht, Englisch und Wirtschaftskunde auf ein Leben in der globalisierten Wirtschaftswelt vorbereiten wollte, sind vorbei, so scheint es. Dazu passt, dass Smartphones an Italiens staatlichen Schulen seit dem letzten Jahr verboten sind.
Kritik am Eurozentrismus
Die Neuerungen im Geschichtsunterricht wurden von einer Gruppe namhafter Historiker erarbeitet. Als Koordinator fungierte Ernesto Galli della Loggia, emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Scuola Normale von Pisa, einer der wichtigsten Lehrstätten des Landes. Galli della Loggia ist ein streitbarer liberal-konservativer Historiker und tritt auch als Kolumnist im “Corriere della Sera” in Erscheinung. Nach eigenem Bekunden hat er bei der letzten Wahl nicht für die Rechte um Giorgia Meloni gestimmt.
Es ist weniger die Liste der im Geschichtsunterricht zu behandelnden Personen, Epochen und Entwicklungen, die nun für rote Köpfe sorgt. Die Lehrkräfte haben bei der Ausgestaltung des Unterrichts einen gewissen Spielraum, ausserdem handelt es sich bei den Richtlinien des Ministeriums nicht um gesetzliche Vorschriften.
Vielmehr stossen sich die Kritiker an der grundsätzlichen Stossrichtung und dem, wie sie monieren, alleinigen Fokus auf der abendländischen Geschichte.
Tatsächlich beginnt das Papier des Ministeriums, mit dem die Neuerungen begründet werden, mit dem provokativen Satz: “Nur der Westen kennt Geschichte”. Er allein genügte, um ein Trommelfeuer gegen Galli della Loggia und seine Mitstreiter zu entfachen.
“In Italien ist es äusserst selten, dass man sachlich diskutieren kann.”
Ernesto Galli della Loggia, emeritierter Professor für Zeitgeschichte
Solch eurozentrische Töne seien fehl am Platz. Es sei “absolut falsch, alle anderen Geschichten der Welt von China bis zu Arabien und Persien auszublenden”, sagte etwa der Historiker Alessandro Vanoli. Die italienische Vereinigung für Chinastudien wiederum prangerte die Rückkehr zu kolonialistischen Vorstellungen von “Völkern ohne Geschichte” an und warnte davor, kulturelle Identitäten gegeneinander auszuspielen. Und die kommunistische Zeitung “Il Manifesto” schliesslich verdächtigte das Ministerium von Valditara gar, in den Schulen “nur noch die Geschichte der Weissen” vermitteln zu wollen.
Damit war der Ton gesetzt. Relativierende Zwischentöne, welche die Richtlinien durchaus enthalten, wurden nicht mehr gehört. Und Galli della Loggia musste im “Corriere della Sera” frustriert festhalten: “In Italien ist es äusserst selten, dass man sachlich diskutieren kann.” Das Elend der intellektuellen Klasse sei weit fortgeschritten. Statt Argumente auszutauschen, gehe es darum, das Gegenüber zu verunglimpfen.
Abbild der öffentlichen Debatte
“Nur der Westen kennt die Geschichte” bedeute eben gerade nicht, dass es keine Geschichte Japans oder des Inka-Reiches gegeben habe, schrieb Galli della Loggia. Es heisse vielmehr, dass sich zunächst nur im Westen eine historische und politische Kultur herausgebildet habe, auf deren Basis gesellschaftlicher Wandel überhaupt denkbar geworden sei.
Doch darüber werde nicht gesprochen, bedauerte er. Die neuen nationalen Richtlinien würden nun Gefahr laufen, Opfer der miserablen Diskurskultur zu werden. “Die Diskussion um den Westen, die Bibel, Italien und die Schule werden zu einem reinen Vorwand, um Krieg gegen die parlamentarische Mehrheit zu führen”, so der Historiker.
Wie viel von dieser Auseinandersetzung dereinst in den Klassenzimmern der sechs- bis vierzehnjährigen Schüler ankommen wird, ist offen. Die Umsetzung ist auf den Beginn des Schuljahres 2026/2027 geplant.
Spannende Forschungsarbeiten etwa zur wenig beleuchteten kolonialen Vergangenheit des Landes gibt es durchaus, aber sie gelangen selten über die akademischen Zirkel hinaus.
Der Fokus auf europäische und italienische Geschichte entspricht im Übrigen wohl dem Zeitgeist und den Vorlieben der Mehrheit der Italiener. Spannende Forschungsarbeiten etwa zur wenig beleuchteten kolonialen Vergangenheit des Landes gibt es durchaus, aber sie gelangen selten über die akademischen Zirkel hinaus.
In die Talkshows und auf die Bestsellerlisten hingegen schaffen es Bücher über den “Duce” Benito Mussolini, wie zum Beispiel die mittlerweile auf fünf Bände angewachsene Reihe “M” von Antonio Scurati. Oder dann die leicht zugänglichen Werke von Aldo Cazzullo. Dessen grosse Erzählung über die Bibel hält sich seit Monaten unter den Top Ten.
Cazzullos vorletztes Buch behandelt die alten Römer und trägt in der italienischen Version den Titel: “Quando eravamo i padroni del mondo”, zu Deutsch: Als wir die Herren der Welt waren.
Er passt ganz gut zur aktuellen Debatte.
Unsere Schweizer Geschichte lässt sich nicht mit der grossen geschichtlichen Vergangenheit Italiens vergleichen. Wir besassen nie ein Weltreich wie die Römer und eine Kultur wie die italienische Renaissance mit ihrer künstlerischen Ausstrahlung findet man bei uns nicht. Dass die Italiener stolz auf ihre Vergangenheit sind und dieses Erbe der Jugend vermitteln wollen, kann man gut nachvollziehen. Bemerkenswert hingegen ist, dass sich das Bildungsministerium in Rom nicht scheut, Geschichte als Hauptfach an den Schulen zu deklarieren und klare inhaltliche Empfehlungen zu geben. Die Schüler sollen die Meilensteine aus der Zeit ihrer Vorfahren kennen und in den Kontext der europäischen Entwicklung einordnen können. Zu hoffen ist, dass auch die dunklen Seiten der Kolonialzeit und des Faschismus dabei aufgearbeitet werden.
Von einem unverkrampften Ja zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sind wir an unserer Volksschule meilenweit entfernt. Wir schämen uns, die politische und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Schweiz den Jugendlichen zu vermitteln. Während wir uns aus staatspolitischen Gründen zu Recht um den ungenügenden Französischunterricht sorgen, herrscht in der Politik gegenüber dem Fach Geschichte weitgehend Gleichgültigkeit. Man verlässt sich auf die wohlklingenden Kompetenzziele in einem vollgestopften Lehrplan, doch man ist ahnungslos, was an den Schulen tatsächlich vermittelt wird. Dass unsere Schulabgänger über die Meilensteine unserer neueren Geschichte noch weniger im Bild sind als bei der französischen Grammatik, wirft kaum Fragen auf.
Im Verdrängungskampf mit neuen Fächern ist der Geschichtsunterricht über die Jahre hinweg stark abgewertet worden. Mit der Einführung des Sammelfachs “Zeiten, Räume, Gesellschaften” im neuen Lehrplan ging es weiter bachab. Der Geschichtsunterricht im Rahmen eines schmal dotierten Sammelfachs hat viel von seiner Strahlkraft verloren. Jetzt sind mutige Schritte nötig, um aus dem Tief herauszukommen. Das Fach Geschichte muss seine volle Eigenständigkeit zurückerhalten und braucht einen klaren inhaltlichen Auftrag im Rahmen von mindestens zwei Wochenlektionen. Unsere Jugend hat das Recht auf einen attraktiven und gehaltvollen Geschichtsunterricht durch kompetent ausgebildete Lehrkräfte. Dass dies wirklich geschieht, ist ein staatspolitischer Auftrag ersten Ranges.