5. Oktober 2024
Eine anekdotische Evidenz

Gedanken zur aphoristisch verkürzten, «flapsig formulierten» Aussage über linke und rechte Lehrer mit dem Konträren auf Schülerseite

Das Stimmverhalten der Jugendlichen bewegt auch unsere Leserinnen und Leser. Condorcet-Autor Carl Bossard hat die Flappsigkeit der Aussage von Meinungsforscher mit einem gewissen Amüsement entgegengenommen, attestiert aber der These gleichwohl eine gewisse Plausibilität.

Etwas hat das schon! Schüler wollen Widerstand erfahren. Auch Widerstand leisten. Und Widerstand braucht Gegenhaltendes, Widerständiges eben, braucht die andere Seite, das Konträre.

Wie waren wir denn, damals, 1968? Bei primär «rechten» Lehrern.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Aufgewachsen bin ich im Universum der Kleinstadt Zug. Es war ein Leben fast nach dem Rhythmus der Kirchenglocken. Sie läuteten nicht nur, sie gaben auch den Ton an. Aufwachsen in der katholisch-tridentinisch geprägten Welt des Städtchens Zug hiess gross werden im manichäischen Weltbild von Gut und Böse, fleissig und faul, korrekt und nonkonform. Das Weltgericht über dem Chorbogen in der St. Oswald Kirche wies den Weg: hier die Gottesfürchtigen – dort die Sündigen. Es war das imposante Gemälde mit dem „Jüngsten Gericht“, gemalt vom Kirchenmaler Melchior Paul von Deschwanden. Die Hierarchie von Himmel, Fegefeuer und Hölle war gottgegeben. Wir wussten genau, warum wir auf der Welt waren. Der Katechismus deklarierte es: „Wir sind auf der Erde, um Gott zu gefallen, ein anständiges Leben zu führen und einmal in den Himmel zu kommen.“ Leitwert für den Alltag. Die Sinnfrage war gegeben. In der Vertikalspannung – die Spannung zwischen uns selber und dem Höheren, die Verbindung zwischen unserem eigenen Leben und den ewigen Ideen.

 

St. Oswald Kirche Stadt Zug: „Das Jüngste Gericht“ von Melchior Paul von Deschwanden

Im Gottesdienst wie in der Badeanstalt waren Männlein und Weiblein getrennt. In der Schule sowieso. Die Knaben beim imposanten Vordereingang, die Mädchen bescheiden hinten. Die beiden Geschlechter auf sichere Distanz voneinander gesondert. ‘Gügsle’ strengstens verboten. Die Lehrer hielten pedantisch Aufsicht. Doch wir alle wissen: Am Widerstand wird man reif, nicht an Watte und Wolle.

Wir gingen zu Fräulein Emma Giger zur Schule. Gestreng war sie und gerecht. Die weltlichen Lehrerinnen brachten es aber nur bis zur zweiten Klasse. Für sie galt im Übrigen der pädagogische Zölibat. Darum blieben sie ledig, blieben Fräuleins. Ein Leben lang. Ausser sie heirateten und gaben den Beruf auf.

Die grosse Stiege des Neustadt-Schulhauses.

Ab dem dritten Jahr wurde die Schule männlich. Nur noch maskuline Wesen. Zur Bildung stiegen wir empor. Die grosse Stiege des Neustadt-Schulhauses. Der Bergaufprozess als Metapher fürs Lernen. Der Lehrer begrüsste uns oben am Ende der Treppe bei der imposanten Eingangstüre. Im Schulzimmer wartete die 50-köpfige Schar auf ihn. Einer horchte. War er im Anmarsch, schnellten wir hoch. Er kam, trat ein, schritt würdig zum Katheder, stieg die Stufe hoch, legte den Kittel auf die Stuhllehne. Dann blickte er in die Schülerschar und sagte militärisch knapp: „Setzen!“

  Wir 50 sassen im engen Raum; mucksmäuschenstill war es. Der Lehrer auf dem Thron, wir in den Holzbänken. Er kommandierte, und wir gehorchten; er fragte, und es wurde geantwortet; er sprach „ruhig!“, und es ward still. Kein Widerspruch, kein Aufmüpfen. Die Disziplin war fast preussisch, das Turnen militärisch, die Ordnung straff, der Unterricht anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab.

Die Lehrer waren fachliche Autoritäten, oft vernarrt und verbohrt in ihr Fach – die meisten streng und eher konservativ, einige von ihnen liberal. Sicher eher rechts.

Es war eine männliche Schule – auch die Kantonsschule. Die Lehrer waren fachliche Autoritäten, oft vernarrt und verbohrt in ihr Fach – die meisten streng und eher konservativ, einige von ihnen liberal. Sicher eher rechts.

1968 bestand ich in Zug die Matura – mit Mao-Plakaten zogen wir durch die Stadt Zug und skandierten: «Hồ-Hồ-Hồ Chí Minh! – Hü-Hü-Hürlimann!» Hans Hürlimann war unser kantonalzugerischer Erziehungsdirektor und späterer Bundesrat. Wir fühlten uns links. Und zwar aus Prinzip. Wir mussten es sein – nur schon aus Distinktions-Gründen. Pierre Bourdieu lässt grüssen.

 

 

 

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3 Kommentare

  1. Big smile!
    Nicht dass wir uns jene Zustände buchstabengetreu zurückwünschten. Angesichts der disziplinarischen Verwahrlosung in den Schulen und zuhause fragt man sich aber doch: War wirklich alles falsch dannzumal?

  2. Eigentlich ist es Schade, dass sich kein einziger Kommentar zu dieser “historisch” geprägten Evidenz findet. Obwohl ich rein staatlich organisierte basel-städtische Schulen vor rund sechzig Jahren besuchte und erfolgreich abschloss, stimmt die Beschreibung der damaligen Verhältnisse perfekt. Danke. Macht bei “Condorcet” weiter so.

    1. Extreme Grundhaltungen von Klassenlehrkräften fordern viele Jugendliche zweifellos heraus. Wer einer Einseitigkeit in der Weltanschauung länger ausgesetzt ist, wird Gegenpositionen suchen und übernehmen. Als Schüler habe ich aber meine wichtigsten Lehrerinnen- und Lehrer als politisch gemässigt erlebt. Sie waren oft linksliberal orientiert und hatten eine ausgeprägte soziale Ader. Das reizte mich kaum zu heftigem Widerspruch.

      Von Bedeutung scheint mir, dass Lehrkräfte eine politische Haltung haben und die Schüler für politische Fragen sensibilisieren. Leider stelle ich bei manchen, meist jüngeren Lehrkräften fest, dass sie grosse Bedenken haben, sich in politischen und gesellschaftlichen Fragen überhaupt zu positionieren. Viele lehnen beispielsweise einen narrativen Geschichtsunterricht ab, weil sie der stets vorhandenen subjektiven Prägung jeder Erzählung zutiefst misstrauen. Sie glauben nicht daran, dass ein kritisch geschulter Geist genug Offenheit besitzt, um das geschichtliche Geschehen aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Es fehlt letztlich der Mut, sich zu politischen Grundfragen zu äussern und gleichzeitig einen gesunden Widerstand von der Schülerseite zu akzeptieren.

      Unsere Demokratie sollte dankbar sein für Lehrerpersönlichkeiten, die mit ihrem lebendigen Vorbild den Schülern zeigen, dass man respektvoll eine Meinung vertreten kann. Die Schüler wollen wissen, welche Werte ihr Klassenlehrer vertritt, ohne dass dieser dabei offen oder verdeckt mit seiner Haltung missioniert. Graue Mäuse ohne Profil gibt es mehr als genug. Im Lehrerberuf braucht es keine Ausführenden, sondern Menschen mit unternehmerischem Mut und sozialer Verantwortung. Es ist daher enorm wichtig, dass an den Pädagogischen Hochschulen der Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit mehr Beachtung geschenkt wird. Die Studierenden müssen ermutigt werden, “sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen” (Kant). Das erlaubt ihnen, politische Botschaften besser einzuschätzen und andere Meinungen zu respektieren.

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