Noch zwei Wochen bis zur Aufnahmeprüfung, und plötzlich hat Dorina keine Lust mehr. Seit mehr als einem Jahr spricht sie davon, dass sie Lehrerin werden will und darum die Prüfung für die Fachmittelschule bestehen muss. Seit Monaten sagt sie, dass sie als offene, selbstbewusste Person eine gute Lehrerin wäre. Erklärt, wie schwierig die Schulzeit sein könne und wie sie als Lehrerin den ängstlichen Schülern Mut machen würde. Überzeugt und zielstrebig wirkte sie. Aber jetzt sitzt Dorina an einem Septembernachmittag im Schulhaus Buchholz in Glarus und sagt: “Ich bin nicht mehr motiviert.”
Jeden Herbst suchen in der Schweiz Tausende Jugendliche eine Lehrstelle. Zwei Drittel aller 15- bis 16-Jährigen entscheiden sich nach der dritten Oberstufenklasse für diesen Weg. Die übrigen wechseln ans Gymnasium oder an eine andere weiterführende Schule. Die Schweiz ist stolz auf ihr Ausbildungssystem, auf die Verbindung aus praktischem Lernen in einem Betrieb und theoretischem Lernen an einer Berufsfachschule. Es gilt als einer der wichtigsten Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes: Die Unternehmen bekommen qualifizierten Nachwuchs, die jungen Leute werden früh in die Arbeitswelt integriert. Sie entwickeln einen Berufsstolz. Sie können sich weiterbilden und später an einer Fachhochschule oder Universität studieren.
Aber was heißt das für junge Menschen, wenn sie mit 13, 14 Jahren wissen müssen, welchen Beruf sie erlernen sollen? Wie wählen sie aus den 245 Möglichkeiten aus, die es dafür in der Schweiz gibt? Und was ist, wenn sie, wie Dorina, im letzten Moment plötzlich Zweifel haben?
Sie waren scheu, unsicher, manchmal überfordert. Sie machten sich Hoffnung und bekamen Absagen. Vor allem aber suchten sie nach einer Antwort auf die Frage “Was will ich werden?”.
Die ZEIT hat Dorina und ihre Mitschüler ein Jahr lang begleitet. Von Sommer 2023 bis Sommer 2024 beschäftigte sich die Sekundarklasse 2A in Glarus intensiv mit der “beruflichen Orientierung”, so sieht es der Lehrplan für die zweite Oberstufe vor. In jenem Jahr besuchten die Jugendlichen Berufsmessen und erfuhren, welche Lehrberufe es gibt. Sie schnupperten in Betrieben und mussten sich beweisen. Sie schrieben Lebensläufe, verschickten Bewerbungen und gingen zum ersten Mal zu einem Vorstellungsgespräch. Sie waren scheu, unsicher, manchmal überfordert. Sie machten sich Hoffnung und bekamen Absagen. Vor allem aber suchten sie nach einer Antwort auf die Frage “Was will ich werden?”.
Rollenspiele
An einem sonnigen Tag im September 2023 sitzen die Schülerinnen und Schüler der 2A im Gesellschaftshaus in Ennenda, dem Nachbardorf von Glarus. Gerade hat das neue Schuljahr begonnen. Die Klassenlehrerin Neva Laurent hat den Saal gemietet. Während der Fasnacht findet hier einer der größten Maskenbälle im Kanton statt. Und auch die Schüler machen heute ein Rollenspiel. Die 18 Jugendlichen, zwischen 12 und 14 Jahre alt, sitzen in Dreiergruppen an Tischen. Sie ziehen ein Kärtchen, auf dem ein fiktiver Personenname steht. Auf weiteren Kärtchen stehen Interessen, Hobbys, Schulnoten. Und dann gibt es noch die Kärtchen mit den Berufen. Die Jugendlichen sollen sich mit ihrem neuen Ich auseinandersetzen, sich mit dessen Fähigkeiten und Interessen identifizieren und entscheiden, welcher Beruf am besten zu ihrer Figur passen könnte. Sie heften sich die neuen Namen an die Brust.
“OMG, ich heiße Petra!”, ruft ein Mädchen. “Oh shit, ich habe nur eine Drei in Mathe”, sagt ein Junge. Erolinda heißt jetzt Caroline. Sie arbeitet genau und sauber, und sie hat eine Fünf bis Sechs in Handarbeit. Elton interessiert sich als Elmar für Maschinen und Motoren, hat in Geschichte eine Drei, in Englisch und Italienisch eine Vier. “Ich bin viel besser in der Schule als Elmar”, sagt Elton. Dorina ist jetzt Karin, trainiert Judo, mag Werken, stellt in ihrer Freizeit Schmuck her und hat in Naturkunde eine Fünf bis Sechs. Goldschmiedin, sagt Dorina, wäre der perfekte Beruf für Karin. Aber dann ist dieses Berufskärtchen bereits vergeben, und Dorina wird unsicher.
Was will ich werden? Damit die Jugendlichen diese Frage beantworten können, müssen sie wissen, wer dieses Ich überhaupt ist. Was sie gut können, was weniger gut. Und was sie interessiert. Manchen fällt das leichter als anderen.
“Ich liebe es, anderen Menschen zu helfen.”
Dorina
Bei einem Schulbesuch vor den Sommerferien waren Dorina und Erolinda, zwei Mädchen mit langen Haaren, schon sehr überzeugt. Erolinda sagte, sie wäre am liebsten Anwältin. Wegen eines Films, an dessen Titel sie sich nicht mehr erinnert. Dorina wollte Lehrerin werden. Sie sagte: “Ich liebe es, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten und ihnen zu helfen.” Die Buben in der Klasse schienen sich selbst weniger gut zu kennen. Elton, mit Bartflaum auf der Oberlippe, sagte damals, seine Hobbys seien gamen, Serien schauen, Fußball spielen, fit werden, Ausdauer. Er möge es, sich zu bewegen. Trotzdem wolle er Informatiker werden, “weil man im Büro sitzen kann”. Semir, ein schüchterner Junge, wusste nur, dass er “etwas mit Technik” machen möchte. Und Kevin zuckte mit den Schultern. Über den Beruf hatte er noch nie nachgedacht. Er sagte: “Vielleicht hilft es mir, wenn wir uns das in der Schule überlegen müssen.”
Neva Laurent führt mit den Jugendlichen das Rollenspiel durch, weil es manchmal einfacher ist, jemand anderen einzuschätzen als sich selbst. Ein Spiel ist unterhaltsamer als die Realität. Die Jugendlichen durchlaufen mit ihrer fiktiven Identität den Bewerbungsprozess, ohne dass es für sie schon ernst wird.
In der Klasse 2A sitzen Ober-, Real- und Sekundarschüler. Viele stammen aus einer italienischen, kosovarischen, albanischen oder kroatischen Familie. Die meisten sind in der Schweiz geboren. Aber einige leben erst seit wenigen Jahren hier. Weil die Schule Buchholz sogenannte integrative Klassen führt, werden Schüler mit unterschiedlichen Leistungsniveaus gemeinsam unterrichtet. Nur in den Hauptfächern Mathematik, Französisch und Englisch sind sie in Leistungsgruppen eingeteilt.
Beim Rollenspiel entscheidet sich Erolinda schnell. Sie nimmt die Kärtchen Malerin, Floristin und Coiffeuse mit an ihren Platz. Elton wählt ein Ingenieur-Studium. Dorina fragt Frau Laurent, was sie tun solle, jetzt da der Beruf der Goldschmiedin schon vergeben sei. Laurent gibt ihr einen Tipp: “Wenn deine Person gut in Naturkunde ist, könnte sie sich auch als Chemielaborantin bewerben.”
Pflegerinnen in Glarus besonders begehrt
In der Schweiz gibt es drei- und vierjährige Berufslehren, in denen das eidgenössische Fähigkeitszeugnis erworben wird. Während der Ausbildung oder daran anschließend können die Jugendlichen zusätzlich die Berufsmatura machen. Damit sind sie später an einer Fachhochschule zugelassen. Und es gibt eine zweijährige Berufslehre, die mit einem eidgenössischen Berufsattest abgeschlossen wird, früher Anlehre genannt. Hauptsächlich Ober- und Realschüler entscheiden sich für sie.
Die beliebtesten Lehren sind seit Jahren die kaufmännische Ausbildung (KV), Fachfrau oder Fachmann Gesundheit (FaGe), Informatiker und Zeichnerin. Im Kanton Glarus ist der Beruf der Pflegerin besonders begehrt.
An einem Mittwoch im Oktober 2023, während der Herbstferien, warten 40 junge Menschen vor dem Eingang des Alters- und Pflegezentrums Bergli in Glarus. An den kantonalen Berufsinformationstagen stellen 50 Betriebe mehr als 70 Berufe vor. Die Schüler dürfen sich für vier Besuche anmelden. Für die Ausbildung im Altersheim Bergli interessieren sich vor allem Mädchen. Die beiden einzigen Jungen stehen etwas abseits bei den Veloständern. Später kommt ein dritter dazu.
Die Schüler dürfen einander den Blutdruck messen. Dann kurven sie mit einem Rollstuhl, “unserem Mercedes!”, wie eine Pflegerin sagt, im Slalom um ein paar Wasserflaschen. Die Schnellsten bekommen Schokolade.
Zuerst erhalten sie Informationen zur zweijährigen Ausbildung als Assistentin Gesundheit, dann zur Ausbildung Fachfrau Gesundheit (FaGe), die anspruchsvoller ist und drei Jahre dauert. Als FaGe verdient man auch mehr, im ersten Lehrjahr 700 Franken, im dritten 1200 Franken. Die Ausbildungsverantwortliche des Berglis erzählt, dass man ein Schnupperpraktikum machen und einen kleinen Online-Test ablegen muss. Dorina sitzt in der ersten Reihe. Ein Mädchen neben ihr hebt die Hand und fragt: “Darf ich mir auf meinem Handy Notizen machen?”
Die Jugendlichen werden in Gruppen durch das Altersheim geführt. Im Speisesaal sind die Tische schon für das Abendessen gedeckt. Die Schüler dürfen einander den Blutdruck messen. Dann kurven sie mit einem Rollstuhl, “unserem Mercedes!”, wie eine Pflegerin sagt, im Slalom um ein paar Wasserflaschen. Die Schnellsten bekommen Schokolade.
In einem Nebenraum erzählen Lernende in lila Kitteln von ihrer Arbeit. “Wir dürfen keine langen Fingernägel haben, keine Fingerringe, Halsketten oder Armbänder tragen, und die Haare müssen immer zusammengebunden sein”, sagt eine. “Am Anfang hatte ich am ganzen Körper Schmerzen, weil man immer steht”, erzählt eine andere. Die dritte sagt, man müsse auch an Wochenenden arbeiten. “Die Arbeitszeiten sind sicher die Schattenseite des Pflegeberufs.” Trotzdem sind sie vergnügt, albern herum und schwärmen, wie viel man lerne und wie schön es sei, alten Menschen zu helfen. Dorina hört aufmerksam zu. Sie könnte sich vorstellen, hier zu arbeiten, sagt sie. “Aber ich will lieber Lehrerin werden.”
“Es ist ein völlig anderer Alltag, und die Schule geht weiter, das darf man nicht unterschätzen.”
Lehrling in einer Werkzeugfabrik
Am selben Tag besuchen drei Knaben und ein Mädchen die Glaroform AG in Näfels, mit dem Zug sind es nur wenige Minuten von Glarus. Die Firma stellt Werkzeuge her, die Kunden produzieren damit Verpackungen, zum Beispiel Joghurtbecher. Auch hier erzählen zwei Lehrlinge, ein Polymechaniker und ein Mechanikpraktiker, von ihrer Ausbildung. “Es ist ein völlig anderer Alltag, und die Schule geht weiter, das darf man nicht unterschätzen”, sagt der eine. Man müsse handwerklich geschickt sein, sich für die Welt der Mechanik interessieren und gut sein in Mathe und Physik.
Der Lehrmeister führt durch die Werkhalle, vorbei an Arbeitsplätzen mit Bildschirmen, schweren Maschinen, Paletten mit glänzenden Metallteilen. Die Jugendlichen sind still, niemand stellt eine Frage. Jeder darf ein Metallplättchen mit seinen Initialen herstellen. Es lässt sich bei den Schnürsenkeln einfädeln, ein Schmuckstück für den Turnschuh.
Der Lehrmeister sagt: “Polymechaniker sind sehr gefragt, und sie werden es auch in Zukunft sein.” Der Einstiegslohn nach der Lehre sei 4500 Franken, und man könne sich später an der höheren Fachschule oder sogar an der Fachhochschule weiterbilden. Es wirkt, als würde sich der Lehrmeister bei den Jugendlichen bewerben, nicht sie sich bei ihm. Elton, der sich auch angemeldet hatte, ist nicht gekommen. Sein Klassenkamerad Noel sagt: “Es sind halt Ferien.”
Im Spätherbst 2023 ist noch alles offen
Die Lehrerin Neva Laurent hatte am Anfang des Schuljahres einen Brief an die Eltern verschickt. Die Berufswahl werde in diesem Jahr sehr wichtig sein, steht darin. Und: “Gemeinsam mit Ihnen werden wir Lehrpersonen die Jugendlichen Schritt für Schritt begleiten.” Laurent hat jeden einzelnen dieser Schritte aufgelistet: 1. Interessen und Stärken kennenlernen. 2. und 3. Berufswelt kennenlernen und sich selbst damit vergleichen. 4. Interessante Berufe genauer ansehen. 5. und 6. Bewerbungen schreiben, eine Lehrstelle suchen. 7. Auf die Lehre vorbereiten.
Es ist Spätherbst im Jahr 2023. Noch ist alles offen. Die Klasse reist nach Zürich-Oerlikon, an die größte Berufsmesse der Schweiz. Auf fünf Stockwerken werden 500 Berufe und Weiterbildungen vor aufwendiger Kulisse präsentiert. Als die Lehrerin am Abend fragt, was den Schülern besonders gefallen habe, zählen sie auf: der Stand der Schweizer Armee, wo ein paar Jungs neben einem Panzer Liegestütze gemacht haben. Die Roboterhunde, die über das Messegelände spazierten. Das Gewinnspiel für ein Highschool-Jahr in den USA. Und der TikTok-Influencer Steve Merson, der an der Messe von einer Schar Jugendlicher umringt war. “Die Messe ist wie eine Chilbi für sie”, wird Neva Laurent später sagen.
Der Winter geht vorüber, das neue Jahr beginnt, es wird Frühling 2024. Und jetzt kommt etwas in Bewegung. Im März schreiben die Jugendlichen Bewerbungen, sie organisieren ihre Schnuppertage und bekommen dafür Zeit und Unterstützung in der Schule. Bei manchen hilft der ältere Bruder, die ältere Schwester oder der Onkel, die sich einst auch um eine Lehrstelle bemühen mussten.
Ein ganzer Tag im Büro oder auf der Baustelle
Zum ersten Mal in ihrem Leben verbringen die Schüler einen ganzen Tag im Büro oder in einer Praxis. Sie begleiten den Montage-Elektriker auf eine Baustelle, stellen als Logistiker Waschmaschinen für die Auslieferung bereit, sichten Offerten, bestellen Büromaterial, kaufen das Znüni für die Angestellten ein, essen mit ihnen in der Kantine zu Mittag. Bei der Arbeit werden sie von den Lehrverantwortlichen beobachtet, von denen sie am Ende des Tages eine Rückmeldung erhalten.
Bald zeigt sich, wie unterschiedlich motiviert und interessiert die Schüler sind. Erolinda ist sehr aktiv. Sie sagt: “Ich wollte mir so viele Berufe wie möglich ansehen.” Sie kann sich vorstellen, eine KV-Lehre und die Berufsmatura zu machen. Und dann Jura zu studieren, damit sie ihrem Traumberuf, Anwältin, näher kommt.
Erolinda hat als Dentalassistentin geschnuppert, im Büro der Gemeindeverwaltung Glarus, in einer Kunststofffirma, bei der Axa Versicherung, in der Kantonsverwaltung und in einer Baufirma. Am Ende des Schnuppertages habe sie stets dasselbe gehört: “Dass ich sehr gut gearbeitet habe und mich im Sommer bei ihnen bewerben soll.” Erolinda lächelt.
“Ich wollte mir so viele Berufe wie möglich ansehen.”
Erolinda
Am besten habe es ihr bei der Kantonsverwaltung gefallen. Aber auch bei den Axa Versicherungen habe sie sich wohlgefühlt. “In einer Übung durfte ich sogar mein eigenes Auto versichern.” Ihr Traumauto, einen silbergrauen Mercedes.
Die meisten von Erolindas Klassenkameraden haben inzwischen in einem oder mehreren Betrieben geschnuppert. Bei Semir hat es noch nicht geklappt. Im März hätte er in einem Informatikbüro arbeiten können, war dann aber krank. Er erzählt, er sei durch seinen Cousin auf diese Idee gekommen. “Er sagte zu mir: Du bist immer am Computer, versuch’s doch mal mit Informatik.” Und es stimme ja: Er möge es, Probleme am PC zu lösen, und helfe seinem Vater, wenn er sich nicht auf Facebook oder Instagram einloggen könne. Semir sagt: “Ich glaube, das wäre mein Traumberuf.”
Kurz bevor sie mit ihrer Familie in den Kosovo in die Ferien reist, bewirbt sie sich überall, wo sie geschnuppert hat. Am Nachmittag des letzten Schultags, die anderen Schüler sind längst heimgegangen, bittet sie ihre Lehrerin, die Bewerbungsunterlagen noch einmal durchzulesen. Erolinda will auf keinen Fall einen Fehler machen.
Auch wenn die Berufslehre erst im Sommer 2025 startet, werden viele Lehrstellen bereits dieses Jahr besetzt. Es gibt die ungeschriebene Regel, dass die Betriebe erst Ende Oktober, Anfang November die Lehrverträge ausstellen. Trotzdem gibt es Banken, Versicherungen und KV-Betriebe, die schon im Sommer Verträge abschließen und sich die besten Lehrlinge schnappen.
Im Juni 2024 hat Erolinda Angst, dass die guten Lehrstellen schnell weg sind. Kurz bevor sie mit ihrer Familie in den Kosovo in die Ferien reist, bewirbt sie sich überall, wo sie geschnuppert hat. Am Nachmittag des letzten Schultags, die anderen Schüler sind längst heimgegangen, bittet sie ihre Lehrerin, die Bewerbungsunterlagen noch einmal durchzulesen. Erolinda will auf keinen Fall einen Fehler machen.
“Ich habe mich elegant angezogen.”
Erolinda
Von der Axa Versicherung und der kantonalen Verwaltung wird Erolinda zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. “Ich habe mich elegant angezogen”, erzählt sie: ein helles T-Shirt, einen dunkelblauen Blazer und die schwarze Hose, die sie bei Familienfesten trägt. Nach dem Gespräch wurde sie draußen von der Mutter erwartet. “Es lief gut”, sagt Erolinda. Sie sei vorbereitet gewesen und habe auch Fragen gestellt. “In der Schule haben wir gelernt, dass man immer etwas fragen sollte.”
Dorina kommen plötzlich Zweifel
Während es bei Erolinda schnell vorangeht, zweifelt Dorina plötzlich. Sie, die immer wusste, dass sie Lehrerin werden will, ist sich nicht mehr sicher. Im Sommer war sie mit ihrer Familie drei Wochen im Kosovo. Jetzt hat das neue Schuljahr angefangen. “Ich habe gerade keine Lust, nochmals drei Jahre in die Schule zu gehen”, sagt Dorina. Trotzdem hat sie sich für die Aufnahmeprüfung an die Fachmittelschule angemeldet: “Ich habe meinen Eltern ja ein Jahr lang vorgejammert, dass ich unbedingt dorthin will!” Wenn sie frei wählen könnte, würde sie aber lieber eine Lehre im Spital oder in einer Ärztepraxis machen. Die vergangenen Monate seien streng gewesen. Mehrmals in der Woche hat Dorina online nach Lehrstellen gesucht, ging schnuppern, verschickte Bewerbungen. Zuletzt als medizinische Praxisassistentin und als Kauffrau, unter anderem bei einer Firma für Bühnenbau.
Ein Angestellter, der ihn von der Baustelle zurück ins Büro begleitet, fragt, ob er gerne bei ihnen arbeiten würde. Semir antwortet sofort: “Ja!” Wenige Tage später bekommt er eine Absage.
Im Oktober sitzt Semir in einem Ingenieurbüro in Schwanden an einem Computer und zeichnet Baupläne. Die TBF Marti AG hat eine Lehrstelle als Zeichner ausgeschrieben, sechs Jugendliche haben schon geschnuppert. Semir ist der letzte. Der Lehrlingsverantwortliche gibt ihm ein Dossier mit Übungen und erklärt, wie man Pläne liest und berechnet. Später bekommt er ein Paar Wanderschuhe und einen Helm, er darf mit auf eine Baustelle. Und Semir, der sonst zurückhaltend ist und scheu, blüht auf einmal auf. Er stellt Fragen, weiß ein paar Fachwörter, wirkt mit der Umgebung vertraut. Ein Angestellter, der ihn von der Baustelle zurück ins Büro begleitet, fragt, ob er gerne bei ihnen arbeiten würde. Semir antwortet sofort: “Ja!”
Wenige Tage später bekommt er eine Absage. In der Mail steht, dass Semir im Bewerbungsgespräch tolle Antworten gegeben und schlaue Fragen gestellt habe. Die Wahl fiel aber auf eine Schülerin, die alle Mathematikaufgaben lösen konnte.
Dorina hat die Aufnahmeprüfung an die Fachmittelschule schließlich nicht bestanden. Aber eine Zusage als Kauffrau erhalten.
Erolinda wird im Sommer im Büro der Kantonsverwaltung in Glarus beginnen. Als Erste in der Klasse hat sie eine Stelle gefunden.
Semir sucht weiter.