27. April 2024
Ein Theater-Projekt

Die Wette – oder wer ist der Beste im Land?

Unser Condorcet-Autor Alain Pichard verabschiedete sich mit einem Theaterprojekt aus seinem aktiven Berufsleben. In diesem Beitrag stellt er das Stück vor, sagt, woher die Idee stammt, und erklärt, wie das „Entwicklungstheater“ geht.

Es gibt gute Gründe, sich in der reichen Jugendtheaterliteratur umzusehen, ein Stück auszuwählen und es mit den Schülerinnen und Schülern auf die Bühne zu bringen. Hierzu habe ich bereits einen Beitrag verfasst („Das Haus mit den sieben Stockwerken” https://condorcet.ch/2020/07/deutschprojekt-dino-buzzati-das-haus-mit-den-7-stockwerken/)

Wenn das Stück für Schüleraufführungen geeignet ist und angepasst werden kann, ist diese Möglichkeit vor allem dann praktisch, wenn die Zeit für das Einstudieren einer Schüleraufführung knapp ist.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1: Das Stück muss den Zuschauern Spass machen.

Ich habe diesen Weg eher selten beschritten, weil das Theater einer meiner Leidenschaften ist, ich eine Affinität für Komödien und witzige Dialoge habe und mir selbst zutraue, diese auch zu schreiben. Es gibt allerdings kaum etwas Mühsameres als Lehrkräfte, die sich dazu berufen fühlen, Theaterstücke nach ihrem Gusto zu schreiben und diese dann den Jugendlichen überzustülpen. Ich halte mich auch nicht für einen verkannten Drehbuchautor, der in der werkstattgeschützten Schulsituation endlich sein Talent der Öffentlichkeit vorstellen darf.

Für mich hat Theater in erster Linie zu unterhalten. Es darf keine Pflichtveranstaltung werden, an denen nur die Eltern der Darsteller Freude haben. Es soll aber auch kein Ventil für Botschaften sein, die dem Autor, sprich dem Lehrer, am Herzen liegen. Und es muss den Schülerinnen und Schülern Spass machen. Wichtig ist auch, dass man sich bemüht, dass sie sich mit dem Geschehen auf der Bühne identifizieren können.

So entwickelte ich mit der Zeit eine Art Mischung aus Improvisationstheater, Einbezug spannender Vorlagen, die ich als Rahmenhandlung vorschlug, und diskursiven Entwicklungsgesprächen. Auch dazu habe ich bereits ein Projekt auf dem Condorcet-Blog veröffentlicht ( https://condorcet.ch/2021/07/orpund-next-level-ein-theaterprojekt/ ). In diesem Beitrag habe ich auch meine Vorgehensweise beschrieben, weshalb ich auf diese im Folgenden nicht mehr so detailliert eingehen werde.

Die Quelle: Ein Vorfall in Düsseldorf

1974 erschien in einer Zeitung ein Kurzbericht über einen Betrugsfall in einem Düsseldorfer Gymnasium. Einem Schüler wurde von seinem Vater 10‘000 Mark in Aussicht gestellt, wenn er Klassenbester werden sollte. Als er dies seinen Kameraden erzählte, beschlossen diese, ihn mit gemeinsamen Kräften zum Klassenbesten zu machen und sich die Summe danach aufzuteilen. Der Betrug flog auf. Was mit den Beteiligten geschah, konnte ich nicht eruieren.

Der Begriff „Klassenbester“ hiess hier „Streber“ und auch in der Kommunikation der Lehrkräfte kam dieser Begriff kaum vor.

Die 1. Aufführung im OSZ-Madretsch Biel

Diese neckische Geschichte bewahrte ich sorgsam in meiner literarischen “Schatztruhe” auf, um sie 2006 das erste Mal als Rahmengeschichte einer Schulklasse vorzuschlagen. Es handelte sich um eine Realklasse mit 90% Migrationsanteil. Das ergab bereits einen entscheidenden Unterschied zur Ursprungsvariante in Düsseldorf, wo es sich um Gymnasiasten handelte. Der Begriff „Klassenbester“ hiess hier „Streber“ und auch in der Kommunikation der Lehrkräfte kam dieser Begriff kaum vor. Einmal thematisiert, gelang es mir, den Schülerinnen und Schüler bewusst zu machen, dass es sehr gute Lernleistungen über alle Fächer gibt. Die Frage lautete nun: Wie macht man aus einem schlechten bis mittelmässigen Schüler einen guten bis sehr guten Schüler? Und, was heisst das überhaupt, ein sehr guter Schüler zu sein? Auf was kommt es an?

Nachdem diese Fragen geklärt waren, gab ich ihnen die Düsseldorfer Variante als Rahmengeschichte und forderte sie auf, mir Ideen zu liefern, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Im Deutschunterricht ergaben sich nun ausserordentlich witzige Unterrichtsgespräche über Betrug, Spickmethoden, aber auch tiefsinnige Diskussionen über den Wert des Lernens. Aus dem überambitionierten Düsseldorfer Vater wurde ein reicher Onkel aus Übersee, aus dem Düsseldorfer Gymnasiasten der Fussballnarr Aldin. Das Bühnenstück erhielt ein gutes Echo und die Schülerinnen und Schüler waren mächtig stolz auf ihre Leistung.

Neu in den Fokus geriet nun die Geschlechterfrage bzw. die Tatsache, dass die Mädchen in der Schule oft die „besseren“ Lernenden seien. So entstand die Figur der Vlora, eine „Klugscheisserin“, welche die Jungs zur Verzweiflung treibt, das Projekt aber entscheidend voranbringt.

Die Orpunder Variante

Sechs Jahre später – ich wechselte inzwischen in die Agglomerationsgemeinde Orpund – entschloss ich mich, als Abschlusstheater wieder diesen Düsseldorfer Skandal als Rahmengeschichte vorzuschlagen. Hier waren die Bedingungen ziemlich anders. Der Migrationsanteil war gering (nur 4 von 24 Sch. sprachen zu Hause kein Deutsch). Die Bildung spielte in den Elternhäusern eine grössere Rolle, was dazu führte, dass auch die Begriffe „Klassenbester“ und „Notendurchschnitt“ durchaus eine gewisse Rezeption erzeugten. Ohne hier nun einem pauschalisierenden Dünkel Vorschub leisten zu wollen, muss ich feststellen, dass in diesem Umfeld die Entwicklungsphase substanziellere Beiträge einbrachte. Die offengelegten Spickmethoden waren für uns abgebrühte Lehrkräfte erstaunlich, die Diskussionen über Noten, Lernen, Unterricht und Schulleistungen von einer bis anhin unbekannten Qualität. Neu in den Fokus geriet nun die Geschlechterfrage bzw. die Tatsache, dass die Mädchen in der Schule oft die „besseren“ Lernenden seien. So entstand die Figur der Vlora, eine „Klugscheisserin“, welche die Jungs zur Verzweiflung treibt, das Projekt aber entscheidend voranbringt.

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Aufführung ein Highlight meiner „Schultheater-Tätigkeit“ war.

Das ist doch kein Theater!
Ohne den Theaterpädagogen Rolf Brügger hätte ich es nicht geschafft.

Die dritte Aufführung – von Schwierigkeiten geprägt

Rund elf Jahre nach der Orpunder Aufführung bot ich den Stoff noch einmal an – diesmal für ein Wahlfach Theater. Ich sprang – mittlerweile als pensionierter Lehrer – notfallmässig als Klassenlehrer in eine verwaiste Oberstufenklasse des OSZ-Mett-Bözingen in Biel ein. Es meldeten sich 14 Schülerinnen und Schüler, mit denen ich in bewährter Manier das Theaterstück neu aufgleisen wollte. Im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen ist der Migrationsanteil wieder wesentlich höher (90%).

Keine Frage: Das Thema packte die beteiligten Schülerinnen und Schüler von Anfang an. Das Problem bestand anfangs in der Zusammensetzung der Theatergruppe. Einige Knaben erwiesen sich als unkonzentriert, frech und launisch. Andere waren enorm talentiert und willig. Diese Gruppendynamik belastete die Probenarbeit erheblich. Wir kamen kaum vorwärts. Die Motivation der Mädchen sank, die Sache stand kurz vor dem Abbruch. Schliesslich haben wir drei Jungs aus der Theatergruppe geworfen. Aus dem Hauptdarsteller Jeton wurde eine Jetonia (ein Mädchen) gemacht und zwei Ukrainer in die Gruppe integriert. Diese Massnahmen erwiesen sich als Glücksgriff. Vor allem die beiden Ukrainer waren erste Klasse, trotz der grossen Sprachbarrieren. Allerdings verloren wir dadurch und durch die grossen Schwierigkeiten bei der Textarbeit – fast alle Schülerinnen und Schüler hatten einen Migrationshintergrund – viel Zeit. So konnten einige anspruchsvolle Szenen nicht mehr rechtzeitig eingeübt werden. Die Theaterregie mutete den Kids zudem einiges zu. Es gab schnelle Wechsel, offene Bühnenumbauten und einen Film, der eigens für dieses Stück produziert wurde. Für die Jugendlichen war das anfangs kein Theater und es kam zu offenen Protesten. Es war der grossen Professionalität und Geduld von Rolf Brügger, Theaterpädagoge und Regisseur, zu verdanken, dass dieses Stück trotz dieser enormen Schwierigkeiten schliesslich doch noch zur Aufführung kam und erst noch viel Applaus erhielt. Ohne ihn hätte ich dies kaum geschafft. Wir mussten ein ganzes Übungswochenende einschalten, um das Stück doch noch aufzuführen. Im Grunde genommen schweisste das Wochenende die Gruppe richtig zusammen. Als neues Element haben wir einen Film gedreht, der die Lebensgeschichte des reichen Onkels Ali, der dieses “unmoralische” Angebot macht, einblendete. Die kreative Kollegin Sandra Rychener, ihres Zeichens eine passionierte Filmemacherin, produzierte diese Einblendung für uns.

Der Film von Sandra Rychener erwiese sich als belebendes Element.

Die Schülerinnen und Schüler waren am Schluss mächtig stolz auf ihre Leistung und zeigten dies auch. Ihr Selbstwertgefühl wurde gestärkt, ihre Sprachkompetenz verbessert. Ironischerweise spiegelte die Thematik dieses Stücks auch die Situation in der Theatergruppe selbst. Die Unkonzentriertheiten beim Zuhören der Regieanweisungen, die Unwilligkeit, Bewegungen und Szenen mehr als zweimal zu wiederholen, bremsten die Qualität der Aufführung. Im Prinzip hätte man ein reines Action-Theater entwickeln können, mit dem Thema der Schauspielenden. Aber dann hätte der ambitionierte Teil der Gruppe das Handtuch geworfen.

Das Stück gab in der Schule viel zu reden. Was bedeuten Noten? Was ist ein Klassenbester? Wo und wie zählt Leistung? Was zählt in einer albanischen Familie? Welchen Stellenwert hat die Bildung? Was ist ein Streber? Somit könnte man feststellen: Wieder einmal hat sich dieser Plot bewährt. Trotzdem muss ich mir als Lehrer die Frage stellen, ob in diesem Setting das Stück überhaupt geeignet war.

Fazit: Die gleiche Rahmenhandlung, drei verschiedene Aufführungen

Der Vorteil der entwickelnden Theaterarbeit liegt in der Variabilität des Produkts und dem weitgehenden Einbezug der Akteure in die Handlung. Gleiche Rahmengeschichte, verschiedene Inhalte. Die drei Aufführungen unterschieden sich stark, im Inhalt, in der Qualität der Aufführung, in ihren Schwerpunkten. Aber allesamt spiegelten sie die Themen unserer Schülerinnen und Schüler. Damit aber diese Produktion auch für die Zuschauer ein Erlebnis wird, benötigt man ein gutes Lehrkräfte-Team um sich, einen Theaterfachmann und eine Schulleitung, welche uns die Freiräume für solche Projekte freischaufelt und hinter uns steht. Ausserdem sollte die Aufführung nie länger als eine Stunde dauern. Mehr gibt die Substanz der Jugendlichen in der Regel nicht her. Das Stück selbst kann hier Winner oder Spinner heruntergeladen werden. Es handelt sich um die Orpunder Version.

 

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Ein Kommentar

  1. Kompliment,
    lieber Alain!

    Deine Theaterprojekte sprechen für dich: Sie sind ein Wagnis (dazu muss ich dir nichts Weiteres sagen). Sie fallen heutzutage aus dem Rahmen, passen nicht mehr in die Schullandschaft. Und helfen allen Beteiligten ungemein. Was beliebt sind Spass, Stolz, Erinnerung – Währungen, die nicht mehr in jedem Schulhaus gehandelt werden.
    Mehr Theaterprojekte, mehr Mut!
    Danke, Alain!
    Lieber Gruss,

    Beni

    PS: Ich habe im vergangenen Schuljahr anlässlich der Erzählnacht zwei Theaterprojekte durchgeführt (jede Deutsch-Klasse bestand auf der eigenen Idee). 50+ Seiten Text selber geschrieben, die “Proben” im normalen D- und F-Unterricht verstaut, weil mit der heutigen Dichte an Lernzielen und dem Fachlehrer-System keine Projektwochen mehr zustande kommen. Willkommenes Wagnis und Erfolg, auch bei mir.
    Ich habe den Aufwand beim Mitarbeitergesprächen thematisiert (ich hatte für Projekte 10 Stunden bekommen). Wegen der Überlastung hat mir die Schulleitung nun weitere Theaterprojekte verboten.
    Tragödie? Komödie?

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