16. September 2024
Integrationsdebatte

Eine sterile Debatte auf dem Buckel von Igor, Ramsi, Delia und Co.

Das Enkelkind von Alain Pichard ist seit kurzem eine stolze 1. Klässlerin und darf sich mit den Folgen einer verfehlten Integrationspolitik auseinandersetzen. Ebenso unser Condorcet-Autor, der sich sein ganzes Berufsleben lang für integrative Schulmodelle eingesetzt hat. Er tat dies meistens aus der Sicht der Praxis. Und er ist überzeugt, dass es pragmatische Lösungen gibt, den heutigen Irrweg zu beenden. Verhindert werden sie von Leuten, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben und viel Zeit haben. Dieser Artikel ist zuerst in der Weltwoche erschienen.

Wie es sich für ein Kind aus einem grosselterlichen Lehrermilieu gehört, ist meine Enkeltochter sehr sozial eingestellt und kann sich auch – wie es das überfachliche Kompetenzziel des LP21 wünscht – «situationsgemäss ausdrücken». Und weil sie auch mit Vielfalt umgehen kann (ebenfalls ein überfachliches Kompetenzziel des LP21) wurde sie bereits im Kindergarten zu Igor* abgestellt. «Ich musste mit Igor den Kompost raustragen, dann hat mich Igor in den Bauch gehauen und ist in den Kindergarten gerannt und hat die Türe zugeschlagen. Weisst du, wenn es Igor zu viel wird, vor allem am Ende des Morgens, dann macht er halt blöde Dinge!» Auf meine Frage, wie dann die Kindergärtnerin reagiert, wenn Igor «dumme Dinge» macht, meinte sie: «Dann muss er sich in eine Ecke setzen und Bücher anschauen. Er darf dann nicht mehr im Kreis sitzen. Dann setzt sich Frau B. (Hilfslehrkraft) zu ihm.»

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Sie tat so, als ob sie etwas lernen würde, und die Lehrer taten so, als ob sie das glaubten.

Inzwischen ist meine Enkelin eine stolze 1. Klässlerin, zusammen mit Igor. Von Igor spricht sie aber kaum mehr. Dafür von Ramsi*. Auch Ramsi wird es manchmal zu viel, aber nicht wie bei Igor, wenn der Schulmorgen zu lang wird, sondern bereits zu Beginn des Unterrichts. «Er schlägt uns Mädchen immer auf den Kopf und lacht dann», berichtete mein Grosskind. «Gestern gingen wir zur Turnhalle. Auf dem Weg zur Turnhalle schlug Ramsi mir auf den Kopf. Frau K. (Klassenlehrerin) war dann wütend und schimpfte mit Ramsi. Sie sagte ihm, dass er nicht mitturnen dürfe, wenn er das nochmal macht.»

«Und», fragte ich das Mädchen, «hat er das nochmals gemacht?» Sie lachte und sagte: «Er hat es in der Turnhalle immer wieder gemacht. Dann hat ihn Frau K. in die Garderobe geschickt. Frau M. (Hilfslehrerin) ist mit ihm in die Garderobe gegangen. Dann ist Ramsi ihr davongerannt. Frau M. hat ihn eingeholt und wieder in die Garderobe gebracht. Sie sagte ihm, er solle sich jetzt umziehen. Und dann hat Ramsi Frau M. geschlagen. Mitten ins Gesicht.» Ich fragte sie, was dann mit Ramsi passierte. Sie fuhr weiter: «Ramsi war am nächsten Tag nicht mehr da. Frau K. und Frau M. haben uns gesagt, dass Ramsi nicht mehr kommt. Dann sahen wir, wie Frau M.  eine Träne herunterlief. Gökan* stand auf, und umarmte Frau M. Dann standen wir alle auf und umarmten uns und unsere Lehrerinnen.»

Natürlich habe ich die Erzählungen alle verifiziert. Und im Amtsdeutsch lief alles noch eine Spur brutaler ab. Ramsi, ein syrisches Kind, dessen Vater vor kurzem gestorben ist, befindet sich in einem Timeout. Was mit ihm passieren wird, ist unklar. Therapeutische Plätze sind überbelegt und die Erziehungsberatung vollkommen ausgelastet.

Meine Enkelin stellt trocken fest: «Jetzt ist es etwas ruhiger und Frau M. hat mehr Zeit für Igor.»

In der gegenwärtigen Debatte um die Inklusion und die Integrationsfähigkeit unserer Volksschulen wird viel von Igors und Ramsis gesprochen. Es gibt aber auch noch Delia*. Delia wurde mir im Mathematikunterricht zugeteilt. Sie war ein sogenanntes «Pool1-Kind». Weil die früheren «Kleinklassen» auch in unserer Gemeinde zugunsten eines inkludierten Systems abgeschafft worden waren, sass sie nun in einer 7. Klasse der Sekundarstufe 1 und war im Fach Mathematik dem Realniveau zugeteilt. Man konnte Delia aber nicht mit den in dieser Stufe üblichen Aufgaben unterweisen, sondern musste für sie spezielle und angepasste Lerninhalte vorbereiten. Überdies hatte sie Anrecht auf eine individuelle Förderung durch eine Heilpädagogin. Die gab es aber in unserem Schulhaus nicht, trotz mehrfacher Ausschreibung. Deshalb übernahm eine sogenannte Stützlehrerin (sie hatte ein Primarlehrerpatent) die vier Lektionen Sonderbetreuung im Mathematikunterricht. Allerdings musste sich dieselbe Lehrkraft auch noch um zwei weitere Schüler kümmern, die eine rILZ-Verfügung hatten (reduzierte Lernziele).

In der ersten Lektion nahm ich sie während einer Stillarbeit nach vorne, zeigte ihr den Wandtafelmassstab – genau einen Meter lang – ging mit ihr zur Türe, stellte den Massstab in den Türrahmen und fragte sie: «Was meinst du, wie viele Male passt dieser Massstab in die Höhe dieser Türe?»

Delia benötigte eine physische Zahlenraumerfahrung

Sie antwortete: «Etwa zehn Mal!» Ich zeigte ihr, dass der Massstab zweimal und ein bisschen drüber in diesen Türrahmen hineinging. Was tun? Der heilpädagogische Werkzeugkasten bietet in diesen Fällen ein grosses Sortiment an didaktischen Massnahmen, welche das Verständnis fördern. Delia benötigte eine physische Zahlenraumerfahrung. Wir organisierten ein 10 Meter langes Packpapier, rollten es im Gang aus und liessen Delia darauf Meter und Zentimeter mit Filzstift markieren. Das dauerte fast zwei Lektionen. Danach marschierten die Stützlehrerin und Delia den ganzen Packpapierweg Hand in Hand mehrfach ab. Langsam realisierte das Mädchen, das übrigens zwei Jahre älter war als im Jahrgang üblich, die räumliche Dimension von 10 Metern. Delia blieb mehrheitlich von der Klasse isoliert. Einen Text über die Auswanderung lesen und Fragen beantworten? Die Mechanikgesetze von Newton verstehen? Unmöglich. Im Französisch und Englisch war sie dispensiert. Turnen war eine Qual für das leicht übergewichtige Mädchen. Zu Geburtstagsfesten wurde sie nie eingeladen. In Lagern war sie hingegen ein Sonnenschein, die Küche hatte sie bald voll im Griff. Delia schlägt niemandem auf den Kopf. Sie sitzt still in ihrem Pult und tut so, als ob sie etwas lernen würde. Und die Lehrkräfte taten bisher so, als ob sie es glaubten. Ich drängte mit Vehemenz auf eine Lösung, die den schulischen Lerneffekt von Delia fördern könnte.

Delia schlägt niemandem auf den Kopf. Sie sitzt still in ihrem Pult und tut so, als ob sie etwas lernen würde. Und die Lehrkräfte taten bisher so, als ob sie es glaubten.

Unsere Schule entschied sich für einen pragmatischen, aber illegalen Weg. Obwohl die Kleinklassen abgeschafft waren, gründete man schulhausintern eine sogenannte spezielle Lerngruppe, die im Büro der Stützlehrerin an ihren Programmen arbeitete. So blieben die Schüler mit Sonderbedarf in einigen Fächern integriert, nahmen an allen Schulanlässen teil und waren ein unbestrittener Teil des Schullebens.

Die Erklärung von Salamanca – Ein Missverständnis?

Wie schafften es Igor, Ramsi und Delia in denselben Regelklassen unterrichtet zu werden wie mein Enkelkind? Dazu müssen wir eine Zeitreise in eine der schönsten Städte Spaniens machen.  Vor dreissig Jahren trafen sich in Salamanca 300 Bildungsverantwortliche aus 92 Ländern zu einer UNESCO-Konferenz um Gutes zu tun.  In der Schlusserklärung hiess es anschliessend:

«Jedes Kind habe einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse. Am besten würden sich diese entwickeln, wenn man auf eine integrierende Gesellschaft aufbaue.»

Von da an begann ein eindrückliches Feldexperiment mit Tausenden von Schülerinnen und Schülern. Dozentinnen und Dozenten in den Hochschulen, Schulpsychologen, Verbandspolitiker und Bildungsforscher  sprachen von Chancen und humanen Bildungsprinzipien ohne die realen Folgen im Unterricht auch nur im geringsten zu bedenken.

Perfekte Pläne scheitern bekanntlich oft daran, dass die Wirklichkeit nicht perfekt ist. Als die Probleme immer augenfälliger wurden und Lehrkräfte schwierige Fälle am Laufmeter meldeten, erhöhte man die Diagnosefälle und übergoss den realexistierenden Unterricht mit immer mehr Stütz- und SOS-Lektionen. Eine Seelandgemeinde beansprucht derzeit für die ihre Primarstufe insgesamt 272 Lektionen Spezialunterricht was neun Klassen entspricht (von insgesamt 20 Klassenzügen).  In den Schulstuben herrscht ein Kommen und Gehen. Die eingesetzten Heilpädagoginnen, von denen die Mehrheit gar keine Heilpädagogen sind, bzw. kein Fachdiplom besitzen, kommen lektionenweise in die Unterrichtsstunden, sind oft viel zu wenig in den Unterricht eingebunden und fristen so ein Aussenseiterleben in einem Kollegium. Die Lehrkräfte in den Klassenzimmern ärgern sich über den zusätzlichen Koordinationsaufwand und über die Tatsache, dass da eine Kollegin in das Klassenzimmer kommt, die keinerlei Zusatzaufgaben hat wie sie die Klassenlehrperson sonst noch erledigen muss (Lagervorbereitungen, Materialbestellungen, Schulreisen, Zeugnisse, zahlreiche Elterngespräche usw.) und erst noch mehr verdient. Ganz abgesehen davon, dass in vielen Einsätzen der pädagogische Nutzen, sprich der Lernzuwachs der Schüler mit besonderem Förderbedarf, nicht befriedigend ist. So kam es, dass der integrative Unterricht in vielen Gegenden heute vor dem Kollaps steht.

Nun ist selbst dem sehr staatsnahen Lehrer- und Lehrerinnenverband, der Schulsynode Basel-Stadt, der Kragen geplatzt. Sie starteten eine Initiative zur Wiedereinführung von Förderklassen und reichten sie in Rekordzeit ein. Auch in Zürich wurde von den bürgerlichen Parteien eine ähnliche Initiative eingereicht. Der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband, die ganze PH-Riege, die Schulleitervereinigung und die unzähligen Interessenverbände für Logopädie, Dyskalkulie oder ADS wehren sich gegen «den Rückschritt ins pädagogische Mittelalter» und mahnen, wir erinnern uns, die UNESCO-Konvention von Salamanca einzuhalten. Natürlich darf die gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung nach noch mehr Ressourcen nie fehlen. Woher aber die Lehrkräfte für die geforderten kleineren Klassen oder die unzähligen benötigten Heilpädagoginnen kommen sollen, weiss niemand. Das gibt der Markt gar nicht her.

Pikant: Bei der UNO stand ursprünglich gar nicht eine “integrative Schule” zur Debatte, sondern “Bildung für alle”. Der frühere Basler Sonderschullehrer und Kritiker der Abschaffung von Kleinklassen, Roland Stark (SP) sagt: “In der UN-Konvention von Salamanca ist an keiner Stelle die Rede davon, dass Sonderschulen abzuschaffen seien. Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische Fragen, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.”

Mit Pragmatismus und etwas gesundem Menschenverstand könnte man das Problem der schiefgelaufenen Integration längstens in gesunde Bahnen lenken.

Die sterile Schwarz-Weiss-Debatte nützt niemandem.

Mit Pragmatismus und etwas gesundem Menschenverstand könnte man das Problem der schiefgelaufenen Integration längstens in gesunde Bahnen lenken. In der linken Stadt Biel gibt es immer noch Kleinklassen, und keiner hinterfragt sie. Sie sind vollkommen in das Schulleben integriert, der Wechsel in einzelnen Fächern wird  – wenn immer möglich – probeweise vollzogen, sie nehmen an Skilagern und am Angebot der Schule teil und geniessen sonst eine gezielte Förderung in einem geschützten Raum.

Es gibt kaum eine Lehrkraft, die wieder in die Zeit zurück will, in der unliebsame, langsame oder schwierige Kinder einfach in eine Sonderschule abgeschoben werden.

Das aber widerspricht der Ideologie der praxisfremden Hohepriester in den Büros der modernen Integrationstempel. Es drohen Gesichtsverlust und der Verlust von Weiterbildungskursen. Staatlich üppig alimentiert, brandmarken sie jeglichen Versuch, vernünftige Lösungen zu suchen und in begrenzten Fällen Förderklassen zuzulassen. Wer auch nur im Ansatz separative Lösungen vorschlägt, ist gegen Integration. Diese “Alles-oder-nichts”-Debatte wird vor allem von den Befürwortern einer absoluten Integration geführt. Es gibt kaum eine Lehrkraft, die wieder in die Zeit zurück will, in der unliebsame, langsame oder schwierige Kinder einfach in eine Sonderschule abgeschoben werden. Es braucht vernünftige Lösungen, die durch dieses penetrante schwarz-weiss-Denken verhindert werden.  Dieser sterile Diskurs wird  freilich auf dem Buckel von Igor, Ramsi, Delia und natürlich teilweise auch auf dem Buckel meiner Enkelin geführt. Gar nicht zu reden von den Lehrkräften in der Praxis, denen die tägliche Überforderung den Schlaf raubt.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Neue Wörter, neue Welt, neue Lehrer*innen und – der “super Markt”

Was ist ein Staatsexamen Wert, wenn Lehrer und Lehrerinnen sich von den Akteuren des Ed-Marktes belehren lassen müssen? Welchen Rang haben staatlich ausgebildete Erzieher*innen und Lehrer*innen, wenn sie sich in Konkurrenz begeben müssen mit selbstoptimierten jungen “Airport-Terminal-Ed-Experts”. Welche Wertschätzung genießen Lehrerinnen und Lehrer im Staatsdienst, wenn private Firmen durch Anglizismen futurisiert mit ihren: “Co-Founders Operation Sales and Strategy”, “Salesmanager Design”, “Heads of Products”, “Produktmanager”, “Frontend Development Manager”, “Backend Development Manager”, “CTOs” usw. sich anmaßen, Lehrerinnen und Lehrer “ändern” zu wollen? Neben dem Stand sollten wir um Umfeld mehrere Kuben aufstellen mit Boschaften Ich habe 10 Kuben in versciedener Grösse. Dort können wir Bilder draufkleben, und unsere Slogans vermitteln und rundherum aufstellen. Ausserdem finde ich, dass wir den Passanten ein Angebot machen sollten. Kaffee, Kuchen, Kommentarwand, ev. Zeichnungswand für Kinder, und Sitzgelegenheiten. Oben ein Transparent: Lasst uns über grünliberale Politik reden. Dr. phil. Norbert R. Vetter, Lehrer i. R. fragt sich das alles und gibt eine Antwort.

Bitte nicht nach Estland pilgern!

Zu Hunderten wallfahrten die Bildungsexperten einst nach Finnland. Sie suchten nach dem Geheimnis des europäischen PISA-Siegers. Jetzt ist es Estland. Die Antwort liegt in den eigenen Schulstuben. Davon ist Condorcet-Autor Carl Bossard überzeugt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert