Die Fakten: Die Gymnasien in St. Gallen müssen gegen den Willen der Mehrheit der Mittelschullehrer das Fach mit dem Namen «Grundlagen für reflektiertes Denken» einführen.
Warum das wichtig ist: Der Stundenplan der Gymnasien, der im Zuge der Maturitätsreform mit neuen Fächern wie «Bildung für nachhaltige Entwicklung», «Informatik, Wirtschaft und Recht» ausgebaut wird, erfährt in St. Gallen mit dem neuen Fach «Grundlagen für reflektiertes Denken» eine zusätzliche Erweiterung.
- Die Ausrichtung des neuen Fachs wird von Worthülsen, beziehungsweise von Begriffen mit wenig konkreten Inhalten, begleitet: Man will die «allgemeine Studierfähigkeit verbessern», die «Gesellschaftsreife vertiefen», die «Fähigkeiten zum logischen, abstrahierenden und analogen Denken fördern».
- Weil keine zusätzlichen Ressourcen vorhanden sind, führen die Zusatzlektionen für «reflektiertes Denken» zu einem Stundenabbau bei den Grundlagenfächern Deutsch, Mathematik und der zweiten Landessprache sowie in den Fächern Englisch, Biologie, Chemie und Physik.
- Der Lehrplan für das Fach, das ab August 2026 auf dem Stundenplan stehen wird, ist zurzeit in Ausarbeitung.
- Auch die Kantone Bern, Luzern und Solothurn sind bestrebt, «Reflektiertes Denken» als eigenständiges Fach an ihren Gymnasien einzuführen.
Der St. Galler Bildungsrat begründete seinen Entscheid:
O-Ton: «Wer in der heutigen und künftigen Welt ein selbstbestimmtes Leben führen will, seine Meinungen an der Wahrheit und seine Überzeugungen und Handlungen an reflektierten Werten ausrichten will, wer sich kompetent informieren, am aktuellen Stand der Wissenschaft orientieren und auf dieser Grundlage verantwortungsbewusst, demokratisch teilnehmen möchte, muss kritisch oder reflektiert denken können.»
Widerstand der Lehrer
Die Mehrheit der Mittelschullehrer hätte das Fach «Grundlagen für reflektiertes Denken» nie eingeführt. Eigentlich hatten die Mittelschullehrer das Totschlagargument auf ihrer Seite, als ihnen das St. Galler Bildungsdepartement die Idee unterbreitete: «Das machen wir alle. Schon lange.»
Die Germanisten schrieben in ihrer Vernehmlassung sogar:
«Wir lehnen das Fach ‹Critical Thinking› [so hiess das Fach in der ursprünglichen Konzeption] ab, verweisen darauf, dass das Fach Deutsch Wesentliches zum kritischen Denken beiträgt und fordern die Lektionen für uns zurück.»
- Die Gymnasien fördern die Schüler im Hinblick auf «selbstständiges Urteilen».
- Die Gymnasien bringen die Schüler zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet.
- Die Schulen fördern die Intelligenz, die Willenskraft, die Sensibilität in ethischen und musischen Belangen sowie die physischen Fähigkeiten.
Wer streitet ab, dass die Gymnasien dies nicht schon seit Jahrzehnten tun?
Philosoph weibelt für «sein» Fach
Promotor des Fachs «Reflektiertes Denken» ist der Gymnasiallehrer für Philosophie, Dominique Kuenzle, der an der Kantonsschule in Wil (SG) unterrichtet. Kuenzle ist auch Privatdozent an der Universität Zürich und macht sich dort unter anderem in den Arbeitsgebieten Feministische Philosophie, Erkenntnistheorie und «Critical Thinking» stark.In seiner letzten wissenschaftlichen Publikation, die 20 Seiten umfasst, schreibt er:
O-Ton Kuenzle: «Die Fähigkeit und Motivation zur kritischen Selbstreflexion und vernünftigen Meinungsbildung gehört unbestritten zu den Hauptzielen schulischer Bildung.»
- Mit seinen Beziehungen zum Bildungsrat hat Kuenzle seine Leidenschaft zu einem gymnasialen Fach ausbauen können.
- Kuenzle hat sich eine neue Einnahmequelle gesichert: Unter anderen wird er künftig die Lehrer in «Reflektiertes Denken» aus- und weiterbilden dürfen, wie der St. Galler Bildungsrat Klaus Rüdiger bestätigt.
«Gibt es Reflexion ohne Denken, oder was soll Denken ohne Reflexion – haben die Bildungsräte nicht über diesen sprachlichen Unsinn nachgedacht», spottet er. Aber zur Sache argumentiert er:
- Reflektiertes Denken sei eng an das angelsächsische Fach «Critical Thinking» angelehnt. Man habe mit der Umbenennung zu «Reflektiertem Denken» bloss Abstand vom ideologischen Hintergrund dokumentieren wollen, der die Disziplin «Critical Thinking» begleitet. Es handle sich also um eine Tarnung.
- Jedes Fach müsse zum Denken führen, das gehöre zum Wesen des Unterrichts.
- Das neue Fach raubt dort die meisten Ressourcen, wo es die Schüler am nötigsten hätten: in Deutsch – im Lese- und Textverständnis, das heisst in der Sprachkompetenz.
- Das Fach werde bereits im zweiten Schuljahr am Gymnasium eingeführt, gemäss Andreotti eindeutig zu früh.
- Das Fach signalisiere ein völlig einseitiges Menschenbild. Man glaubt, der Erfolg und die Probleme könnten nur mit der Ratio gelöst werden und man berücksichtige nicht, dass Entscheide meist auch emotional gefällt werden. Andreotti sagt: «Die emotionalen Momente des Menschen sind ausgeklammert. Die Ziele des Fachs sind rein abstrakt, sie erfassen nicht den ganzen Menschen, der auch ein Wesen mit Seele und Herz ist.» Das Fach «Reflektiertes Denken geht von einer Idealvorstellung vom Schüler aus, die mit der schulischen Realität wenig zu tun hat.
Die Namensgebung des neuen Fachs hält Bildungsrat Klaus Rüdiger auch nicht ganz geglückt, stellt sich aber hinter die Einführung und unterstützt aber die inhaltliche Ausrichtung des neuen Fachs:
O-Ton Rüdiger: «Wir sind der Meinung, dass kritisches und reflektiertes Denken systematisiert unterrichtet werden muss.»
Laut Rüdiger müsse die Einführung des Fachs im Gesamtkontext der Maturitätsreform betrachtet werden. Es sei eingebettet im St. Galler Reformprogramm «Gymnasiums der Zukunft», welches auch die Stärkung der Deutsch- und Mathematikkompetenzen zum Ziel habe.
- Um das Deutsch-Manko zu verbessern, habe der Kanton St. Gallen das digitale Lerntool «Lernnavi» entwickelt.
- Man wolle vom 45-Minuten-Unterricht wegkommen und vermehrt grössere Lerneinheiten (flexible Lernformate) einführen. Dort könnten die Kompetenzen aus den Grundlagenfächern konzentriert vermittelt werden.
Für Andreotti ist die Einführung des Fachs «reflektiertes Denken» letztlich ein Ausdruck eines heimlichen, aber nicht zugestandenen Misstrauens gegenüber den Gymnasien, das den Bildungsrat bei der Evaluation begleitet habe – das Misstrauen, dass die Maturanden in Bezug auf die überfachlichen Kompetenzen, wie etwa kritisches Denken, ungenügend für das Hochschulstudium vorbereitet seien.
Warum gibt es noch kein Schulfach zur Erhöhung des IQ auf mindestens 120?
Es ist symptomatisch, dass auf neue Herausforderungen mit neuen Fächern und Aufträgen an die Schulen aller Stufen reagiert wird.
Ob die Aufgliederung in Fächer zielführend ist und was denn dieses Ziel überhaupt ist, darüber macht sich öffentlich kaum jemand Gedanken – zu gefährlich!
Herzlichen Dank an Herrn Andreotti für die klaren Worte. Als seit über 20 Jahren unterrichtender Bio- und Chemielehrer ist mir beim Fachnamen zuerst Epilepsie in den Sinn gekommen. Leider ist das neue Fach Teil des Trends sich von Fachinhalten zu entfernen und – gezwungenermassen – Themen oberflächlicher zu behandeln. Wie naiv zu glauben, dass wir, die alte Generation, meinen wir könnten der jungen Generation das Denken vordenken! … oder sogar vorschreiben?