Um das Ausmass der Kehrtwende zu begreifen, lohnt sich eine kleine historische Rückschau.
Als die Lehrerschaft an den Kleinklassen gegen die drohende Liquidierung ihrer Schule protestierte – vor fast 20 Jahren – empfahl der damalige Rektor Bruno Gadola, die Reformen als “Jungbrunnen” zu betrachten und versuchte in einem Brief, die Kritiker mit der banalen Bemerkung zu beruhigen, Veränderungen könnten halt Angst machen und häufig auch demotivieren. Dieses Muster setzte sich in den folgenden Jahren fort. Fundierte Argumente wurden als rückwärtsgerichteten Blick in vergangene Zeiten diskreditiert. Wer sich der karitativ-missionarischen Agitation der fundamentalistischen Integrationsbefürworter widersetzte, wurden Vorurteile, falsches Bewusstsein, Aberglaube, antiquiertes Denken und mangelnde geistige Beweglichkeit vorgeworfen.
Noch vor wenigen Monaten, in der Amtszeit von Erziehungsdirektor Conradin Cramer, wurde in einem regierungsrätlichen Dokument behauptet, “Stigmatisierung und Diskriminierung” gehörten zu den “nachgewiesenen Nachteilen” der Kleinklassen. In der Sendung 10 vor 10 erzählte der ED-Vorsteher von einer grossen Zahl von Schülerinnen und Schülern, die damals auf dem “Abstellgleis” gelandet seien, “versorgt” in Sonderklassen und ohne “Anschluss in die Berufswelt.” (SRF, 12.8.2022)
Und in der NZZ am Sonntag schreibt Barbara Fäh, die Rektorin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH), “Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten, die in einem separaten Schulsystem aufwachsen”, hätten “deutlich schlechtere Chancen, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.” (28. Juli 2024)
Emil E. Kobi, mein verehrter Dozent am Institut für Heilpädagogik in Basel, hätte die schönfärberischen Darstellungen der Integrativen Schule wohl als “romantisierenden Idealismus” bezeichnet.
Überwiegend ideologisch motivierte Aussagen
Die unvollständige Liste der überwiegend ideologisch motivierten Aussagen über die negativen und schädlichen Folgen eines separativen Schulangebots zeigt nicht nur den Argumentationsnotstand der Befürworter der Integrativen Schule, sondern vor allem, in welch erschreckendem Ausmass sich die Bildungsbürokratien und die Pädagogischen Hochschulen unterdessen von der schulischen Realität in den Klassenzimmern abgekoppelt haben.
Auf diese Fachleute trifft vollumfänglich zu, was Didi Hallervorden in einem etwas anderen Zusammenhang treffend karikiert hat:
“Experten sind Leute, die 99 Liebesstellungen kennen, aber kein einziges Mädchen.”
Den Warnhinweis “Kann Spuren von Realitätsverlust enthalten” müsste man allerdings auch dem oben lobend erwähnten Bericht der Bildungs- und Kulturkommission hinzufügen.
Keine Sabotage durch die Hintertür
Die BKK schreibt zu Recht, zentral sei, dass die Schulleitungen kein zu enges Korsett erhielten, was sie Förderklassen inhaltlich umsetzen respektive leisten müssten. Und weiter: “Es soll dem Standort, den Schulleitungen und dem Kollegium überlassen werden, ob Förderklassen eingesetzt und wie sie konzipiert werden sollen, damit auf spezifische Bedürfnisse eingegangen werden kann.”
Diese offene Formulierung darf allerdings kein Freibrief für die Schulleitungen sein, ein im Schulgesetz festgeschriebenes Angebot durch die Hintertür zu sabotieren. Als abschreckendes Beispiel nenne ich die Einführungsklassen, deren “Wiederbelebung” der Grosse Rat nach ausführlicher Beratung beschlossen hat, die aber nach wie vor nur auf dem Papier existieren. “Teilautonome Schule” kann nicht bedeuten, dass sich die Schulleitungen um rechtsgültige Parlamentsbeschlüsse foutieren dürfen. Dies müsste ihnen der neue ED-Vorsteher Mustafa Atici notfalls klar machen.
So simpel und einfach, wie sich das die Mitglieder der BKK allerdings vorstellen, lassen sich die Probleme der Schülerinnen und Schüler in der Praxis vor Ort nicht definieren.
Fast noch stossender im Bericht ist der Passus, in dem beschrieben wird, welche Schülerinnen und Schüler in die Förderklassen aufgenommen werden sollen. Nicht geeignet seien Schülerinnen und Schüler mit auffälligem Verhalten, welche nicht auf Lernschwächen zurückzuführen seien. Ebenso nicht geeignet seien Schüler mit primär sozialen Auffälligkeiten oder akuten Krisen.
So simpel und einfach, wie sich das die Mitglieder der BKK allerdings vorstellen, lassen sich die Probleme der Schülerinnen und Schüler in der Praxis vor Ort nicht definieren. Die Diagnosen sind wesentlich komplizierter, differenzierter und Ursache und Wirkung sind nicht immer klar zu erkennen.
Ruhige Arbeitsatmosphäre für Verhaltensauffällige
Nicht die Kinder und Jugendlichen mit klar bestimmbaren Schwierigkeiten sind häufig das Problem, sondern jene mit sozialen und emotionalen Störungen. Sie sind intelligent, können aber ihr vorhandenes Potential nicht abrufen, es fehlt ihnen an Konzentration, Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Dies äussert sich dann häufig in Verhaltensauffälligkeiten. Ihnen würde ein separatives Angebot in einer Förderklasse mit ruhiger Arbeitsatmosphäre und durchgehender heilpädagogischer Förderung mehr helfen als eine nur formal bestehende Integration in der Regelklasse.
Die bereits in der Primarschule viel zu zahlreichen Bezugspersonen, teilweise über ein halbes Dutzend Lehrkräfte und Spezialisten aller Art und der ständige Wechsel des Settings verschärfen die Probleme der Schülerinnen und Schüler. Ein Klassenzimmer sollte sich von einer belebten Bahnhofshalle merklich unterscheiden.
Auch in diesem Bereich ist eine Klarstellung des Erziehungsdepartements notwendig.
Schlussendlich bleibt aber die Kernaussage, dass der Vorschlag der Bildungs- und Kulturkommission einen grossen Fortschritt darstellt und geeignet ist, bildungspolitische Gräben auf eine pragmatische, realitätsbezogene Art und Weise zuzuschütten. Nun ist der Grosse Rat am Zuge. Das Ergebnis wird das Komitee der Förderklassen-Initiative im Herbst bewerten.