Deutschlands Bildungssystem steht unter Druck. Der neuseeländisch-australische Bildungsforscher John Hattie, bekannt durch seine richtungsweisende Metastudie “Visible Learning”, fordert einen radikalen Perspektivwechsel: Nicht das Lehren, sondern das Lernen der Schüler müsse im Zentrum stehen.
Auf Veranstaltungen in Heilbronn und Berlin sorgte Hattie für Begeisterung – und hinterließ eine Botschaft, die Lehrer in Deutschlands Klassenzimmern zum Nachdenken bringen sollte.
“Das größte Problem ist die Verzagtheit”, sagte Hattie laut der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Die Fixierung auf Lehrpläne, Prüfungsformate und Verwaltungsstrukturen sei nur ein Ablenkungsmanöver. Entscheidend ist es laut Hattie, wie Lehrkräfte ihre Wirkung auf das Lernen reflektieren.
Lehrer und Schulleiter müssen Methoden hinterfragen
Hatties Analyse basiert auf Daten von 400 Millionen Schülern und 20’000 Unterrichtsbeobachtungen. Sein Ergebnis ist so einfach wie radikal: Lehrer und Schulleiter müssen ihre Methoden hinterfragen und sich konsequent auf die Lernbedürfnisse der Schüler einstellen.
Lehrkräfte sollten:
- Hohe, aber erreichbare Erwartungen an Schüler formulieren.
- Den Lernprozess kontinuierlich beobachten und fördern.
- Feedback nutzen, um Unterricht anzupassen und zu verbessern.
Die Lehrperson sei dabei der Schlüssel, so Professor Klaus Zierer, der Hatties Forschung unter dem Titel “Hattie für gestresste Lehrer” zusammenfasste. Darin heißt es “Auf den Lehrer kommt es an”. Lehrer hätten den größten Einfluss auf den Lernerfolg – vorausgesetzt, sie agieren wie Regisseure, die den Unterricht flexibel gestalten und auf Rückmeldungen der Schüler eingehen.
Hatties 10 Kernbotschaften als Orientierung
Zierer fasst Hatties Kernbotschaften in einer praxisnahen Liste zusammen, die Lehrern Orientierung bietet:
- Rede über Lernen, nicht über Lehren.
- Setze die Herausforderung. Schüler brauchen Ziele, die sie fordern.
- Lernen ist harte Arbeit. Diese Einstellung muss vorgelebt werden.
- Baue positive Beziehungen auf. Schüler lernen besser in vertrauensvollen Umfeldern.
- Nutze Dialog statt Monolog. Der Unterricht sollte interaktiv sein.
- Vermittle die Sprache des Lernens. Schüler müssen verstehen, wie Lernen funktioniert.
- Werde zum Veränderungsagenten. Lehrer sollten sich kontinuierlich weiterentwickeln.
- Sei ein Evaluator. Analysiere, was gut funktioniert und was nicht.
- Nimm Schülerleistungen als Feedback. Sie spiegeln die Wirksamkeit deines Unterrichts wider.
- Arbeite mit Kollegen zusammen. Gemeinsame Planung und Reflexion verbessern die Qualität.
Viele Schüler verlieren früh die Motivation
“Schüler kommen in die Schule, um zu lernen – nicht, um belehrt zu werden”, betonte Hattie laut der “FAZ”. Doch das größte Hindernis sei die Langeweile. Laut der PISA-Studie fühlen sich 37 Prozent der Schüler unterfordert, während andere überfordert sind. Das Ergebnis: Viele Schüler verlieren früh ihre Motivation.
Hattie fordert eine engere Beobachtung der Schüler und mehr Mut zur Selbstreflexion: “Lehrer müssen erkennen, wen sie gut unterrichtet haben – und wen nicht.” Fehler seien kein Scheitern, sondern ein integraler Bestandteil des Lernens.
Was für den Lernerfolg wichtig ist
Laut “FAZ” sieht Hattie im Schulklima einen zentralen Faktor für den Lernerfolg. Schulleitungen müssten Rahmenbedingungen schaffen, die konstruktive Unterstützung und Vertrauen fördern. “Es ist schwer, eine großartige Schule ohne eine großartige Schulleitung zu finden”, betonte er.
Auch die Lehrkräfte stehen in der Verantwortung: Regelmäßige Feedbackmethoden, wie etwa die “Feedbackzielscheibe”, könnten den Unterricht effektiver machen. Diese einfache Technik erlaubt es Lehrern, von Schülern präzises Feedback zu Themen wie Relevanz, Atmosphäre oder Organisation einzuholen.
Dieser Beitrag erschien im Focus durch Kooperation mit Smart Up News.
Danke. Tatsächlich ist es höchste Zeit, dass sich Schuladministration und Unterrichtspraxis stärker an den Befunden der empirischen Unterrichtsforschung orientieren. Denn diese rehabilitiert quasi die lenkende und motivierende Lehrperson. Insofern verkürzt das Zitat aus der FAZ (“Schüler kommen in die Schule, um zu lernen – nicht, um belehrt zu werden”) Hatties Perspektive auf einen beliebten Kurzschluss. Doch, Schüler wollen durchaus auch belehrt werden. Den Befunden seiner XXL-Metastudie zufolge ist es gerade die Kombination aus Instruktion UND Konstruktion, aus Lehrersteuerung UND Schülerorientierung, die zu maximaler Lernwirksamkeit führt. Eine vor allem für schwächere Lerner erfolgversprechende Variante davon ist übrigens direct instruction – d.i. keineswegs monotoner Frontalunterricht, sondern abwechslungsreiche, beziehungsreiche, gelegentlich auch differenzierende Plenumsarbeit.
https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2022/05/Flugschrift3_digital.pdf
Hattie in Ehren. Tatsächlich tut er weder der Reformgilde mit SOL, Integration, Sätzchen statt Noten, selektionsfreier Gesamtschule, etc. noch den Traditionalisten wirklich weh, denn jede Lehrperson ist mit ihrer Methode überzeugt, sie widme sich dem Lernen. Was bei der Fokussierung auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis auffällt, ist für den Praktiker das, was fehlt: Lehrpersonen unterrichten nicht Einzelne wie einst die Hauslehrer in reichen Familien (z.B. Hölderlin). Sie unterrichten Klassen. Klassen sind soziale Gruppen mit Eigendynamik. Nicht nur die Beziehungen Lehrer-Schüler, auch diejenige Schüler-Schüler spielen für das Lernen eine entscheidende Rolle. Das verstärkt sich während der Teenagerzeit. Führung der Gruppe, Beziehung zur Gruppe ist deshalb ebenso wichtig wie die Einzelbeziehung, auch doppelt so schwierig.
Was pädagogisch die stärkste Wirkung zeigt, müsste die Erziehungswissenschaften eigentlich brennend interessieren. Welche Unterrichtsformen, welche Grundhaltungen im Lehrerberuf und welche Rahmenbedingungen fürs Unterrichten haben sich als erfolgreich erwiesen? John Hattie und Klaus Zierer haben auf diese Fragen eine Reihe überzeugender Antworten gefunden. Sie fordern die Lehrpersonen auf, ihren Unterricht kontinuierlich zu überprüfen. Das Lernen sollte eine attraktive Herausforderung für Schülerinnen und Schüler sein.
Ich bezweifle, dass die aktuellen Leitbilder in der Lehrerbildung mit Hatties Theorien übereinstimmen. Zu einseitig scheint mir der Fokus auf das freie Lernen der Schüler ausgerichtet zu sein. Man misstraut in gewissen akademisierten Kreisen den Lehrpersonen, die inhaltlich klare Botschaften haben und ihre Klassen für ein Thema begeistern können. Doch genau diese Leidenschaft und lebendige Vorbildfunktion sind der eine Teil einer anspruchsvollen Doppelfunktion im Lehrerberuf. Lehrpersonen müssen einerseits gut zuhören und sich zurücknehmen können, andererseits sollen sie gestalterische Kraft beim anschaulichen Erklären und Darbieten von Bildungsinhalten ausstrahlen.
Beim sportlich geprägten Üben in der Deutschstunde oder beim Leiten eines Klassengesprächs sind Lehrpersonen motivierend und ordnend tätig. Die Schüler sollen sprechen, nicht die Lehrperson. In einer narrativen Geschichtslektion hingegen ist es die erzählende Lehrerin, welche attraktive Elemente in den Unterricht bringt. Sie prägt mit ihrer Sprache, mit dem spannenden Aufbau einer Erzählung und ihrem Engagement für grundlegende politische Fragen die Lektion.
Realienlektionen verlangen von den Lehrpersonen, dass sie einen Stoff durchdrungen haben und ihn lebendig gestalten können. Anschauliche Instruktionen zu einem physikalischen Experiment oder das Erklären medizinischer Zusammenhänge in der Menschenkunde gelingen nur mit kompetenten Lehrpersonen. Wo diese zentrale Funktion des fachlich qualifizierten Gestaltens nicht vorhanden ist, droht Langeweile. Geschichtsstunden erschöpfen sich im Ausfüllen von Arbeitsblättern über gelesene Texte. Der Physikunterricht gilt als unattraktiv, wenn das Staunen über eindrückliche Experimente vom schnellen Anwenden von Formeln verdrängt wird. In Klassengesprächen über medizinische Fragen merken die Schüler rasch, wenn eine Lehrperson nicht sattelfest ist. Jugendliche wollen sich mit Lehrkräften auseinandersetzen, die ihr Metier verstehen und ihnen mit Empathie gegenübertreten.
Hatties grundlegende Forschungsergebnisse müssen eindeutig stärker in unsere Lehrerbildung einfliessen. So gibt es keinen stichhaltigen Grund, direkte Instruktion abwertend als «Frontalunterricht» zu bezeichnen und die Coachingrolle von Lehrpersonen emporzustilisieren. Beides hat an vielen Schulen zu grossen Verunsicherungen geführt. Es ist höchste Zeit, dass die moderne Didaktik einige ihrer grundlegenden Positionen überprüft.