28. April 2024
Besuch bei einer Lehrerin und Condorcet-Autorin

Wahre Inklusion

Die Primarlehrerin mit einem Pädagogikstudium. Die Primarlehrerin, die eine Klasse als Gemeinschaft führt und es kann. Die Primarlehrerin, die die derzeit praktizierte Individualisierung für einen Irrweg hält. BAZ-Journalist Sebstian Briellmann besuchte die Condorcet-Autorin an ihrem Arbeitsort, dem Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze.

Draussen ist es unwirtlich, der Himmel präsentiert sich in allen Grautönen, die es auf der Farbpalette gibt, es regnet, unaufhörlich, aber was solls, muss man anfügen, denn das Drinnen, das in solchen Situationen normalerweise dann ja herbeigesehnt wird: Es muss erst recht die Hölle sein, zumindest gefühlt.

BAZ-Journalist Sebastian Briellmann: Man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein.

Dieser beklemmende Gedanke kann einem zumindest kommen, wenn man sich auf den Weg macht ins Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze. Strukturschwach, hoher Ausländeranteil.

Kann das gut gehen?, fragt man sich, die verstörenden Bilder einer «Reporter»-Dokusendung des Schweizer Fernsehens noch im Kopf, über Basler Primarschulklassen, die nicht mehr unterrichtbar sind – und die Worte des Erziehungsdirektors Conradin Cramer, der in der BaZ durchaus alarmiert gesagt hat: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell.» Ein «umfassendes» Massnahmenpaket ist auf dem Weg.

Ein Profi am Werk

Dann klingelt die Uhr im Lysbüchel, es ist kurz vor acht Uhr morgens, in den Gängen ist emsiges Treiben, es wird geschwatzt und gelacht, während die Lehrerinnen in den Klassenzimmern die letzten Vorbereitungen treffen.

Eine von ihnen ist Christine Staehelin, seit 36 Jahren unterrichtet sie an verschiedenen Basler Schulen, sie ist Mitglied des Erziehungsrats, Nationalratskandidatin auf der Liste «Bildung» der Basler Grünliberalen. Kurz: Da ist ein Profi am Werk. Staehelin hat eingeladen zu diesem Unterrichtsbesuch, weil sie natürlich auch mitbekommen hat, wie kontrovers dieser SRF-Film diskutiert worden ist, in der Politik, in der BaZ, in den Kommentarspalten. Und sie will aufzeigen, wie Primarschule funktionieren kann, immer noch, demografischen Veränderungen zum Trotz – ohne dabei verklärend oder sozialromantisch zu wirken.

Loben, korrigieren, ermahnen

So unterrichtet sie auch, ruhig, abgeklärt – und man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein. Und es geht problemlos. 22 Kinder gehen in ihre dritte Klasse, alle sind an diesem Montagmorgen da. Zuerst wird geschrieben, dann gerechnet, dann gelesen – alle für sich –, ist ein Auftrag erledigt, kontrolliert Christine Staehelin das Resultat, lobt, korrigiert, motiviert, ermahnt sanft.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Condorcet-Autorin: Als Klasse, nicht als 22 Individuen

Nach 25 Minuten gibt es einen kurzen Französisch-Exkurs, da das «Tageskind» an die Tafel schreibt, welcher Wochentag, welches Datum und Jahr wir haben; dann Singen, drei Lieder auf Deutsch und Englisch, und schliesslich beginnt der Sachunterricht im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft. Die Drittklässler lernen gerade den menschlichen Körper kennen. Heute: Was passiert eigentlich mit dem Essen nach der Nahrungsaufnahme?

Grosse pädagogische Kunst

Alle bekommen zur Veranschaulichung einen Zwieback, eine Hälfte darf man essen, die andere wird in einem Plastiksäggli so lange zerdrückt, dass veranschaulicht wird, was im Magen denn genau so passiert. So nähert man sich dem Thema «Verdauung» altersgerecht an.

Pädagogisch ist das, von aussen betrachtet, grosse Kunst, die Kinder haben fürs Unruhestiften gar keine Zeit, so sehr sind sie mit ihrer Aufgabe beschäftigt, gleichzeitig stellt ihnen Staehelin immer wieder Sachfragen. Auffällig: Alles passiert miteinander, nichts erinnert an die Super-Separation einzelner Klassenmitglieder, die nicht nur im eigenen Zimmer, sondern nicht selten im ganzen Schulhaus verteilt werden.

Was macht Staehelin anders? Zunächst vielleicht ein Blick ins Klassenzimmer, das durchaus ähnlich ist wie :jenes, das man einst selber besucht hat. Okay, ein Sitzsack, in den man sich fläzen kann, wäre noch nicht : vorstellbar gewesen (gabs das überhaupt schon?) – und ja, dass in einer Ecke auch ein Dutzend Kopfhörer liegen, die man bei grossem Lärm benutzen könnte: Das ist dann wohl tatsächlich eine Folge der oft kritisierten Entwicklung. Immer mehr Kinder sind weniger gut unterrichtbar, brauchen Sondersettings, sprechen weniger gut Deutsch.

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, verzeichnete man im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen».

Das sind riesige Herausforderungen, die aber ziemlich klein wirken, wenn da eine Lehrerin steht, mit all ihrer Erfahrung, die 22 Schüler noch so unterrichtet, wie man sich das eigentlich mal vorgestellt hat: als Klasse, nicht als 22 Individuen. Wahre Inklusion.

Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Staehelin sagt: «Ich unterrichte eine Klasse, das ist mein Auftrag, und das schätze ich. Die Tendenz, das will ich aber nicht verneinen, geht in Richtung kleinere Gruppen, überall verteilt. Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.»

Hier läuft das anders. Man erhält an diesem Morgen den Eindruck: Vielleicht tut die Individualisierung auch den Kindern nicht gut – weil eine Klasse, die noch wirklich eine ist, sich als wunderbarer Rahmen präsentiert. Es liegt drin, wenn die Gspänli manchmal kichern, da sie eine Aufgabe schon fertig gelöst und etwas freie Zeit haben.

Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt.

Und es ist eine erzieherische Massnahme, die von allen registriert wird und so ihre Wirkung entfalten kann, wenn ein Bub eine abschätzige Geste macht, da ein Mädchen sich zu ihm und anderen auf die Sitzbank setzen soll: Er wird von Staehelin, nun streng, zurechtgewiesen. Nachher wird sie mit ihm im Gang über sein Fehlverhalten sprechen. Auch das bekommt die ganze Klasse mit, logisch, wenn die Lehrerin ein paar Minuten nach draussen geht.

Ein bisschen später, für einen Montagmorgen ist das Konzentrationsniveau erstaunlich hoch, wird das anschaulich besprochene Thema «Verdauung» in einer Schreibübung weitergeführt. Alle müssen die wichtigsten Erkenntnisse, zusammengefasst in zehn Sätzen, abschreiben. In Schnürlischrift.

Hier offenbaren sich grosse Unterschiede. Während eine Schülerin (mit Migrationshintergrund!) nach fünf Minuten als Erste fertig ist – wie zuvor schon bei allen anderen Aufgaben –, haben andere noch keinen Satz fertig. Lieber gehen sie nochmals den Bleistift spitzen. Gespitzt wird in dieser Phase auffällig oft und auffällig gern …

War das nicht schon immer so?

Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will.

Dass das die Leistungsfähigkeit weit auseinanderdividiert, ficht auch Staehelin nicht an. Aber war das nicht schon immer so? Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will. Wer auf die Blätter spienzelt und sieht, wer beim Schreiben (oder mit der Konzentrationsfähigkeit) Mühe hat, der erkennt, dass nicht wenige von den schwächeren Schülern zuvor im praxisnahen Unterrichtsgespräch viel gesagt, am aktivsten mitgemacht hat. Das ist viel wert – und nur im Verbund möglich.

Es überrascht deshalb nicht, wenn Staehelin sagt: «Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt. Sie ist nicht für alle, sondern sie bringt immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.»

Also wird viel Geld für die Sondersettings aufgewendet, um an dieser schönen Idee festhalten zu können. Oder eher an einer Illusion? Staehelin sagt: «Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu.»

Oberflächliche Reformen haben das Selbstverständnis der Schule erschüttert.

Es Ist ein Gang in die Individulisierung, in die Isolierung auch.

Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin sagt, dass die Schüler «alleingelassen werden», wenn sie ihre Lernziele selbst wählen können. Dass das überfordert, kann nicht erstaunen. «Und dann wundert man sich», sagt die erfahrene Lehrerin, «dass immer mehr als förder- und therapiebedürftig eingestuft werden». Staehelin nennt diesen Zustand mittlerweile «tragisch», die «oberflächlichen Reformen», die die heutige Lage verursacht haben, hätten «das Selbstverständnis der Schule erschüttert».

Im Klassenzimmer von Christine Staehelin sind diese systemischen Probleme weit weg, und die (eigene) Gefühlslage aufgehellt, da kann es draussen so stark regnen, wie es will, hier agiert ein Kollektiv mit klaren Hierarchien. Die Lehrerin ist die Chefin, die Schüler haben zu folgen, werden aber für voll genommen.

Heute werde dies als «Frontalunterricht diskreditiert», sagt Staehelin, «die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden».

Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Job gut können

In dieser 3. Klasse ist das anders, und es lässt sich nun wirklich nicht feststellen, dass auch nur ein Kind zu kurz käme, jedes hat in dieser Doppellektion mit der Lehrerin gesprochen, weiss, woran es ist, und macht so Fortschritte. Ob es nun stärker ist oder schwächer, besser Deutsch kann oder schlechter.

Das ist bildungspolitisch nicht die Hölle, sondern dem Himmel ziemlich nah, weil es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die ihren Job gut können, die pädagogische Profis sind. Warum will man ihnen Systeme überstülpen, die ihnen das Leben so schwer machen?

Eine Lehrerin wie Christine Staehelin mag das aushalten. Viele weitere auch. Andere verlassen (frühzeitig) den Beruf.

Und den Schaden tragen am Ende sehr oft die Kinder. Unsere Zukunft.

 

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Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Er ist auch Mitglied der GBW und ein prominenter Kritiker der Kompetenzorientierung. In seinem Beitrag macht er sich Gedanken über die Demolierung von Denkmälern und fragt nach dem Geschichtsbild der Akteure. Sein Beitrag erschien zuerst in der NZZ (Dienstag, 16.6.20).

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