8. September 2024
Bildungsniveau

Bildungsentwicklung in der Schweiz – quo vadis?

«Bildung ist unser Erdöl1.» – Der Wohlstand in unserem Land beruhte viele Jahre auf unseren Köpfen. Nun scheint – in metaphorischem Sinn – das Erdöl zu versiegen. Es scheint mir, dass die Bildungsentwicklung in der Schweiz auf eine Sackgasse zuläuft. Auf jeder Stufe ist das Bildungsniveau am Sinken. Damit steht nicht allein der einzelne Bildungsmensch im Fokus, sondern gleichsam auch das System, welches erlaubt und dazu führt, dass heutzutage eine «Durchschlängelung» möglich ist, um trotzdem einigermassen ans Ziel zu gelangen. Das frühere Bestreben, ein persönliches Top-Portfolio zu erzielen, hat an Wert verloren. Der abnehmende Bildungsstand für unser Land wichtigen Mittelschicht ist besorgniserregend. Unser neuer Condorcet-Autor Niklaus Gerber warnt vor einer bedenklichen Entwicklung.

Das Bildungssystem krankt zum einen hinsichtlich der sinkenden Leistungsanforderungen auf jeder Stufe, zum andern bei den strukturellen Gegebenheiten.

Die kaskadische Absenkung der Leistungsanforderungen
Im grössten Teil des Bildungskuchens, wo die die schulische Bildung ihren Anfang nimmt, werden bisherige Erfolgsfaktoren auf den Kopf gestellt. So genannte Reformpädagoginnen und -pädagogen drängen die Bildungsbehörden dazu, Noten abzuschaffen, (Sach-)Wissen als unnötig zu erklären, neue pädagogische Konzepte einzuführen. Die Aufzählung ist nicht abschliessend. Die Forderungen werden unter anderem mit gesellschaftlichen Entwicklungen begründet. Anpassung heisst die Devise.

Niklaus Gerber, war bis zu seiner Pensionierung im August 2021 Abteilungsleiter und Mitglied der gibb-Schulleitung und hat sich mit NORDWÄRTS – Kompass für kompetente Führung selbständig gemacht.
www.nord-waerts.com

Viele Lehrpersonen kehren der Volksschule unter anderem wegen dieser «Reformitis» den Rücken. Ihre Rolle heisst nicht mehr Lehrer/in, sondern Coach, Begleiter/in, Moderator/in usw. Statt einen langjährig erprobten und qualitativ hochwertigen Ausbildungsweg mit den Schülerinnen und Schülern gehen zu können, müssen sie im Unterricht ständig Neuerungen einführen. Diese stützen sich angeblich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, die modern tönen, oft fragwürdig sind und alles Frühere als rückwärtsgewandt taxieren.
Aufgrund der Fülle des Lehrplan 21 (LP21)2 entsteht mehrheitlich nur noch eine oberflächliche Kompetenzreife mit wenig Tiefgang. Die Lehrpersonen stehen unter Erfüllungsdruck, weil alle wünschbaren Ziele und Inhalte zumindest irgendwie berührt werden müssen. Verstärkend wirkt der Hausaufgabenwegfall3. Repetition, Übung und Festigung des Lernstoffs bleiben auf der Strecke. In der Bilanz ist der Output an den Volksschulen schlechter geworden. Als Beispiel haben sich die Grundkompetenzen in Mathematik und der Erstsprache Deutsch auf einen niedrigen und sorgenvollen Stand zubewegt.
Auf den anschliessenden Bildungsstufen setzen sich die aufgestauten Defizite fort:

1. Berufsbildung. – In den Ausbildungsbetrieben wird der dringend benötigte Berufsnachwuchs immer leistungsschwächer. Das zeigt sich bei der Lernenden-Auswahl und in der Folge während der Lehrzeit, in der es bei jedem vierten Lehrvertrag eine Mutation5 braucht.

2. Gymnasien. – Die teilweise niedrigen und kantonal unterschiedlichen Übertrittsmodelle und -quoten von der Volksschule in ein Gymnasium führen dazu, dass bis mehr als die Hälfte das erste Jahr repetieren müssen oder rausfliegen. An der Maturaprüfung im Fach Mathematik hat jede/r zweite eine ungenügende und jede/r fünfte eine massiv ungenügende bis unbrauchbare Note.

3. Universitäten. – Wer als Maturand/in an die Uni geht, braucht für viele Studienfächer fundierte Mathematikkenntnisse. Stichwort ist die Statistik, welche die Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens ist. Hier ist – bei fehlenden Mathematikkompetenzen – das Scheitern vorprogrammiert. Viele Drop-Outer sind die Folge.

Bologna-Reform: Arbeitsmarktfähigkeit und Mobilität beginnt zu bröckeln.

Mit dem Bologna-Prozess wurde 1999 für die oberste Stufe des europäischen Bildungssystems unter anderem das ECTS-Punktesystem6 eingeführt. Dieses findet Anwendung bei der Beurteilung von Studienleistungen, beispielsweise bei der Titelvergabe Bachelor und Master. Seither sind 25 Jahre vergangen. Eine der ursprünglichen Ideen, aufgrund der europaweiten Vereinheitlichung der Lehrgänge den Studierenden Mobilität zu ermöglichen, beginnt zu bröckeln. Grund ist die unterschiedliche Qualität der Studiengänge. Nach einem Vierteljahrhundert Erfahrung stellt man fest, dass beispielweise Bachelorabschlüsse in den verschiedenen EU-Ländern nicht das gleich hohe Niveau aufweisen. Universitäten und Hochschulen beginnen die «fremden» Bildungsabschlüsse anzuzweifeln und führen für die Masterausbildung an ihren Institutionen Aufnahmeprüfungen durch. Damit wird die ursprüngliche Mobilitätsidee durchlöchert. Diese Problematik rund um die ECTS-Credits zeigt auch, dass Studierende zu Punktesammler/innen werden. Sie wählen entsprechende Studienrichtungen und -fächer aus und optimieren ihre Studienleistung nach dem Motto «Mit wenig Aufwand zu möglichst vielen ECTS-Punkten». Die Ganzheitlichkeit eines Studiums wird damit gefährdet.

Die früheren Tugenden, mit Anstrengung und Durchhaltewillen gute schulische Leistungen zu erbringen, wird verwässert. Problematisch ist hier, dass unser Bildungssystem diese Entwicklung zulässt.

Das heterogene Bildungssystem der Schweiz
Die Haltung vieler Kinder, Jugendlichen und Studierenden – hier ist auch die junge Generation an Eltern mit gemeint – lehnt sich heute an das erwähnte Motto an. Die früheren Tugenden, mit Anstrengung und Durchhaltewillen gute schulische Leistungen zu erbringen, wird verwässert. Problematisch ist hier, dass unser Bildungssystem diese Entwicklung zulässt. Längerfristig wird das Ergebnis nur noch Durchschnitt sein; mit wenigen sehr guten Leistungsträger/innen und einer grossen Zahl an mittelmässig gebildeten Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft.
Wir leisten uns in der Schweiz den Luxus von 26 Bildungssystemen. Die nachstehende Zahlenbetrachtung zeigt die Kleinkariertheit: Die Fläche unseres Landes beträgt 41’285 Quadratkilometer (km2). Dividiert man diese Zahl durch die erwähnte Anzahl Kantone, entsteht eine Fläche von 1’588 km2 resp. ein Quadrat von durchschnittlich 40 x 40 Kilometern für jeden Kanton. Die kantonale Schulhoheit führt dazu, dass Kinder, Jugendliche und Studierende grundsätzlich unterschiedlichen Massstäben ausgesetzt sind. Das ist absurd und der selbsternannten Bildungsnation nicht würdig. In jedem Kanton existieren andere Löhne, andere Übertrittsverfahren, andere Beurteilungskonzepte, andere Stoffpläne, andere pädagogische und methodisch-didaktische Ansätze, andere Qualitätssysteme, usw. – Die Heterogenität ist nicht zu überbieten.

Fazit
Dass sich jetzt die Politik in die Bildung einmischt, war zu erwarten. Die fortlaufende und aufgezeigte Negativspirale in der Bildung muss gestoppt werden. Und zwar schweizweit. Eine Rückbesinnung auf die Gelingensfaktoren erfolgreicher Bildung ist nötig.

1 Dreyfuss, Jürg., Philosoph, Tag der Bildung, 2003
2 Der LP21 harmonisiert seit 2014 als gemeinsamer Lehrplan die Volksschule in 21 Kantonen der Deutschschweiz. Die Westschweizer-Kantone und der Kanton Tessin machen nicht mit.
3 Der Hausaufgabenwegfall wurde mit der Erhöhung der Anzahl Lektionen im Lehrplan 21 begründet. Diese Mehrzeit wird jedoch mehrheitlich durch die Bearbeitung des grossen Stoffvolumens benötigt. Solide Repetitionen, Vertiefungen und Festigungen bleiben aus.
4 Ein Viertel der Schüler/innen kann nicht genügend lesen, einfache Mathematikaufgaben bekunden Mühe. Quelle: «An den Schulen rumpelt es, wie noch nie.», Tagesgespräch SRF vom 20.3.24 SRF mit Katharina Maag Merki, https://www.srf.ch/news/schweiz/volksschule-im-fokus-bildungsforscherin-wir-haben-ein-riesiges-problem (Abruf 26.03.2024)
5 Mutationen sind vor allem Lehrjahrwiederholungen, Berufswechsel, Ausbildungsbetriebswechsel und Lehrabbrüche.

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2 Kommentare

  1. Das ist einer der besten und klarsten Berichte, den ich hier gelesen habe. Herr Gerber spricht mir aus dem Herzen. Als Wiedereinsteiger mit x Jahren Führungserfahrung in der Privatwirtschaft kann ich nur unterschreiben was Herr Gerber geschrieben hat. Aber was tun, um diese stupide Entwicklung zu bremsen, und um diesen sektiererischen „Bildungswahrheiten“ der PH‘s und kantonalen Bildungsinstitutionen entgegen zu wirken?

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