Wer wie die Schreibende einen grossen Bruder hat, hat vielleicht einen anderen Zugang zur Schule als jene, die eine andere Familienkonstellation haben. Dass der Bruder Dinge lernen durfte, die der gut drei Jahre jüngeren Schwester noch verwehrt waren, befeuerte den Ehrgeiz, dem grossen Bruder nachzueifern. Es konnte doch nicht sein, dass er etwas besser konnte! Man könnte das die Energie des geschwisterlichen Wettbewerbs nennen, der ausschliesslich beflügelte und nie verbissen geführt wurde.
Pacemaker für den Denksport
Diese Energie bestimmte die gesamte Schulzeit der Schreibenden. Der Bruder war sozusagen das, was der Pacemaker für die Athleten eines 10’000-Meter-Laufes ist. Der Wettbewerb und das Teamwork zwischen den Geschwistern bestimmte mehr als alle anderen Einflüsse bis zur Matura die Haltung zur Schule und zum Lernen.
Doch zurück zur Primarschülerin. 31 Kinder waren wir damals in der 1. Klasse im Schulhaus Auhof im Zürcher Arbeiterquartier Schwamendingen. Die Zahl 31 ist deshalb verbrieft, weil sich unsere Lehrerin, Frau G., die vielen Namen in ihrer neuen Klasse nicht merken konnte oder wollte. Und so nummerierte sie uns einfach in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen durch. Die Schreibende war die Letzte in dieser Reihenfolge und markierte mit ihrer Nummer 31 deshalb auch die Klassengrösse.
Alle Hefte, Farbstifte und Bücher sowie die Sportsachen mussten mit der eigenen Nummer versehen werden. Bald identifizierten wir uns mit unserer Zahl, entwickelten eine Art Nummernstolz. Die Nummer wurde quasi zum Alter Ego und sollte stets im besten Lichte stehen. Die Nummer verpflichtete. Auch die Klassengrösse war für uns kein Problem und die Tatsache, dass wir nur eine einzige Lehrerin hatten, war nicht der Rede wert. Umso mehr konzentrierten wir uns auf unsere einzige Lehrerin. Und ja, die meisten von uns wollten ihr gefallen.
Die Vorstellung, nach heutiger Mode ständig von irgendwelchen Aufsichtspersonen oder Computerprogrammen gehütet, gehätschelt, befürsorgt und für jede jugendliche Spinnerei pathologisiert und therapiert zu werden, hätte wohl keinem von uns Freude gemacht.
Normal waren auch wir Kinder. Auch wenn in Schwamendingen der Anteil Fremdsprachiger schon damals relativ hoch war, so wollten doch alle das Gleiche: schreiben, lesen und rechnen lernen, um später einmal einen tollen Beruf zu erlernen und reich zu werden. Die Vorstellung, nach heutiger Mode ständig von irgendwelchen Aufsichtspersonen oder Computerprogrammen gehütet, gehätschelt, befürsorgt und für jede jugendliche Spinnerei pathologisiert und therapiert zu werden, hätte wohl keinem von uns Freude gemacht.
Das Scheitern, so bitter es im Moment auch sein mag, gehört zu den existentiellen Erfahrungen im Leben, und am besten lernt man es im geschützten Rahmen der Schule oder im Sportverein.
Noten machen glücklich!
Freude machten hingegen gute Noten. Man könnte sogar behaupten, nichts mache ein Schulkind glücklicher als eine ehrlich verdiente gute Note. Eine solche Note ist nicht nur irgendeine Zahl. Sie ist eine Belohnung und lässt das Hirn Glückshormone ausschütten, ein Gefühl, das man nicht kaufen, nur verdienen kann. Wer Noten abschaffen möchte, nimmt den Schulkindern nicht zuletzt die Möglichkeit, diese beglückende Erfahrung zu machen, die im Übrigen nicht nur im Moment glücklich macht, sondern zum Weitermachen anspornt.
Wo es Licht gibt, gibt es auch Schatten. Deshalb gehören alle in der Schule auch mal zu den Schlechten. Selbst Einstein oder Churchill wurden davon nicht verschont. Das ist völlig normal und bedarf keiner sozialpädagogischen Überreaktion. Das Scheitern, so bitter es im Moment auch sein mag, gehört zu den existentiellen Erfahrungen im Leben, und am besten lernt man es im geschützten Rahmen der Schule oder im Sportverein. Mit der realitätsfremden Idee, den Kindern jegliches negative Erlebnis in der Schulzeit zu ersparen, tut man den späteren Erwachsenen jedenfalls keinen Gefallen; man erzieht sie geradezu zur Lebensuntauglichkeit und zum ewig therapiebedürftigen Problemhaufen.
Ein Komplettversagen in ihrer Paradedisziplin, dem Aufsatzschreiben, ist der Schreibenden noch heute in lebhafter Erinnerung. Aufsatzthema war unser Besuch einer Probe im Theater am Neumarkt. Obwohl das Aufsatzschreiben zuverlässig Fünfeinhalber oder Sechser eintrug, wollte es dieses Mal nicht klappen. Der Einstieg war miserabel. Im zweiten Abschnitt wurde es nicht besser, und schliesslich ging der ganze Text im Chaos auf. Es folgte ein unerbittliches, aber gerechtes Urteil des Lehrers, notabene vor der ganzen Klasse. Und es sollte der Gescheiterten eine Lehre sein – und ein Ansporn, es das nächste Mal wieder besser zu machen. Dass man aus Fehlern klug wird, ist keine hohle Phrase. Deshalb ist auch das Scheitern in der Schule zentral für das gedeihliche Erwachsenwerden.
Zurück zur Normalität!
Nicht alle negativen Erfahrungen haben indes Positives bewirkt. Im Französischunterricht liess uns der Lehrer regelmässig aufstehen und Verben in allen möglichen Aggregatszuständen durchkonjugieren. Die einen bekamen einfachere Aufgaben, die anderen schwierigere, der Zufall führte Regie. Wer es richtig machte, durfte sich setzen und war gerettet. Das alles erzeugte einen enormen sozialen Druck, niemand wollte der Letzte sein, der noch stand, oder derjenige, der wegen Fehlern stehenbleiben musste. Das Spiel mit dem Blossstellen empfanden wir als Qual. Es machte das Französisch zum Fach des Schreckens, was bis heute Spuren hinterlassen hat.
Gleichwohl haben wir allesamt die Schule ganz normal absolviert und ebenso als ganz normale junge Leute mit meistens recht normalen Zeugnissen verlassen. Aus allen ist mehr oder weniger etwas Normales im besten Sinne geworden, soweit die Schreibende davon Kenntnis hat.
Die Schule scheint nur so von potenziellen Problemfällen zu strotzen, von Schulschwänzern, Leseschwachen, Verhaltensoriginellen, Diskriminierten, Traumatisierten, Corona-Geschädigten oder Hochbegabten, und alle werden sie professionell betreut.
Doch was ist eigentlich normal? Glaubt man den Medienberichten, ist die Schule heute im Unterschied zu früher fast nur noch ein Problemverwaltungsinstitut. Oder anders gesagt: Wer heute in der Schule normal ist, ist nicht ganz normal. Das Spezielle ist heute das pädagogische Leitmotiv und zwar eines, das von einer prosperierenden Sozialindustrie erfolgreich bewirtschaftet wird. Die Schule scheint nur so von potenziellen Problemfällen zu strotzen, von Schulschwänzern, Leseschwachen, Verhaltensoriginellen, Diskriminierten, Traumatisierten, Corona-Geschädigten oder Hochbegabten, und alle werden sie professionell betreut. Das Normale, das keiner Betreuung bedarf, ist zumindest aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und für die Betreuungsindustrie sowieso uninteressant. Das Normale ist nicht mehr wichtig. Das ist tragisch, denn dieser «Mittelstand» trägt die Gesellschaft. Die Schulzeit war schön, als alles noch einigermassen normal war; zumindest für die Schülerinnen und Schüler.
Die normale gute Schule kommt nicht mehr. Privatschulen werden staatlicherseits verhindert oder zumindest behindert. Zudem müssen auch Privatschulen den ganzen Lehrplandreck nach aussenhin vertreten. Wir privatisieren uns und bieten in einer Lern-Oase schulische Unterstützung an – auch für Homeschooling.
GENUG IST GENUG!
Die Staatsschule wird über kurz oder nicht ganz so kurz eingehen. Viele Eltern mögen nicht mehr.
Als Mutter, die vor kurzem die reguläre PH auf dem zweiten Bildungsweg abgeschlossen hat, sehe ich von zwei Perspektiven auf die Schule.
Mit meinem Wissen würde ich heute unsere Kinder “homeschoolen” oder eine Privatschule suchen. Auch sehe ich meine Zukunft traurigerweise nicht in der regulären Schule.
Was ist los mit dem Schweizer Bildungswesen – wer kontrolliert was die PHs lehren? Die Ideen der Inklusion, welche dort gelehrt werden, wenn das das Volk wüsste!