4. November 2024
15 Jahre Reformpolitik

Eine ernüchternde Bilanz und wie wir da rauskommen

Für die Vertreter der Schulreformagenda sind es derzeit üble Tage. Sie befinden sich überall auf dem Rückzug, bzw. müssen Rechenschaft ablegen, weshalb es mit ihren Reformen nicht so hingehauen hat. Alain Pichard zieht – nicht das erste Mal – Bilanz und skizziert einen Weg aus der bildungspolitischen Sackgasse. Als Beispiel nennt er das FDP-Bildungspapier.

Blicken wir zurück: Die frühe Einschulung unserer Kinder mit zweijährigem Kindergarten bezahlen wir mit Kindergärtnerinnen, die neuerdings auch Windeln wechseln müssen, und Schülern, die mit 13 Jahren noch nicht reif für die Berufswahl und mit 15 noch nicht bereit sind, in einem Betrieb 8 Stunden lang zu stehen. Folge: Die Anmeldungen in die 10.  Schuljahre, (Neusprech: Berufswahlklassen) nimmt explosionsartig zu, die Betriebe klagen über mangelnden Nachwuchs.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Eine liberale Gesellschaft “irrt sich empor”.

Das Frühfranzösisch erwies sich als Desaster, weil sich sowohl das Konzept (Sprachbad) wie auch das dazu fabrizierte Lehrmittel (Mille Feuilles) als unbrauchbar erwiesen. Folge: Die Schüler sprechen, lesen und schreiben diese Sprache schlechter denn je. Französisch wurde zu einem eigentlichen Hassfach.

Die vielgelobte Kompetenzorientierung, die uns eine handlungsorientierte Didaktik anpries, in der es weniger auf Wissen als vielmehr auf Anwendung ankommen sollte, brachte uns schwurblige Lehrpläne und sinkende Schülerleistungen. Folge:  25% der Schüler können keinen einfachen Text mehr verstehen.

Das Zauberwort «individualisierter Unterricht» mit «Lerncoaches» sollte helfen, das Problem der zunehmenden Heterogenität zu lösen und die Schüler in motiviertere Lernende verwandeln. Aber Schüler sind keine Studenten und die vielgepriesenen selbstgesteuerten Lektionen verkommen zu reinem «Arbeitsblatt- oder Algorithmen- gesteuertem» Lernen ohne Substanz. Folge: Reduktion von Lerninhalten auf pure Anpassungsleistungen, zunehmender Rückzug aus der Verantwortung der Lehrtätigkeit, soziale Isolation während der Lernprozesse.

Die Idee der vollkommenen Integration, ja der Inklusion aller Schüler in den Regelunterricht brachte viele Lehrkräfte an ihre Belastungsgrenzen und sorgte für tumultuöse Unterrichtssituationen. Folge: Chaotische Lektionen und abnehmende Schülerleistungen.

Die Erhöhung der Lektionenzahl mit der Einführung des Lehrplans sorgte für müde Kinder am Ende einer Schulwoche, Musikschulen, die sich über abnehmende Schülerzahlen beklagen und eine Nachfrage nach Lehrkräften, die der Markt momentan gar nicht hergibt. Folge: In gewissen Regionen arbeitet schon ein Fünftel der Lehrkräfte ohne Ausbildung, was wiederum zu einer sinkenden Unterrichtsqualität führt.

Die Digitalisierung des Unterrichts erwies sich in vielen Fällen als konzeptlos, teuer und kontraproduktiv. Länder, die in der Digitalisierung forsch vorangingen, rudern entschieden zurück und erkennen, dass man sich auf einem Irrweg befand. Derzeit wird heftig über ein Handyverbot an Schulen diskutiert und in einigen Gemeinden werden die teuer installierten Whiteboards wieder herausgerissen und durch Wandtafeln ersetzt. Folge: ein entpersonalisierter Unterricht, Unterstufenschüler, die an Bildschirmen hängen, statt Bücher zu lesen.

Die Einführung der geleiteten Schulen und die Einsetzung von Schulleitungen mit weitgehender Ausschaltung der Basis, die Controlling-Gespräche der Bildungsverwaltung, die Dokumentationspflicht der Schulen und die Leitbilddiskussionen, führten zu einer uferlosen Bürokratisierung des Schulbetriebs. Folge: Unzählige Konzeptdiskussionen stehlen den Lehrkräften Zeit und Motivation und fördern die Produktion von Papieren, die in den Ordnern bzw. IClouds der Schulleitungen enden.

All diese Reformen wurden Top down durchgesetzt und kosteten Hunderte von Millionen Franken.

Die Reformer wenden in ihrem Rückzugsgefecht je nach Standpunkt zwei Strategien an:

Die Lehrerverbände und linken Parteien wollen die Dosis erhöhen, sprich, sie verlangen, noch mehr Geld in ein System zustecken, das derzeit noch nicht richtig funktionieren will.

Ein praxisfernes Netzwerk hat Zeit und Geld, die Schulen mit untauglichen Rezepten auf Trab zu halten.

Die Wissenschaft und deren Adlaten in der privaten Bildungsindustrie (Intrinsic, Mercator-Stiftung, Jakobs Foundation, VSLCH) bombardieren die Öffentlichkeit mit Durchhalteparolen und immer neuen Studien, welche die Richtigkeit dieser Reformen belegen sollen. Damit versuchen sie – munter unterstützt von einem Teil der Medien – ,  neue Reformdiskussionen zu eröffnen, welche die Aufmerksamkeit absorbieren und von den realen Problemen ablenken. Stichwort: Abschaffung der Noten, Abschaffung der Selektion, Abschaffung der Hausaufgaben, Abschaffung der Prüfungen.

Kritik ist ja nicht einfach, NEIN zu sagen, sondern zu hinterfragen und zu überprüfen, ob die Behauptungen und Aussagen überhaupt stimmen, oder ob getroffene Massnahmen wirken.

Diese zugegebenermassen etwas polemischen Zeilen stammen von einem Praktiker, der die Reformpolitik der vergangenen Jahre nicht grundsätzlich ablehnt. Denn Kritik ist ja nicht einfach, NEIN zu sagen, sondern zu hinterfragen und zu überprüfen, ob die Behauptungen und Aussagen überhaupt stimmen, oder ob getroffene Massnahmen wirken.

Eine liberale Gesellschaft strebt nicht die Heilslehre an, sie strebt nach Verbesserungen. Sie will nicht die gerechte Schule, sondern sucht, mit pragmatischen Schritten die heutige Situation zu verbessern.

Ich stehe nach wie vor zum Anliegen, möglichst viele Schüler in den Regelunterricht zu integrieren. Ich halte die Einführung der geleiteten Schulen immer noch für einen richtigen Schritt und lehne den Kompetenzgedanken und die Idee, den Output zu überprüfen nicht ab. Was den Reformen und vor allem den Reformern fehlt ist – abgesehen von ihrer penetranten ideologischen Argumentation -, die Bereitschaft, Entwicklungen kritisch zu hinterfragen, sich Diskussionen über die Wirkung  zu stellen und vor allem die Grösse, offensichtliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Mit anderen Worten, es fehlt das Korrektiv. Unser Namensgeber, der liberale Aufklärer und Mathematiker Jean-Marie de Condorcet mahnt den Diskurs an. Eine liberale Gesellschaft strebt nicht die Heilslehre an, sie strebt nach Verbesserungen. Sie will nicht die gerechte Schule, sondern sucht, mit pragmatischen Schritten die heutige Situation zu verbessern. Das geht nicht ohne Irrtümer. Aber im gemeinsamen Diskurs kann man Irrtümer erkennen, und sich quasi gemeinsam zu besseren Lösungen «emporirren». Voraussetzung ist natürlich, dass man sich Fehlentwicklungen auch eingestehen kann.

Bereit, Fehler einzugestehen.

Die Bildungsdiskussion verhärtet sich zusehends. Jüngstes Beispiel ist die Diskussion über das Bildungspapier der FDP. Es wurde von Seiten der Reformeiferer in Grund und Boden verdammt, ohne sich auf die wirklich bemerkenswerten und diskussionswürdigen Teile überhaupt einzulassen. Dabei hat es diese bürgerliche Partei, die in der jüngsten Vergangenheit fast alle Reformen mitgetragen hatte, fertiggebracht, einstige Überzeugungen nach gründlicher Überprüfung zu korrigieren. Auch in der Wahl seiner gemässigten Sprache bietet dieses Papier die Chance, Brücken zu bauen und die Reformer einzuladen, ohne Gesichtsverlust die Bildungspolitik in pragmatische Bahnen zu lenken.

Leider ziehen es die Reformer in den Verbänden, Bildungsforschungsinstitutionen, Bildungsverwaltungen und Parteien vor, sich auf ideologische Positionen zu versteifen und die schon während den Lehrplandiskussionen angewandte Methode der Diffamierung weiterhin zu pflegen. Dass dabei eine ganze Generation von Jugendlichen – vor allem die aus den unterprivilegierten Schichten – um ihre Bildungschancen gebracht werden, ficht sie nicht an.

 

 

 

 

 

 

 

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Condorcet-Autor Alain Pichard befindet sich – wie viele seiner Berufskolleginnen und -kollegen – im Abschlussstress. Zeugnisse, Abschlusstheater, Abschlussreise und das grosse Schulfest stehen bevor. Ja, und dann sind noch die Schüler, die alles verpatzt haben und einer Triagestelle gemeldet werden müssen.

Ein Kommentar

  1. Ich wiederhole mich, wenn ich feststelle, dass es im Schweizer Bildungselfenbeinturm an etwas nie gefehlt hat, nämlich an der nie versiegenden Quelle der Arroganz. Gekoppelt mit dem ubiquitär vorhandenen Narzissmus der im Turm “arbeitenden” Funktionäre wartet man vergeblich auf Eingeständnisse oder gar Entschuldigungen. Fehler zugeben? Fehlanzeige!
    Vor etwa 14 Jahren bin ich auf der Bühne der mit Baselbieter Lehrpersonen vollbesetzten Eishalle im Joggeli in Basel gestanden und habe als Mitglied des Vorstandes der Konferenz der Baselbieter Sekundarschulen einen sofortigen Reformstopp gefordert. Die nachfolgende Abstimmung darüber zeitigte einen Achtungserfolg, liess aber aufgrund der ausgezählten Stimmenthaltungen keine Zweifel aufkommen über die beinahe riechbare Angst in der Halle, das Pfötchen zu heben, weil zwei Reihen weiter hinten die entsprechende Schulleitung sass. Man kann es auch Feigheit nennen.
    Sodann ging es erst richtig los mit all den Rohrkrepierern, seien es Passepartout, Digitalisierung oder Leerplan 21 – die Falschschreibung ist beabsichtigt.
    Nordische Länder wie Finnland, Schweden oder Dänemark haben inzwischen bemerkt, dass sie mit der Digitalisierung der Schulen weit übers Ziel hinaus geschossen sind – in Deutschland und der Schweiz bleibt man diesbezüglich (vorerst) noch unbelehrbar. Solange, bis auch diese Sprengladung nach hinten losgeht…

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