Pünktlich zum Nikolaus-Tag schneien uns die PISA-Resultate ins Haus. Beim Nikolaus kommt allerdings zuerst das Sündenregister mit der Rute, zur Versöhnung anschliessend schüttet er den Sack mit den Nüssen, Mandarinen und Süssigkeiten aus.
Bei PISA ist es umgekehrt: Zuerst die Beruhigungspille («Besser als der Durchschnitt», «Sehr gut in Mathematik und Naturwissenschaften, gut im Lesen»), dann das Lamento («Ein Viertel der 15-Jährigen versteht nicht, was es liest», «insgesamt nehmen die Leistungen ab», «die Mädchen schlecht in Mathe»).
Expertenkommentare
Reflexartig folgen die Kommentare der medial befragten Weisen, die sich etwa so zusammenfassen lassen:
- Die soziale Herkunft bestimmt über die Leistung. Vermutung: Die Privilegierten sind besser digitalisiert, wodurch sie Vorteile bei digitalisierten Unterrichtsformen haben. (Andrea Erzinger, BaZ)
-
Mädchen haben Angst vor Mathematik. Warum ihre «Selbstwirksamkeit» schwächelt, ist unklar, da doch so vieles unternommen worden sei, um ihr Interesse an MINT zu wecken. (Andrea Erzinger, BaZ)
- Mit der frühen Niveau-Selektion in der Sekundarstufe würden die Aufstiegschancen für Benachteiligte erschwert. Das sei «wissenschaftlich untermauert». (Andrea Erzinger, BaZ)
- Der hohe Anteil an Migranten drücke auf den Leistungserfolg.
- Die Einstellung von Quereinsteiger-Lehrpersonen ohne genügende Ausbildung wirke sich aus. (Dagmar Rösler, BaZ)
- Die Eltern müssten mehr zum Lesen motivieren, die Schule könne nicht alleine für den ausbleibenden Erfolg verantwortlich gemacht werden. (Dagmar Rösler, BaZ)
- Lesen spiele keine so grosse Rolle mehr in der modernen Welt, das Audiovisuelle der Medien sei heute wichtiger. (Philipp Wampfler, Radio SRF)
Was Experten verschweigen
Auffällig abwesend im Reigen dieser angebotenen Erklärungen sind drei sehr naheliegende, aber ideologisch inopportune Tatsachen:
- Die integrative Schule bringt Unruhe in den Klassenverband, die Unruhe geht auf Kosten der Konzentration und der Lernzeit.
- Die Frühfremdsprachen stehlen Übungszeit in der wichtigen Aufbauphase der Lese- und der Rechenfähigkeit und beim Aufbau des Orientierungswissens.
- Mit dem Lehrplan 21 wurde Wissen abgewertet, bzw. als Sachkenntnis den Kompetenzen geopfert und der Beliebigkeit überantwortet. Fürs Leseverständnis sind jedoch je nach Text medizinisches, biologisches, historisches, literarisches Grund- und Orientierungswissen unabdingbar. Jugendliche versagen dann nicht wegen des Lesens, sondern wegen der im Text angesprochenen Sachverhalte, mit denen sie nicht vertraut sind.
Folgen früherer PISA-Tests
Frage: Haben wir die Punkte 1 – 7 nicht schon bei früheren PISA-Verlautbarungen von den Experten gehört? Haben schwache PISA-Resultate nicht schon vor über 20 Jahren zu Reformbemühungen geführt?
Beispielsweise haben wir wegen PISA den Kompetenzlehrplan 21 eingeführt. Lesekompetenzen wurden in zig Einzelfertigkeiten aufgeschlüsselt und in «Mindsteps» abgearbeitet. Wegen PISA wurden Lesenächte, Lesestunden, Autorenbesuche, Schulbibliotheken, Klassenlektüre gefördert. Medienwirksam wurden solche Aktivitäten jeweils präsentiert.
Investiert wird schon lange in die Frühförderung. Wurde ernsthaft evaluiert, z.B. in Vergleichsstudien, ob diese Frühförderung fürs Lesen in den letzten 15 Jahren irgendetwas gebracht hat? Offenbar ist der Erfolg ausgeblieben, wenn der Anteil der Lese-Unfähigen wieder um 5% gestiegen ist.
Eines ist klar: Auch unter denjenigen, die als Fachexpertinnen und -experten befragt wurden, herrscht letztlich totale Ratlosigkeit. Sie sagen das, was sie schon immer sagten, denn die PISA-Ergebnisse ergeben keine Kausalitäten, sondern nur Korrelationen zwischen Leistungsdaten und Befragungen. Interpretieren kann jeder nach seinen ideologischen Vorlieben. Medienschaffende sollten hier kritischer nachhaken, wenn sie die immer gleichen Weisheiten (siehe oben) zur Antwort erhalten.
Hektisch ergriffene behördliche Massnahmen oder gross angelegte Verbesserungsprojekte zielen deshalb immer ins Unbestimmte, gründen auf der Vermutung, dass man den Grund für die Mängel gefunden habe und die Reformübung Abhilfe schaffen werde. Allerdings sind die Möglichkeiten für Reformen allmählich ausgeschöpft. Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?
Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.
Lesen ein Auslaufmodell?
Interessant in diesem Zusammenhang ist Philipp Wampflers Äusserung, dass die konservative Lesefähigkeit heute nicht mehr gebraucht werde, da die Menschen sich mit audiovisuellen Medien behelfen könnten. Dies kontrastiert mit der Feststellung der OECD, dass die von ihr definierte Lesefähigkeit als Minimum für die Bewältigung der Lebensaufgaben gebraucht werde. Wer hat Recht?
Zur Beantwortung dieser Frage genügt schon der gesunde Menschenverstand:
Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.
Text, Bild und Ton verstehend zu verknüpfen, ist jedoch eine zusätzliche Kompetenz, die vom reinen Lesen zu trennen ist. Didaktisch sinnvoll wäre es, mit dem einen zu beginnen und dann erst zum nächsten überzugehen. Wampfler hingegen will – bildlich gesprochen – den Stemmbogen überspringen und gleich zum Wedeln übergehen.
Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben.
Texte entziffern und verstehen sollte vom didaktischen Standpunkt aus gesehen am ehesten zunächst an einem Medium geübt werden, das materiell greifbar und drehbar ist wie ein Blatt Papier oder Buchstaben zum Legen und Verschieben. Einmal am Blatt oder Buch gemeistert, lassen sich die Kompetenzen auf den Bildschirm übertragen.
Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben. Sie sind nach wie vor die Basis, selbst wenn das Medium des Buches, der Zeitung, des Lexikons inzwischen vorwiegend in digitaler Form konsumiert wird. Gelernt werden muss analog, so ist nun einmal unser Gehirn eingerichtet.
Was tun?
- Dem PISA-Test gegenüber sollte man mit kritischer Distanz gegenübertreten: Wer legitimiert die Prüfungsinstanz festzulegen, welche Punktzahlen Mindestanforderungen bedeuten? Sind die Prüfungsaufgaben sachlich korrekt, valide? Wer kontrolliert die Kontrollierer? Eine unabhängige Überprüfung müsste erfolgen.
- In den Schulen sollte mehr Zeit für die basalen Fähigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben, Sachwissen zur Verfügung gestellt werden. Die digitalen Mittel sollten erst in der zweiten Hälfte der Volksschule Einzug halten. Die basalen Fähigkeiten bilden die Grundlage für ein erfolgreiches Hantieren mit Digitalität, nicht umgekehrt.
- Schulischer Unterricht bedeutet, dass ausgebildete Lehrpersonen den Lernstoff in geeigneter Weise vermitteln. Diese zivilisatorische Errungenschaft wird heute krass unterschätzt. Zweieinhalb Tausend Jahre Wissen können sich Kinder und Jugendliche nicht selbst beibringen. Sie müssen angeleitet und geführt werden und dürfen beim Lernen nicht nur sich selbst überlassen werden. «Teaching and Learning statt Coaching and Drowning» muss die Devise sein. Die Ausbildungsinstitutionen sind darauf zu verpflichten, die künftigen Lehrkräfte in diesem Sinne vorzubereiten.
- Der Kompetenzlehrplan 21 sollte abgelöst werden durch einen Lehrplan, der verbindliche Wissensbestände und ihre Anwendungen enthält. Kompetenzen ergeben sich aus der Beschäftigung mit und dem Lernen an sachlichen Themen.
- Die Fremdsprachen sollten frühestens im vierten, spätestens im fünften Schuljahr beginnen, die zweite Fremdsprache frühestens im sechsten, spätestens im siebten Schuljahr. Bei Überforderung ist auf eine zweite Fremdsprache zu verzichten.
- In den Klassen der Volksschule soll eine ruhige Arbeitsatmosphäre oberstes Gebot sein. Für Kinder und Jugendliche, die sich nicht einordnen können, müssen sinnvolle Angebote zeitweise oder langfristig zur Verfügung stehen.
Eine Utopie? Es wäre einmal eine Alternative, nachdem wir alles andere erfolglos versucht haben.
Wenn ein Gymi-Deutschlehrer behauptet, dass die konservative Lesefähigkeit heute nicht mehr gebraucht werde – sprich, dass Lesen (und das Gelesene verstehen) nicht mehr wichtig sei, dann haben wir fertig.
Wie stellt sich Wampfler denn ein Jus- oder Medizin-Studium vor?
Mich widert diese dümmlich-linke Arroganz nur noch an.
Diese ehrliche Analyse hebt sich wohltuend ab von einer ganzen Reihe tendenziöser Expertenmeinungen der letzten Tage. Zur Recht weist Felix Schmutz darauf hin, dass gewisse unangenehme Tatsachen in all den Kommentaren offenbar Tabuthemen sind. Zentrale Voraussetzungen für das schulische Vorwärtskommen leseschwacher Schüler werden nicht erwähnt. Es sind dies: Eine ermutigende Lernumgebung ohne dauernde Unterrichtsstörungen, genug Übungszeit für das Festigen von Grundlagen und ein gezielter Aufbau des Sachwissens als Schlüssel für ein besseres Textverständnis.
Die Vorschläge des Autors für eine verstärkte Konzentration der Bildung auf wesentliche Ziele kommen aus der Praxis. Sie rütteln an einigen der unhaltbaren Dogmen der aktuellen Bildungspolitik und verdienen es, endlich offen diskutiert zu werden.
Mit Abstand der klügste Kommentar, den ich bisher zu den PISA-Resultaten gelesen habe. Besonders wichtig ist das Wissen als Grundlage des Textverständnisses. Und dann noch dies: Der hohe Anteil an Migranten wird bei PISA entsprechend berücksichtigt.
Vielen Dank, Herr Schmutz, für diesen Beitrag.
Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass in der Unterstufe Lesen/Schreiben/Rechnen solide fundiert werden soll. Ein ruhiges Klassenzimmer stellt die notwendige Voraussetzung dafür dar.
Fremdsprachen sollen später dazu kommen. In den eigenen Reihen, nota bene, haben sich ehemalige Frühfranzösisch-Befürworter ihren „Irrtum“ eingestanden; Chapeau an dieser Stelle.
Als Mathematiklehrer auf Sekundarstufe II begegne ich vermehrt Lernenden, die keine soliden, basalen Mathematikkenntnisse mitbringen. Meines Erachtens liegt die Wurzel des Übels dafür tief, nämlich beim Lesen/Schreiben/Rechnen.
PISA gegenüber ist keine kritische Distanz gefragt. Was immer es misst, es hat nichts mit Bildung zu tun. PISA muss in Europa abgeschafft werden, weil es in den letzten 20 Jahren nur Unheil angerichtet hat.
Der Artikel trifft ins Schwarze.
Wie ein Experte sich selbst zum Experten erklärt sehen Sie hier:
https://www.youtube.com/watch?v=HdD1hjMfymw
Halten Sie sich fest, genehmigen Sie sich zuerscht ein Pflümli, sonst können Sie das nicht wahrhaben: Runtergelesen vom Schirm putzt unser Experte in unfreiwilliger Komik jeden Scheibenwischer weg. Dieser Experte, ein Unicum-Professor des Jahres, katpultierte sich übrigens via ”belief theory” in den Olymp der deutschen Mathematikdidaktik.
Als Pendant zu Wampfler aus der Schweiz mag in Deutschland jedoch Herr Oldenburg aus Augsburg gelten. Nicht nur verkündet er, dass man Algebra ohne Beherrschung der Bruchrechnung erlernen kann, siehe
http://schule-mathematik.blogspot.com/2023/04/wie-man-algebra-unterrichtet.html
nein, diese Fachkraft verbindet, vollends einbalsamiert in den artifiziellien woken Zeitgeist, Mathematik mit Demokratieverständnis, siehe
https://www.welt.de/wissenschaft/article248942888/Pisa-Woran-der-Mathe-Unterricht-krankt.html
Wie lange wollen wir diese Experten denn noch tolerieren? An Universitäten haben sie nichts verloren und es wird Zeit, daß man diese Klientel, wegen mir unter Beibehaltung ihrer Bezüge, aus den Universitäten und von den Studenten entfernt. Oder noch besser, sollen doch die deutschen Stiftungen, allen voran Bertelsmann, diese Experten in einer privaten Universität einsammeln und weiters in einer RTL-Show namens ”Gnadenhof Didaktistan” zur Erheiterung der Bevölkerung profitabel vermarkten.
Aus “tolerieren” wurde inzwischen “tollerieren”…
Passend zum Thema bin ich auf eine sehenswerte PISA-Satire aufmerksam gemacht worden:
https://www.youtube.com/watch?v=uA9MC5JX-Tk
Allerdings wurde in den Kommentaren die Einstufung als Satire mehrheitlich abgewiesen.
In gewohnt brillant analytisch klaren Worten benennt Felix Schmutz Denkfehler und die zahlreichen durch Bildungspolitiker und «Expertinnen» verursachten Fehlentwicklungen im Schulbetrieb. Die Krux dabei: Die Bildungspolitik KANN grundsätzlich keine Fehler machen. «Passpartout» als Abfallprodukt der durchgeknallten Kompetenzideologie war die dümmste Schulreform aller Zeiten, vielleicht noch einfältiger als «Schreiben nach Gehör». Dank des ideologisch völlig verabsolutierten Dogmas einer falschverstandenen «Integration» ohne jegliche Differenzierung und der blödsinnig unbedarft aufgeblasenen Administration im Lehrberuf haben stets mehr Lehrkräfte immer früher einen Burnout und bei den Neueinsteigern gibt es deswegen mittlerweile einen Abbrecher-Rekord mit steigender Tendenz. Ein desaströser Lehrkräfte-Mangel ist die Folge ohne Aussicht auf Entspannung. Dennoch gilt in der zumeist links dominierten Bildungspolitik in Übereinstimmung mit der KP Chinas und Vladimir Putin die Maxime: Die Bildungspolitik irrt nicht. Es gibt in diesem Bereich ergo eine umgekehrte Proportionalität zwischen dem Anspruch auf Kompetenz und Kompetenz an sich. Denn in keiner anderen Politikdomäne gibt es so viele Irrwege, Fehlentscheidungen und Fehlkonzepte wie in der Bildungspolitik. Folglich geht es bei deren Anspruch auf Unfehlbarkeit schlicht darum, dass ihre VertreterInnen ihr Gesicht wahren können, wobei dieses wegen der katastrophalen Schulreformen der letzten 25 Jahre mittlerweile über die Massen deformiert ist. Die in der Folge rein kosmetische Gesichtswahrung der Bildungspolitik geht leider über das Wohl der Kinder und Jugendlichen, der Schule und der Wirtschaft.
Amen!