20. Dezember 2024
Rezension

«Der Lebhag» von Meinrad Inglin: Ökologische Didaktik in Form einer literarischen Biodiversitäts-Fabel

Vor 76 Jahren, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, verfasste der bekannte Schweizer Schriftsteller Meinrad Inglin (1893-1971) mit der kurzen Erzählung «Der Lebhag» eine Art Biodiversitäts-Fabel, die auf knappen 8 Seiten in Form einer Familiensaga auf eindrückliche Weise anschaulich macht, wie das Artensterben letztlich den Menschen trifft. Condorcet-Autor Georg Geiger stellt sie uns vor.

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Inglin zeigt den Kreislauf des Unglücks in der Natur
Meinrad Inglin, Schriftsteller, 1893 -1971: Ökologische Kreisläufe in Form einer Geschichte erfahren und begreifen.

Eine Million Tiere und Pflanzen sind heute weltweit vom Artensterben bedroht und die Folgen für das Leben auf unserem Planeten könnten ähnlich drastisch sein wie die Klimaerwärmung. Die Wichtigkeit einer einzelnen Art ist dabei schwer nachzuweisen.  Klar aber ist, dass jede einzelne Spezies eine Funktion im grossen Ganzen hat und klar ist ebenfalls, «dass man nicht beliebig viele Tiere und Pflanzen aus dem System entfernen kann, ohne dass das Konsequenzen hätte», wie Tina Baier in der Süddeutschen Zeitung vom 15.10.2021 anschaulich darlegt, indem sie den Biodiversitätsexperten Josef Settele zitiert: «Es ist, als ob man bei einem Flugzeug anfangen würde, Nieten zu entfernen. Eine fehlende Niete wäre nicht weiter schlimm, aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem zu viele Nieten fehlen und das Flugzeug abstürzt.» Und Absturz bedeutet, dass die grossen Kreisläufe in der Natur nicht mehr funktionieren, von denen auch der Mensch abhängt. Und genau diese Dialektik von Artensterben und sozialem Verfall steht im Zentrum der didaktisch daherkommenden Oekoparabel von Meinrad Inglin, deren Lektüre im Schulunterricht bestens geeignet ist, ökologische Kreisläufe in Form einer Geschichte zu erfahren und zu begreifen.

«Auf einer waldarmen offenen Hochebene hatten die Bauern alle Hecken bis auf eine ausgereutet und ihre Aecker und Wiesen mit leblosen Zäunen umgeben, die aus eisernen Pfosten und Drähten bestanden. Sie behaupteten, diese Zäune seien viel bequemer und sauberer, sie nähmen dem Boden kein Licht weg und gäben keine Arbeit mehr. Es schien ihnen gleichgültig, dass das Land nun öde aussah, sie kümmerten sich um den Nutzen und nicht um  Schönheit des Landes, dafür waren sie Bauern.»

 So pragmatisch wie die Schweizer Bauern 1946 argumentierte, so spricht auch heute noch der Schweizer Bauernverband, wenn er sich gegen die minimale Erweiterung der ökologischen Ausgleichsflächen ausspricht. Dass damit ein Kreislauf des Unglücks in der Natur und beim Menschen in Gang kommt, zeigt einem Inglin, indem er die Geschichte des alten Bonifaz, seines Sohnes Blasius, dessen Frau und ihrer drei Kinder auf nüchterne und zugleich eindringliche Weise erzählt.

«Die letzte grüne Hecke verdankte ihr Leben dem alten Bonifaz, der sie erhalten wollte und ihren kräftigen Wuchs alljährlich selber mit der Hagschere zurückschnitt.» Die Hecke war von Weissdorn, Feldahorn, Hasel, Hartriegel, von Ackerwinden und Hopfen durchwachsen. In ihm wohnten Vögel  und Hasen. Nicht nur der alte Bauer erfreute sich daran, auch für seine Enkel*innen war er ein Paradies. Hier fanden sie die ersten Schlüsselblumen, Buschwindröschen und Veilchen, und der Grossvater zeigte ihnen das Nest eines Zaunkönigs. Im Mai sammelte er die Spitzentriebe der dünnen rauen Hopfenstengel «und machte daraus in einem Pfännchen mit Anken ein zartes Gemüse.» Es blühten Liguster,Heckenkirsche, Geissblatt, späte hohe Spyräen, Akelei und andere Blumen, die sonst nirgends auf der Wiese vorkamen.

 

Als im «nasskalten Herbst» der Grossvater für lange Zeit krank war, beschloss sein Sohn Blasius, den Lebhag auszureissen. Als der alte Mann im nächsten Sommer sich wieder vom Krankenlager erhob, sah er statt seines Lebhages nur noch eiserne Zäune. «Er sagte kein Wort  dazu, aber er schaute lange hin, als ob er es nicht begreifen könnte, und in seinem Blick erlosch die erwachende Lebensfreude seines heiteren Alters wieder. Er war der gute Geist des Hauses gewesen, jetzt wurde er grämlich und hinfällig.» Auch die Kinder vermissten den Lebhag. Die gewaltsame Zerstörung dieses kleinen Paradieses hatte auch ihnen ein wenig von ihrer Lebensfreude genommen.

Meisen, Rotkelchen, Zaunkönige und Weidenlaubvögel waren plötzlich fort und vertilgten keine Ungeziefer mehr. Umso mehr gediehen der Blütenstecher, der Kartoffelkäfer, Blattschabe, Schnacke, Raupe und Larven aller Art. Es gab immer mehr angestochene Blüten, kahlgefressene Zweige, zernagte Kartoffelstauden und wurmstichiges Obst. Es fehlten die Igel, die die Engerlinge und Werren frassen, es verschwand die Wieselfamilie, die die Feldmäuse vertilgte. Die austrocknenden Winde wurden durch keine Hecke mehr vermindert, die bodenwarme Feuchtigkeit verschwand, der Tau trocknete rasch und zurück blieben ausgedörrte Aecker.

Bläsi machte es nicht wie die andern Bauern, die anfingen, Maschinen, Kunstdünger und Pestizide einzusetzen. Er fing an  Most und Schnaps zu saufen, um alles zu vergessen.

«Bläsi fand das alles unbegreiflich. Er dachte selber nicht viel nach, er machte nur ungefähr, was auch seine Nachbarn machten.» Dieser «harmlose, gutmütige Mann» verlor seine gute Laune und auch seine Frau litt darunter. Bläsi machte es nicht wie die andern Bauern, die anfingen, Maschinen, Kunstdünger und Pestizide einzusetzen. Er fing an  Most und Schnaps zu saufen, um alles zu vergessen. Die ältere Tochter heiratete so bald als möglich, auch die jüngere zog bald fort, und der Sohn ging in die Fabrik arbeiten. Es sei «kein Segen mehr» über dem Hof. Seine «herbe, schaffige Frau» empfahl, häufiger zu beten und in die Kirche zu gehen. Das half ihnen etwas über ihre tiefe Entmutigung hinweg, aber der Ertrag stieg trotzdem nicht an. « Wenn der Mensch den Sinn für das Wunderbare und Schöne der Natur verliert und weniger nach ihrer Weisheit als nach seinem eigenen Kopf verfährt, die Mittel also verachtet oder missbraucht, die Gott ihm in die Hand gibt, so wird er in allen Kirchen der Welt vergeblich um Hilfe beten.»

Ihnen fehlte der rechte Sinn für die Erkenntnis des Grossvaters

 Dem streitenden Ehepaar riet der altersschwache Grossvater Bonifaz: «Müsst die Drahtzäune ausreissen und grüne Lebhäge pflanzen, dann wird es  schon allmählich wieder besser gehen.» Diesen Rat verstanden sie nicht und nach dem Tod des Grossvaters verkauften sie den Hof und zogen fort. «Ihnen fehlte der rechte Sinn für die Erkenntnis, die der Grossvater mit der einfachen Weisheit seines erfahrenen Alters gefunden und ausgesprochen hatte, wie er auch den übrigen Bauern dieser Gegend fehlte. Die Zeit dafür war hier noch nicht gekommen.»

 Und es wirkt angesichts der Klimaerwärmung und des Artensterbens visionär und zeugt von einem beeindruckenden Verständnis für ökologisches Denken, wenn der Erzähler seine Fabel mit folgenden Worten ausklingen lässt: «Es schien auf den ersten oberflächlichen Blick seltsam, dass etwas so Geringfügiges, längst Vergessenes wie das Ausreissen eines Lebhages am Unglück dieser beiden Leute schuld sein sollte. Aber es ist anderseits nicht seltsam, dass etwas so Schwebendes, Gefährdetes wie das menschliche Wohlergehen durch scheinbare Kleinigkeiten endgültig zerstört werden kann. Der Frost braucht am Berghang nur ein paar Steine zu lockern, und der Felsblock darüber beginnt zu rutschen. Eine Träne genügt, um die Goldwaage aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es kann im Landleben auch etwas anderes sein, an dem dies sichtbar wird, ein verkaufter Talboden etwa, der für ein Kraftwerk unter Wasser gesetzt wird, ein kahlgeschlagener Wald, dessen Unentbehrlichkeit niemand erkennen wollte, oder auch nur eine schöne Baumgruppe, die man ahnungslos nach ihrem blossen Geldwert eingeschätzt hat. Hier war es ein Lebhag.»

 

 

 

 

 

 

 

 

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