Herr Loretz, muss die Schule revolutioniert werden?
Bildungsrevolutionäre würden das natürlich befürworten. Ich halte das aber für den falschen Weg. In den letzten 20 Jahren hatten wir in der Schweiz eine hohe Reformkadenz, führten enorm viel Neues ein wie zum Beispiel die Frühfremdsprachen. Jetzt müssen wir zuerst einmal analysieren, was funktioniert hat – und vor allem: was nicht.

Nach wie vor wird allerdings auf grundlegende Schulreformen gedrängt. Jörg Berger, Geschäftsleitungsmitglied des Verbands Schulleiter Schweiz, hat im «Blick» etwa gesagt, die Schweiz sei «das schlechteste Land der Welt», weil die Schulkinder hier nach der sechsten Klasse in verschiedene Leistungsniveaus eingeteilt werden.
Diese Aussage ist reisserisch und schadet dem Ansehen der Volksschule. Mit einer alarmistischen Krisenbewirtschaftung löst die Spitze des Schulleiterdachverbandes keine Probleme, sondern lenkt von den tatsächlichen Herausforderungen im Bildungswesen ab.
Wie meinen Sie das?
Wem die Volksschule am Herzen liegt, der widmet sich den wirklichen Problemen wie etwa den abnehmenden Lese- und Schreibkompetenzen. Laut der neuesten Pisa-Studie sind 25 Prozent der Volksschulabgänger nicht in der Lage, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Angesichts dieser Tatsache finde ich es schwierig, wenn die Spitze des Schulleiterverbandes bereits die nächste ehrgeizige Strukturreform anstrebt.

Herr Berger ist der Ansicht, die Selektion komme zu früh. Ginge es nach ihm, sollten die Kinder bis zur neunten Klasse, also bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit, gemeinsam unterrichtet werden.
Das sehen ich und auch die grosse Mehrheit unserer Basis anders. Wenn wir bis Ende der neunten Klasse nicht gliedern, werden wir niemandem gerecht – weder den Begabten noch denjenigen mit besonderen Bedürfnissen. Es ist für mich unverständlich, dass bereits die nächste Reform propagiert wird, bevor man nicht seriös klärt, was die vielen Veränderungen der letzten 20 Jahre effektiv gebracht haben und inwieweit die überschwänglichen Versprechungen eingelöst wurden. Meine Botschaft lautet: Weniger ist mehr. Wir müssen uns wieder darauf besinnen, was für die Schüler und Lehrer tatsächlich leistbar ist. Auch vom Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer wünsche ich mir dabei eine kritischere Haltung gegenüber den zahlreichen sendungsbewussten Bildungsrevolutionären.

Sie sehen aber auch, dass die Volksschule Probleme hat?
Absolut. Das bestreite ich nicht. Im Vordergrund stehen der quantitative sowie qualitative Lehrermangel, die integrative Schule, der überfrachtete Lehrplan 21, die verakademisierte Lehrerausbildung an der Pädagogischen Hochschule der FHNW oder die wachsende Bürokratie. Zugleich möchte ich betonen: Es läuft nicht alles verkehrt. Der Kanton Baselland hat kürzlich die Übertrittsbedingungen verschärft, was ich befürworte. Zudem erbringt die Schule schweizweit eine grosse Integrationsleistung, was sich unter anderem in der tiefen Jugendarbeitslosigkeit zeigt.
Bemerkenswert ist, dass im letzten Herbst der Baselbieter Bildungsbericht veröffentlicht wurde – und irgendwie, so hat man das Gefühl, interessierte das in der lokalen Politik kaum.
Das ist in der Tat erstaunlich. Wenn neue Resultate der Pisa-Studie publiziert werden, ist das Interesse jeweils riesig. Nun haben wir hier einen Bildungsbericht, sehr detailliert und ausführlich, man könnte wichtige Schlüsse daraus ziehen, um Verbesserungen herbeizuführen – doch die Resultate sind in der Politik bislang nur vereinzelt angekommen.
Sprechen wir darüber. Beispielsweise: Der Anteil an fremdsprachigen Kindern nimmt weiter zu.
Das ist uns sofort ins Auge gestochen. Im Baselbiet sind 37 Prozent der Kinder und Jugendlichen an obligatorischen Schulen fremdsprachig. Tendenz steigend. Wenn ich mich jetzt nochmals auf die 25 Prozent beziehe, die nach der Volksschule nicht genügend gut lesen können, ist doch offensichtlich, was zu tun wäre. Angesichts der immensen Bedeutung sprachlicher Kompetenz wäre es pädagogische Pflicht, alle Kinder intensiv in der Unterrichtssprache – also Deutsch – zu fördern. Aufgrund des überfrachteten Lehrplans und der stetigen Ausweitung des Fächerkanons fehlt dafür die Zeit.
Wir erhalten Rückmeldungen aus der Berufsbildung, von weiterführenden Schulen und sogar von Uniprofessoren, die alle das Gleiche berichten: Die Deutschkenntnisse haben massiv abgenommen. Es ist höchste Zeit für einen faktenbasierten Kurswechsel.
Sie sagen: Die Schüler beherrschen die deutsche Sprache nicht?
Ich sage: Deutsch ist nicht alles, aber ohne Deutsch ist alles nichts. Nun mag das ein wenig plakativ klingen, aber gute Deutschkenntnisse sind absolut matchentscheidend. Wir erhalten Rückmeldungen aus der Berufsbildung, von weiterführenden Schulen und sogar von Uniprofessoren, die alle das Gleiche berichten: Die Deutschkenntnisse haben massiv abgenommen. Es ist höchste Zeit für einen faktenbasierten Kurswechsel.
Das müssen Sie erklären.
In den letzten Jahren wurde die Volksschule inhaltlich überladen. Kinder, die aus einem anderen Kulturkreis kommen, sprechen zu Hause ihre Muttersprache, lernen auf dem Pausenhof Mundart, im Unterricht Deutsch, Französisch und Englisch. Wie soll das gehen? Welche Kinder können das leisten?
Man hat vergessen, dass ein Sprachbad nicht innerhalb weniger Schulstunden generiert werden kann.
Frühfranzösisch ist gescheitert?
Ist es nicht endlich an der Zeit, dass sich gerade die Primarschule wieder auf das Wesentliche und Leistbare konzentriert? Stattdessen werden Primarschulkinder immer noch ab der 3. Klasse ins Frühfranzösisch geschickt, obwohl der Mehrwert dieses Konzepts in keiner Weise nachgewiesen ist. Viele Dozenten der Pädagogischen Hochschule glaubten, dass den Kindern Sprachenlernen je früher, desto leichter falle und vor allem über Hören und Sprechen erfolgen sollte. Man hat vergessen, dass ein Sprachbad nicht innerhalb weniger Schulstunden generiert werden kann.
Wir leben nun mal in einem mehrsprachigen Land. Gehört es nicht zur zentralen Rolle der Lehrer, dieses Bewusstsein zu fördern?
Doch, natürlich. Aber wenn Frühfranzösisch für den Zusammenhalt der Schweiz wirklich so wichtig wäre, wäre der Kanton Tessin längst eine italienische Provinz. Es geht darum, Anpassungen vorzunehmen, damit die Lernziele am Ende der Volksschule erreicht werden. Die aktuelle Studienlage zeigt, dass die erklärten Ziele nicht annähernd eingelöst werden können. Und es ist doch sonnenklar: Wer stabile Deutschkenntnisse hat, wird später nicht nur weitere Sprachen einfacher lernen, sondern in sämtlichen Fächern enorm davon profitieren.
Geht es um die Deutschförderung, ist die Politik nicht untätig. Im Baselbiet gibt es seit kurzem ein neues Gesetz, mit dem Eltern verpflichtet werden können, ihre Kinder, falls nötig, in ein entsprechendes Angebot zu schicken.
Das stimmt. Die Umsetzung liegt allerdings in der Verantwortung der einzelnen Gemeinden. Mit dem konsensual entwickelten Massnahmenpaket Zukunft Volksschule werden zudem die Kernfächer Deutsch und Mathematik sowie Medien und Informatik gestärkt. Doch damit sind die Herausforderungen im Bildungswesen noch nicht überwunden.
Spätestens seit der Coronakrise kennt die Digitalisierung der Schulen kein Halten mehr …
… in der Tat haben Gemeinden und Kanton viel Geld in die Digitalisierung der Baselbieter Schulen investiert. Das erklärte Ziel: ein ausgewogener und reflektierter Einsatz analoger und digitaler Tools. Dazu bedarf es verbindlicher und griffiger Medienkonzepte. Es ist naiv, zu glauben, dass der Einsatz digitaler Geräte automatisch zu besseren Leistungen und zu einem effizienteren Bildungssystem führt. Es gilt, einer einseitigen digitalen Vereinnahmung der Kinder entschieden entgegenzutreten. Nicht nur an der Schule, sondern auch in der Freizeit und im Elternhaus.
Jugendliche verbringen in ihrer Freizeit im Schnitt über fünf Stunden pro Tag am Handy. Auch bei kleinen Kindern nimmt die Bildschirmzeit stetig zu. Es ist deshalb verfehlt, Tablets bereits im Kindergarten und in der Unterstufe einzusetzen oder gar flächendeckend zu verteilen.
In diesem Fall sind vor allem die Eltern in die Pflicht zu nehmen?
Unbedingt. Das Vermitteln eines sicheren und gesunden Umgangs mit der digitalen Welt kann nicht einfach an die Schule delegiert werden. Wir sind schliesslich keine Superheroes. Untersuchungen zeigen, dass im Elternhaus viel weniger miteinander geredet wird, weil Eltern und Kindern stumm auf die Bildschirme schauen. Das ist bedauerlich und trägt zum Sprachverfall natürlich bei.
Wie müssten die Lehrer der Turbo-Digitalisierung entgegentreten?
Jugendliche verbringen in ihrer Freizeit im Schnitt über fünf Stunden pro Tag am Handy. Auch bei kleinen Kindern nimmt die Bildschirmzeit stetig zu. Es ist deshalb verfehlt, Tablets bereits im Kindergarten und in der Unterstufe einzusetzen oder gar flächendeckend zu verteilen. In diesem Alter ist es von zentraler Bedeutung, die haptische Wahrnehmung, das räumliche Vorstellungsvermögen, die Feinmotorik und die Entwicklung der eigenen Handschrift zu fördern. Dafür braucht es gut ausgebildete Lehrpersonen mit einem methodisch-didaktisch gefüllten Rucksack.
An verschiedenen Baselbieter Schulen wird über ein Verbot von Smartphones diskutiert.
Die Rückmeldungen von Schulen, die die Nutzung während der Schulzeit verboten haben, sind durchwegs positiv. Auch mich beelendet es, wenn sich die Kinder und Jugendlichen in der Pause nicht mehr körperlich bewegen und nur an ihren Geräten hängen. Konsequenterweise müssten die von der Schule zur Verfügung gestellten Tablets dann aber auch dosiert und zielgerichtet eingesetzt werden.
Die integrative Schule ist ebenfalls Thema des Baselbieter Bildungsberichts. Dabei schickt kein Kanton in der Schweiz mehr Primarschulkinder in Sonderklassen und Sonderschulen.
Aus gutem Grund! Ich bin froh, dass im Baselbiet – im Gegensatz zu anderen Kantonen wie beispielsweise Basel-Stadt oder Zürich – die Einführungs- und Kleinklassen nie abgeschafft wurden. Kinder mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten oder ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen sind auf fachkundige Unterstützung angewiesen. In den Regelklassen kann die erforderliche intensive Betreuung oft nicht gewährleistet werden.
Stimmt es denn nicht, dass die guten Schüler die schlechteren mitziehen können?
Das mag in Einzelfällen zutreffen. Wenn Kinder aber jeden Tag merken, dass sie dem Unterricht in der Regelklasse nicht folgen können, dass sie ständig betreut werden müssen, wirkt sich das negativ auf ihr Selbstvertrauen aus. Kinder mit besonderen Bedürfnissen brauchen einen geschützten Raum mit wenigen verlässlichen Bezugspersonen. So können sie gezielt unterstützt werden, kommen zur Ruhe und – das ist eben ganz entscheidend – zu Erfolgserlebnissen. Kleinklassen sind im Übrigen ins Schulleben integriert, nehmen an gemeinsamen Anlässen wie Skilagern, Projektwochen oder Sporttagen teil.
Auch in Baselland klagen Lehrer allerdings darüber, dass der Job nicht mehr zu bewältigen sei.
Ja, das ist wahr. Die Ansprüche sind gestiegen, manche melden uns, dass sie überfordert und erschöpft sind. Dieser Entwicklung muss Einhalt geboten werden. Die Attraktivität des Lehrberufs muss unbedingt nachhaltig gestärkt werden – im Interesse aller Beteiligten.
Monica Gschwind prüft, ob Berufsmaturanden für die Primar- und Kindergärtnerausbildung zugelassen werden. Würde das helfen?
Ein interessanter Gedanke. Der verakademisierten Lehrerausbildung würde es sicherlich nicht schaden, wenn dort vermehrt auch Leute mit Berufserfahrung zu finden wären. Die konkrete Ausgestaltung ist jedoch Gegenstand der politischen Diskussion. Im Übrigen fordern wir schon länger, dass Dozenten für Fachdidaktik über eine mehrjährige, erfolgreiche Unterrichtstätigkeit in jenen Fächern und auf diesen Stufen verfügen müssen, für die sie Studenten ausbilden. Auch hier besteht Handlungsbedarf.
Ein erfrischendes Interview mit einem Lehrer, der weiss, worauf es in der Schule ankommt! Philipp Loretz nennt die grossen Baustellen beim Namen und setzt gut begründete Prioritäten. Den umtriebigen Reformturbos erteilt er eine deutliche Absage. Statt sich mit den aktuellen Herausforderungen wie dem Sprachendebakel oder der Krise der integrativen Schule auseinanderzusetzen, würden sie ohne Verträglichkeitsprüfung am liebsten weitere Baustellen eröffnen.
Die Wirksamkeit der Reformen steht für Philipp Loretz an erster Stelle. Was sich bewährt hat, soll weiterentwickelt werden. Frühfranzösisch und Frühdigitalisierung gehören sicher nicht dazu. Die Antworten im Interview ergeben eine eigentliche Bilanz der bisherigen Bildungspolitik, die in vielen Bereichen von einem unverantwortlichen pädagogischen Wunschdenken geprägt war. Der überladene Lehrplan wird dabei zu Recht kritisiert.
Man wünschte, so klare Worte wären nicht nur im Baselbiet zu hören. Die Vertretungen anderer Lehrerorganisationen haben mit dem gelungenen Interview ein leuchtendes Beispiel, welche Botschaften aus der Schulpraxis an die Adresse der Bildungspolitik zu richten sind.
“Kinder, die aus einem anderen Kulturkreis kommen, sprechen zu Hause ihre Muttersprache, lernen auf dem Pausenhof Mundart, im Unterricht Deutsch, Französisch und Englisch. Wie soll das gehen? Welche Kinder können das leisten?”
Das scheint auch für Deutschland zuzutreffen, allerdings ohne Frühfranzösisch. Den “Dialekt” gibt es auch in anderer Form als in der Schweiz, nämlich als Soziolekt in Richtung Unterschicht- und Gossensprache, im Gegensatz zur “Bildungssprache”. Aber viele meinen, zusätzlicher Unterricht in den Heimatsprachen würde sich positiv auswirken, also wieder eine Dreisprachigkeit.
“Es ist naiv, zu glauben, dass der Einsatz digitaler Geräte automatisch zu besseren Leistungen und zu einem effizienteren Bildungssystem führt. Es gilt, einer einseitigen digitalen Vereinnahmung der Kinder entschieden entgegenzutreten.”
Ständig wird mehr Geld des Steuerzahlers hineingepumpt, zur Zeit in den “Digitalpakt”, der überall gepriesen und besonders von der IT-Industrie und der EdTech-Industrie begeistert begrüßt wird. Auch die Primarschule wird nicht verschont: Die Kinder sollten mit digitalen Geräten lernen zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Aber alles nur flüchtig, denn es warten noch 1000 weitere Themen, die berücksichtigt werden sollen, z.B. in Berlin/Brandenburg so altersgemäße Dinge wie: “Familie: Zusammensetzung (in homo- und heterosexuellen Lebensformen) und Herkunft”, “alternative Hausmodelle und das Haus der Zukunft”. “Berufe, mit denen die Vergangenheit erforscht wird (Historikerinnen und Historiker, Archäologinnen und Archäologen)” sowie “globaler Markt (wirtschaftliche Verflechtungen am konkreten Beispiel) und fairer Handel”. Alles in den Klassen 1–4. Und trotz kompensatorischer Maßnahmen nimmt die Zahl der “Brennpunktschulen” nicht ab, sondern zu.