21. November 2024
Bildungsprioritäten

Mathematik ist substanzieller als neue schicke Turnhallen

Das schwache Bildungssystem gefährdet den Wohlstand Deutschlands. Wir brauchen mehr Tests, mehr Mathe und neue Zertifikate, meint Ludger Wößmann. Der Artikel ist zuerst im Handelsblatt erschienen.

Deutschland verfällt immer wieder ins gleiche Verhaltensmuster. Erst kommen die Pisa-Tests, dann die Ergebnisse, dann der Schock, dann die Empörung – und dann gerät all das schnell wieder in Vergessenheit. Das läuft seit vielen Jahren so. Deutschland fällt bei der Bildung seit Jahren zurück. Alle wissen, dass das ein großes Problem ist. Aber keiner tut so richtig etwas dagegen.

Gastautor Ludger Wößmann, Professor für Wirtschaftswissenschaften

Im Jahr 2000 war es zum ersten Pisa-Schock in Deutschland gekommen. Damals hatte das durchaus den Charakter eines Weckrufs, Gegenmaßnahmen wurden ergriffen. Doch nach wenigen Jahren war damit wieder Schluss. Seither rutscht Deutschland in den Pisa-Tests immer weiter ab. In der Coronazeit sind die Ergebnisse noch mal deutlich schlechter geworden.

Aber nicht nur das Niveau sinkt immer weiter, auch die Ungleichheit der Bildungschancen ist enorm. Von den Kindern von Alleinerziehenden ohne Abitur, mit Migrationshintergrund und aus dem unteren Einkommensbereich schafft es nur jedes fünfte auf ein Gymnasium. Haben beide Elternteile Abitur, hohes Einkommen und keinen Migrationshintergrund, gehen vier von fünf Kindern aufs Gymnasium. In Deutschland sind die Bildungschancen besonders ungleich. Deshalb ist gerade an diesen Stellen das Potenzial besonders groß.

Bildungserfolg braucht mehr Transparenz

Bildung ist der zentrale Faktor für Deutschlands langfristigen Wohlstand. Unterschiedliche langfristige Wachstumsraten lassen sich zu drei Vierteln mit dem Bildungshintergrund erklären. Entscheidend ist dabei nicht, wie lange jemand zur Schule geht, sondern, was er dort lernt.

Großangelegte Bildungsreformen wurden schon oft gefordert und ähnlich oft mit dem Argument abgelehnt, das sei halt alles Ländersache. Aber es gibt andere Wege, auf denen Deutschland viel bewegen könnte.

Statt immer drei Jahre auf den neuesten Pisa-Schock zu warten sollte Deutschland regelmäßige, einheitliche Bildungsniveautests einführen.

 

Statt immer drei Jahre auf den neuesten Pisa-Schock zu warten und das Thema in der Zwischenzeit der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entziehen, sollte Deutschland regelmäßige, einheitliche Bildungsniveautests einführen. Zwar gibt es zentrale Abschlussprüfungen, aber immer nur bundeslandweit.

Bei der Pisa-Auswertung ist der Bundesländer-Vergleich vor vielen Jahren abgeschafft worden, was ein Skandal ist. Vergleiche gibt es nur in großen Abständen. Stattdessen benötigen wir durchgehende Transparenz.

Die Kultusministerkonferenz sollte deshalb ein einheitliches Testsystem etablieren, das auch nach soziökonomischen Faktoren ausgewertet wird. Dann wird Bildung zwangsläufig auch ein entscheidendes Thema auf nationaler Ebene. Hamburg hat vor einigen Jahren eine konstante Messung schulischer Leistungen eingeführt. Das hat das Bildungsniveau dort deutlich verbessert.

Deutschkurse vor der Einschulung

Die deutsche Bildungsmisere zeigt sich ausgeprägt in den Basiskompetenzen: Lesen, Schreiben, Mathematik und Naturwissenschaften. Allein in der Coronazeit haben die deutschen Schülerinnen und Schüler in Mathematik ein Jahr verloren. Deswegen sollte in den Schulen ein klarer Fokus vor allem in diesen Bereichen gelegt werden – im Unterricht, bei Personal, Finanzierung, Messung und Förderung. Kinder sollten vor der Einschulung auf Deutschkenntnisse getestet werden und, sollten diese nicht ausreichend sein, einen verpflichtenden Deutschkurs vor der Einschulung machen müssen.

Ludger Wößmann: Gute Turnhallen und Betreuungsangebote sind natürlich auch wichtig. Aber zu oft werden die Basiskompetenzen dadurch vernachlässigt.

Es gibt einen Anreiz, stattdessen Geld für schöne neue Turnhallen und Betreuungsangebote am Nachmittag auszugeben. Das sind Dinge, die die Schulen vorzeigen können, die direkt sichtbar sind, die Eltern bei der Wahl der Schule für ihre Kinder überzeugen können. Gute Turnhallen und Betreuungsangebote sind natürlich auch wichtig. Aber zu oft werden die Basiskompetenzen dadurch vernachlässigt.

Neben der schulischen Bildung wird Weiterbildung immer wichtiger. Deutschland steht vor einem beispiellosen Strukturwandel. Digitalisierung und grüne Transformation machen es notwendig, dass sich viele Beschäftigte umorientieren und neue Qualifikationen erwerben.

Deutschland muss ein System für lebenslanges Lernen aufbauen.

 

Oft gibt es aber keine betriebsinternen Weiterbildungen, besonders in schrumpfenden Branchen. Schließlich würden die Unternehmen auf ihre Kosten weiterbilden, wovon dann andere Firmen profitieren, wenn die Beschäftigten dorthin abwandern.

Deswegen muss Deutschland ein System für lebenslanges Lernen aufbauen. Wir haben ein international beispielloses Ausbildungssystem etabliert. Das muss Vorbild für Weiterbildungen sein. Erforderlich sind einheitliche Zertifikate und Lerninhalte. Möglich machen kann das nur eine konzertierte Aktion, bei der Gewerkschaften, Arbeitgeberkammern, der Staat und private Anbieter gemeinsam vorgehen.

Die konkreten Handlungsempfehlungen:

  1. In Deutschland müssen bundesweite, einheitliche Tests für das Bildungsniveau eingeführt werden, die jedes Jahr stattfinden.
  2. Klarer Fokus auf die Kernkompetenzen Lesen, Schreiben, Mathe und Naturwissenschaften.
  3. Eine konzertierte Aktion muss einberufen werden, um ein einheitliches System für lebenslanges Lernen zu schaffen, analog zum dualen Ausbildungssystem.
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2 Kommentare

  1. Ja, das schwache Bildungssystem gefährdet den Wohlstand, und nein, wir brauchen nicht mehr Tests und keine neuen Zertifikate. Jede Klausur ist ein Test, und jedes Zeugnis ist ein Zertifikat. Was wir brauchen, ist auch nicht mehr (Pseudo-)Mathe, sondern eine Wiederbelebung der bewährten Schulmathematik.

    Die derzeitige mißliche Lage ist doch auf Drängen der OECD und der Bertelsmann-Stiftung entstanden, kommt also aus der wirtschaftswissenschaftlichen Ecke mit ihrem Wunsch, restlos alles quantifizierbar zu machen nach dem Motto: Quod non est in Excel, non est in mundo.

    Jetzt ahnen die Verursacher die Katastrophe und fordern mehr vom Falschen. Was noch fehlt, ist so eine Art Dolchstoßlegende.

  2. Vor einiger Zeit verkündete Herr Wößmann unter der Überschrift “Das gegliederte Schulwesen und die Nutzung des Humankapitals in der globalisierten Wirtschaft — oder: Gehört das gegliederte Schulsystem in den Mülleimer der Geschichte?” (man findet das im Internet) unter anderem:

    “Die „bürgerliche“ Einheitsschule, die allen Schichten ein
    Recht auf Teilhabe an guter Bildung gewährt, hat überall in Europa Einzug gehalten. Es geht dabei natürlich keineswegs um die Abschaffung des Gymnasiums, sondern lediglich um die Verschiebung der Aufteilung.”

    Dabei sind zwei Dinge bemerkenswert: erstens der Titel mit “Nutzung des Humankapitals” und zweitens etwas, das überall in Europa Einzug gehalten hat, nur in Deutschland nicht. Aber welche europäischen Nachbarländer stehen mit ihrer “Einheitsschule” denn nachhaltig besser da als Deutschland? Frankreich hat keine Gliederung im Schulsystem, sogar eine Vorschule und eine Ganztagsschule, 70 % eines Jahrgangs bekommen das Abitur (baccalauréat), angestrebt waren mal 80 %. Ja, und was ist dort besser? Vielleicht könnte Herr Wößmann über sein Ifo-Institut mal französische Kollegen fragen, ob sie zufrieden sind oder ob sie nicht dasselbe zu bemängeln haben, z.B. gibt es in Frankreich deutlich mehr Schulabbrecher als in Deutschland. Das könnte doch die Ökonomen interessieren. Und innerhalb Deutschlands hatte West-Berlin die 6-jährige Grundschule seit 1951, Ost-Berlin eine 8-jährige, später 10-jährige gemeinschaftliche Schule, aber heute steht Berlin gar nicht gut da bei Vergleichstests mit anderen Bundesländern, die die 4-jährige Grundschule haben. Gerade in Berlin gibt es viele, die am Ende ihrer Schulzeit kaum lesen und schreiben können. Mathematik kann dort übrigens im Abitur abgewählt werden.

    Jetzt schlägt Herr Wößmann vor, die Zügel etwas straffer zu ziehen und mehr Tests (Klassenarbeiten) schreiben zu lassen, speziell in Mathematik. Dabei hatte man doch in letzter Zeit die Zahl dieser Test eher abgesenkt und dafür das “Monitoring” mit den großen standardisierten Tests eingeführt. Zu befürchten ist eben auch, dass diejenigen Tests, die Herrn Wößmann vorschweben, nicht viel mit “Bildung” im klassischen Sinne zu tun haben werden, aber viel mit der “Nutzung des Humankapitals”. Zuvor hatte Herr Wößmann ja schon im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung in einer Studie PISA-Punkte in volkswirtschaftliche Euro-Milliarden umgerechnet (“Was unzureichende Bildung kostet”), auch das findet man leicht im Internet. Danach müsste Finnland eigentlich vor ökonomischer Kraft nur so strotzen.

    Auch Herr Wößmann betont ja die Wichtigkeit des Strukturwandels durch Digitalisierung. Ein paar obige Sätze von ihm kann man gut abwandeln:
    “Es gibt einen Anreiz, stattdessen Geld für schöne neue digitale Geräte auszugeben, z.B. elektronische Tafeln, Tablets und Lernvideos. Das sind Dinge, die die Schulen vorzeigen können, die direkt sichtbar sind, die Eltern bei der Wahl der Schule für ihre Kinder überzeugen können. […] Aber zu oft werden die Basiskompetenzen dadurch vernachlässigt.”
    Die angebliche Notwendigkeit einer hastigen Digitalisierung der Schulen wird weniger von Pädagogen als vielmehr von Ökonomen betont und natürlich von der “Zivilgesellschaft” in Gestalt des angeblich gemeinnützigen “Forum Bildung Digitalisierung”, das von den unternehmensnahen Stiftungen von Telekom, Bertelsmann, Dieter Schwarz, Holtzbrink, Heraeus, Joachim Herz, Robert Bosch, Siemens, Vodafone, Wübben gemeinsam betrieben wird:
    https://www.forumbd.de/verein/
    Siehe dazu auch den Beitrag “Wenn der Computer unterrichtet” hier bei condorcet.ch von Herrn Lankau.

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