Condorcet
Lieber Alain, eine Liebesgeschichte zwischen dir und Bildung Bern wird das wohl nicht mehr?
Alain Pichard: Warum meinst du?

Fussballtechnisch zirkuliert bei uns der Tweet: Pichard gegen Bildung Bern 5 – 0!
Wie sagte schon Marc Aurel: Wenn man einen Stein in die Luft wirft, ist sein Aufstieg genauso wenig ein Erfolg, wie sein Abstieg eine Niederlage ist. Man darf solche Entscheidungen nicht überbewerten. Die Bildungsdirektion war schliesslich nicht begeistert, dass die von mir lancierten Vorstösse alle eine Mehrheit fanden. Die Verwaltung kann hier viel blockieren und hinauszögern. Und was mein Verhältnis zu Bildung Bern betrifft, so kann ich sagen, dass wir zwar kontrovers diskutieren, aber unsere Begegnungen jeweils sehr respektvoll sind und wir durchaus konstruktiv diskutieren.
Was waren das für Vorstösse?
Zunächst einmal setzten wir uns für den Erhalt der ABU-Abschlussprüfungen ein, und zwar in dem Sinn, dass diese Prüfungen fair und aussagekräftig durchgeführt werden. Dann forderten wir ein Ende der heutigen Regelung des Nachteilsausgleichs auf Gymnasialebene. Dann bekämpften wir einen Vorstoss, der die Regierung zwingen sollte zu prüfen, ob die Selektion in der Volksschule gegen das Diskriminierungsverbot verstosse, und sie aufforderte, sich für eine selektionsfreie Volksschule einzusetzen. Schliesslich wollte man meinen überwiesenen Vorstoss, der den Lohnabzug von Gymnasiallehrern, die in der Sekundarstufe 1 unterrichten, anzweifelte, abschreiben. Und zuletzt wurde eine ähnliche Motion, die ebenfalls den Lohnabzug für ehemalige Seminarabgänger abschaffen wollte, von der Bildungsdirektion positiv beantwortet.
Es ist nicht das erste Mal, dass du Forderungen durchsetzt, die Bildung Bern und die Bildungsdirektion ablehnen. Man denke nur an die Überprüfung des Frühfranzösisch!
Ja, meine Motion, das Frühfranzösisch auf seine Wirkung hin zu überprüfen, stiess auf heftige Ablehnung des gesamten Bildungsestablishment. Sie wurde überwiesen, was eine heftige und überraschende Niederlage für die Befürworter bedeutete. Aber vergiss nicht, es ist nicht nur Bildung Bern, sondern auch die fast geschlossene Linke, die gegen diese Forderungen kämpfte und zwar mit grossem Einsatz.
Es sind also die Bürgerlichen, die dir Mehrheiten bringen?
Leider. Irgendwie ist bei den Grünen und der SP der Wurm drin. In den Kommissionen und Wandelhallen sehen viele ein, dass es mit dem Frühfranzösisch, mit der Integration oder den Nachteilsausgleichen so nicht weitergehen kann. Im Plenum selbst argumentieren aber die Meinungsführer sehr ideologisch und oft faktenfrei…
Das musst du uns erläutern…
Ein SP-Parlamentarier forderte eine selektionsfreie Volksschule und wollte die Bildungsdirektion zwingen zu überprüfen, ob die heute praktizierte Selektion nicht gegen das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung verstosse. Er und andere Unterstützer zitierten Studien, die angeblich aufzeigen, dass selektionsfreie Schulen erfolgreicher seien als separierende Modelle. «Es gibt Studien, die zeigen, dass…» Es ist immer die gleiche Leier. Aber diese ominösen Studien haben die Leute selbst nie gelesen. Sie sagen auch nie, um welche es sich konkret handelt. Dann hat der Parlamentarier als glühendes Beispiel den Kanton Tessin genannt, der keine Selektion kenne. So läuft manch einer ganz einfach in den Faktenhammer; der Kanton Tessin erzielt nämlich in den ÜGK-Erhebungen miserable Ergebnisse!
Aber du bist doch auch ein Befürworter einer integrativen Oberstufe.
Ja, genau, das ist ja der Witz. Wir lassen im Kanton Bern die Gemeinden das Schulmodell selbst auswählen. Ich habe mich in Biel und Orpund immer für das durchlässige Modell eingesetzt. In meinem Oberstufenzentrum gab es zwei Lehrkräfte, die mit diesem Modell nicht einverstanden waren und deshalb nach Aarberg wechselten. Dort gibt es ein separatives Modell. Die Schule in Aarberg geniesst einen vorzüglichen Ruf. Warum in Gottes Namen soll jetzt der Kanton die Aarberger zwingen, ein integratives Modell zu wählen? Man könnte doch in dieser Gemeinde eine Initiative lancieren, um dieses Ziel zu erreichen.
Aber im Kanton Bern ist jetzt eine Initiative lanciert worden, welche die Selektion in der Volksschule abschaffen will.
Genau, die Initianten gehen immer aufs Ganze. Statt in den Gemeinden für inklusivere Modelle zu kämpfen, fordern sie eine Masterlösung, also eine Lösung, die in allen Gemeinden das gleiche Schulmodell implantieren will. Damit lösen diese Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben, wieder diese öden Strukturdebatten aus, die wir im Moment überhaupt nicht brauchen können.
Du hast im Parlament gefordert, dass man mehr von Bildungsgerechtigkeit anstatt von Chancengerechtigkeit sprechen solle.
Diesen Begriff hat Condorcet-Autor Walter Herzog bereits in seinem Artikel «Bildungsgerechtigkeit ist mehr als Chancengerechtigkeit» (https://condorcet.ch/2024/09/bildungsgerechtigkeit-ist-mehr-als-chancengleichheit/) erklärt. Die Promotoren der Chancengerechtigkeit betreiben ein ständiges Schulbashing mit ihrer unkritischen Hinnahme einer stupiden Reduzierung von Schule auf ein soziologisches Output-Ziel. Sie negieren dabei komplett den Prozess, der innerhalb der Schule abläuft, und blenden die pädagogischen Prozesse aus. Die Schule hat nicht die Aufgabe, alle zur Matur zu bringen. Abgesehen davon, dass die Matur nicht automatisch mit mehr Lebenschancen gleichzusetzen ist. In der Schule erwirbt man Kompetenzen und wird zum mündigen Menschen. Zurzeit sind diese Bildungsziele gefährdet.
Wie soll ich das verstehen?
Ganz einfach, die Schule muss Kompetenzen vermitteln. Die Schüler müssen am Ende ihrer Schulzeit «rechnen, lesen und schreiben können». 25 % der Schüler können dies nach 9 Schuljahren nicht. Mit ihrer Fixierung auf die Chancengleichheit, mit ihrer Regulierungssucht und den immer neuen Auflagen schaden die Reformer gerade den Kindern aus den unterprivilegierten Schichten. Sie strangulieren mit ihrer praxisfernen Wunschprosa zunehmend den Unterricht.

Es gab kürzlich einen aufsehenerregenden Fall in den USA. Trotz Schulabschluss in Hartford (Connecticut) und einem College-Stipendium kann die 19-jährige Amerikanerin Aleysha Ortiz weder lesen noch schreiben! Nach zwölf Jahren öffentlicher Schulbildung gesteht sie bei einer Stadtratssitzung im Mai 2024, dass sie Analphabetin sei.
Unglaublich! Ein solcher Prozess könnte auch bei uns Schule machen!
Man denke nur an die Klage der Verdingkinder!
Auch bei der ABU-Abschlussprüfung hast du einen Erfolg gelandet …
Gerade bei dieser Frage zeigt sich die ideologische Haltung vieler Linken. Während die nationale SP die Abschaffung der ABU-Prüfung in der bisherigen Form ablehnte, argumentierte die SP-Fraktion im Grossrat für die Änderungen. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass ich der Bote war. Denn die nationale SP lehnte diese Lösung in der Vernehmlassung ab.

Das kann man aber beim Personalverband «Bildung Bern» nicht behaupten, warum waren denn die für die neue Variante einer mündlichen Prüfung, die auf einer Vertiefungsarbeit beruht?
Die Vertreterin von Bildung Bern reduzierte die Abschlussprüfung auf das Narrativ «Bulimie-Lernen» und verkannte, dass eine gesamthafte Abschlussprüfung, die nicht nur auf einer Vertiefungsarbeit beruht, es am Ende der Lehrzeit ermöglicht, so wichtige Themen wie Miet- und Arbeitsrecht, Schweizer Demokratie, Versicherungen, Steuern, Migration, Wirtschaft und Umwelt angemessen zu vertiefen. Und auf die Idee, im Zeitalter von KI eine Vertiefungsarbeit zu verlangen, die 50% der Qualifikationsnote ausmacht, muss man erst einmal kommen.
Wie geht es nun weiter?
Anstatt sich den reellen Problemen zu widmen, versuchen die Reformer uns immer als altmodisch, rückwärtsgewandt und rechts zu framen. Die Volksschule müsse mit der Zeit gehen, mahnen sie. Ich antworte dann jeweils: Wenn die Volksschule ihre Probleme im Unterricht nicht löst, muss sie gehen … mit der Zeit!
Lieber Alain, vielen Dank für das Gespräch!
Lieber Herr Pichard
Ihre Aussage: „«Es gibt Studien, die zeigen, dass…» Es ist immer die gleiche Leier. Aber diese ominösen Studien haben die Leute selbst nie gelesen. Sie sagen auch nie, um welche es sich konkret handelt.“ klingt für mich nach Polemik. Wenn Sie den Vorstoss genau gelesen hätten, hätten Sie gesehen, dass alle „ominösen“ Studien zitiert wurden (https://www.rrgr-service.apps.be.ch/api/gr/documents/document/257266125bfb430bbcfcdea724684d1e-332/24/RRB-06.11.2024-de.pdf). Im Weiteren hätten Sie gesehen, dass es in diesem Vorstoss nicht um die Bundesverfassung geht, sondern um die Verfassung des Kantons Bern, 2.2 Sozialrechte, Artikel 29, Absatz 2 «Jedes Kind hat Anspruch […] auf eine seinen Fähigkeiten entsprechende, […] Schulbildung.»
Lesen hilft nicht nur in der Schule, sondern auch in der Politik.
Die Initiative zielt nicht darauf ab, allen Gemeinden das gleiche Schulmodell aufzuzwingen, sondern lediglich darauf, den schädlichen Stempel „Realschülerin/Schüler“ und „Sekundarschülerin/Schüler“ abzuschaffen (www.selektionsfrei.ch). Auch hier wäre ein genauerer Blick in die Unterlagen angemessen.
In meinem Artikel „Vom 19. ins 21. Jahrhundert: Ist das selektive Schulsystem auf der Sekundarstufe I noch zeitgemäss?“ habe ich auf Ungereimtheiten im selektiven Schulsystem hingewiesen und Literaturhinweise angegeben (https://condorcet.ch/2025/03/vom-19-ins-21-jahrhundert-ist-das-selektive-schulsystem-auf-der-sekundarstufe-i-noch-zeitgemaess/). Ich würde mich freuen, qualifizierte pädagogische Antworten von Lehrpersonen zu erhalten, die sich die Mühe machen, die Literatur zu lesen und nicht einfach ihre vorgefassten Meinungen wiedergeben.
Ich stimme der LCH Zentralpräsidentin Dagmar Rösler zu, dass Bildung und Polemik schwer zu vereinbaren sind (https://www.lch.ch/standpunkte/detail/bildung-und-polemik-lassen-sich-nur-schwer-vereinbaren). Mir geht es um die Zukunft unserer Kinder und letztlich um die Zukunft unserer Gesellschaft. Da ist jede Polemik fehl am Platz, aber lesen hilft.
Zunächst einmal, lieber Herr Stalder, etwas zu meiner Person. Ich habe mich in meiner 45-jährigen Lehrerkarriere immer für durchlässige Schulmodelle eingesetzt, habe jahrelang in sogenannten Brennpunktschulen unterrichtet und habe seinerzeit die Volksinitiative 6-3 mit meinen Mitstreitern lanciert. Ich denke, dass das Schulmodell 3b, das wir in Orpund und Biel und an vielen anderen Orten haben, eine gute Lösung wäre. Andere Gemeinden sehen das etwas anders. Die Einteilung in ein Realniveau ist nur dann problematisch, wenn in diesem Niveau schulisch nichts gelernt wird. Ansonsten bleiben die Schüler in ganz vielen Fächern zusammen. Wir haben derzeit völlig andere Prioritäten. In vielen Schulen ist nicht nur das Leistungsniveau, sondern auch das Unterrichtsniveau gesunken. Viele Lehrkräfte haben keine adequate Ausbiuldung und können nicht einmal mehr die Grundkompetenzen einüben, was zur Folge hat, dass 25% der Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit weder lesen noch schreiben können. Das ist eine Katastrophe. Unser Schulsystem ist aber grundsätzlich viel durchlässiger als sie denken. Sehr viele Realschüler machen nach ihrer Lehre noch eine Berufsmatur, andere bilden sich auf andere Art weiter. Unser Problem sind die Illetristen. Um die muss es uns on erster Linie gehen.
Die von Ihnen ziteirte Wymann-Studie wurde immer wieder völlig falsch zitiert und weist auch enorme handwerkliche Fehler auf: Wir haben sie gelesen: https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/ oder https://condorcet.ch/2024/03/der-vorstand-des-vslch-bemueht-sich-um-schulrevolution/. Schliesslich meinte der Motionär Wildhaber in seiner Rede: “Der Kanton Tessin habe auch die Selektion völlig abgeschafft!” Dazu gibt es zwar keine Studien aber die ÜGK-Prüfungen. Un in diesen ÜGK-Prüfungen hat der Kanton Tessin miserabel abgeschnitten. Es gibt viele Einwände gegen die schulische Selektion. da haben Sie durchaus recht. Aber noch einnmal: im Moment hat unser Volksschule wirklich vollkommen andere Probleme. Und hier spreche ich von Bildungsgerechtigkeit. Man schaut nämlich viel zu wenig auf die Prozesse, die innerhalb unserer Schule ablaufen Und man würdigt viel zu wenig die Knochenarbeit unserer Lehrerinnen und Lehrer, die nicht nur das “lesen” und “schreiben” einüben, sondern immer mehr die Kinder auch noch alphabetisieren müssen.
Lieber Herr Pichard,
herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung. Sie müssen sich übrigens nicht vorstellen – wer sich mit der Volksschulbildung beschäftigt, kennt Ihren Namen.
Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass das Schulmodell 3b einen guten Kompromiss zwischen den Modellen 1/2/3a und Modell 4 darstellt. Ebenso bin ich mit Ihnen einig, dass es in der Volksschule viele Baustellen gibt, die dringend angegangen werden müssen. Gerade deshalb halte ich es für essenziell, die Selektion abzuschaffen. Sie bindet unnötig viele Ressourcen, die wir viel sinnvoller einsetzen könnten. Bereits 2008 stellte der Regierungsrat in Bern fest, der Aufwand für die Selektion sinnvoller in eine differenzierte Förderung der Schülerinnen und Schüler gesteckt werden könnte. (siehe dazu: Regierungsratsantwort vom 10.04.2008).
Ich möchte Ihnen zudem die TREE-Studie (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) der Universität Bern ans Herz legen, insbesondere die Dissertation von Thomas Meyer: «Wie das Schweizer Bildungssystem Bildungs- und Lebenschancen strukturiert» (Bern, 2018). Diese Langzeitstudie begleitete über 6’000 junge Menschen aus der Schweiz über 15 Jahre hinweg und zeigt eindrücklich, wie stark soziale Herkunft und regionale Unterschiede den Bildungs- und Berufsweg beeinflussen.
Aus meinen Gesprächen mit Lehrpersonen – insbesondere aus der Mittelstufe – höre ich immer wieder den Wunsch nach einer Abschaffung der Selektion. Sie empfinden diese als enorme Belastung, da sie viel Energie und Ressourcen kostet, die an anderer Stelle dringend gebraucht würden.
Die Abschaffung der Selektion bedeutet ja letztlich nur, dass wir auf die Etikettierung von Schülerinnen und Schülern als “Realschüler/in” oder “Sekundarschüler/in” verzichten. Die teils massiven regionalen Unterschiede verdeutlichen doch, dass diese Etikettierung nichts mit Pädagogik zu tun hat – sie ist schlicht ungerecht. Auch die grossen Leistungsüberschneidungen zwischen den verschiedenen Niveaus zeigen klar, dass diese Einteilung nicht auf fundierten pädagogischen Konzepten basiert als vielmehr auf Zufällen und dem sozialen Status der Eltern.
Wäre diese Etikettierung folgenlos für die Kinder, könnte man vielleicht darüber hinwegsehen. Doch leider ist das Gegenteil der Fall: Schülerinnen und Schüler mit “nur Grundanforderungen” werden stigmatisiert und haben schlechtere Chancen auf weiterführende Schulen oder anspruchsvollere Lehrstellen. Ich bin überzeugt, dass unser erfolgreiches duales Bildungssystem in der Schweiz durch die Abschaffung dieser Etikettierungen sogar gestärkt würde. Alle Jugendlichen hätten am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit die Möglichkeit, sich um allgemeinbildende Schulen oder anspruchsvollere Lehrstellen zu bewerben – nicht nur jene aus sozial privilegierten Familien.
Derzeit wird je nach Kanton 16 bis 44 % der Jugendlichen der direkte Zugang zu solchen Möglichkeiten verwehrt. Ja, unser Schulsystem ist durchlässig – aber deutlich weniger, als Sie denken.