Herr Oelkers, Sie haben viele Schulreformen erlebt und nehmen Bezug auf eine Liste zu den Reformen im Kanton Bern (siehe Teil 1). Mit Blick auf die Be- und Entlastung des Unterrichts, welches war die verheerendste Schulreform, welche bezeichnen Sie als eine geglückte?
Jürgen Oelkers: Das grösste Glück für die Volksschule ist, dass es den personengesteuerten Unterricht weiterhin gibt, dass also noch immer Lehrerinnen und Lehrer unterrichten. Das ist nicht mehr selbstverständlich. Lehrpersonen könnten von Lernsoftware und KI-Medien abgelöst oder stark relativiert werden. Glücklicherweise hat man das Thema bislang nie angetastet. Für die Unterrichtung, Betreuung und Förderung von Kindern halte ich den persönlichen Bezug zur Lehrperson für unverzichtbar. Insofern ist die beste Reform eine, die gar nie gestartet wurde.
“Verheerend ist, wenn, dann die ungesteuerte Fülle von Reformen.”
Verheerend ist, wenn, dann die ungesteuerte Fülle von Reformen. Der Lehrplan 21 soll das in ruhigere Bahnen führen. Doch ständig werden die Lehrerinnen und Lehrer von etwas Neuem überrascht, im Wissen, dass das allein nicht viel bringt, die neuen Anforderungen die eigenen Vorstellungen nicht erreichen und die Umsetzung ihnen überlassen bleibt. Lehrpersonen fühlen sich vor allem dann überfordert, wenn die Reform ausserhalb des Bereiches liegt, den sie selbst kontrollieren können. Unterricht aber steht und fällt mit der Person, der ihn durchführt.
Das bestätigt sicher der einflussreiche Pädagoge John Hattie, der doch in seiner grossen Meta-Studie bewies, dass die Effizienz des Lernens nicht durch Reformen und Strukturänderungen geschöpft wird, sondern aus der Beziehung zwischen dem Lehrer und seinem Schüler.
Hattie sagt, dass die Unterrichtsqualität entscheidend ist. Es kommt nicht so sehr auf den Lehrer an, sondern auf den guten Lehrer und die gute Lehrerin. Und ja, die Beziehung zwischen dem Schüler und dem Lehrer ist für einen hohen Wirkungsgrad wichtig. Am besten wirkt das kontrollierte Feedback. Es zählt nicht einfach, was Lehrer machen. Es zählt auch, ob und wie sie wissen, was beim Schüler ankommt. Dazu müssen sie auch auf die Rückmeldungen ihrer Schüler eingehen und eine professionelle Beziehung aufbauen.
Was wurde bei den Schulreformen vernachlässigt?
Im Zentrum der Schule steht der Unterricht der Lehrpersonen. Alles, was dem Unterricht nützt und ihn verbessert, wird angenommen. In Betracht gezogen werden müssen demzufolge erstens die Ressourcen und wie sie zu verteilen sind. Zweitens die Lehrmittel, denn sie steuern den Unterricht. Drittens ist die Beziehungsarbeit der Lehrpersonen mit den Schülern im Hinblick auf die Lernziele ein entscheidender Faktor. Bei vielen Reformen ging das vergessen. Ebenso wie die Lehrer zeitlich belastet werden. Jetzt prägt die Idee die Schule, dass Lehrer genauso lange arbeiten sollen, wie die Personen im öffentlichen Dienst – also 42 Stunden pro Woche. Das halte ich für zu kurz gedacht. Die Arbeitszeit der Lehrpersonen lässt sich nicht einfach einschränken, wie die eines Beamten am Schalter. Die Arbeit des Lehrers beginnt nicht morgens um 8 Uhr und endet abends um 17 Uhr.
Heute muss die Arbeit des Lehrers mit einem austarierten Regelwerk erfasst werden. Für die Arbeit als Klassenlehrer gibt es Arbeitszeitguthaben, im Gegenzug muss der Lehrer weniger Lektionen unterrichten. Der Kanton Zürich ist gerade daran, ein solches Regelwerk für viel zusätzliches Steuergeld zu optimieren. Würden Sie solche Systeme wieder abschaffen?
Die Unterrichtszeit ist ausschlaggebend. Die Berechnung des Lohns nach den Wochenstunden funktionierte über Jahrzehnte gut. Sonst steht man vor dem Problem, dass immer neue Defizite erfunden werden, die bearbeitet werden müssen und so Zeit rauben, aber dann auch Lohnfolgen haben.
Aber die Lehrer klagen über Überbelastung. Die vielen neuen Aufwendungen müssten irgendwie entschädigt werden …
Die Frage, ist, was die Lehrer belastet. In aller Regel sind das zusätzliche Anforderungen, die dem Unterricht nichts bringen – also weit mehr Sitzungen als früher, zunehmende Koordinationsaufgaben, schulische Extratage, regelmässige Befragungen oder auch Fortbildungen ohne persönlichen Gewinn. Es sind allesamt Aufgaben, die den Unterricht im Klassenzimmer nicht erreichen, aber für den Lehrerberuf belastend sind. Mir fällt immer wieder auf, dass viele Reformen ohne Abklärung des Zeitaufwandes angefangen werden.
“Mir fällt immer wieder auf, dass viele Reformen ohne Abklärung des Zeitaufwandes angefangen werden.”
Der frühere Zürcher Erziehungsdirektor wollte die Schule ökonomisieren – ein ‘New Public Management’ einführen.
Ernst Buschor hat das vorangetrieben. Die Erfahrung zeigt, dass Schulevaluationen dann akzeptiert werden, wenn sie mit Gewinn für die Schulentwicklung verbunden sind und nicht als Kontrolle wahrgenommen werden. Besserwisser braucht man nicht. Und die Umwandlung der öffentlichen Schulen in einen privaten Betrieb war nie die Absicht.
Zunehmend wollen die Pädagogen wieder das Notensystem ‘reformieren’, sprich, die Noten ganz abschaffen. Das ist doch erstaunlich, weil das die Gesellschaft, die Berufsbildung insbesondere, nicht will. Warum kommt das immer wieder?
Notenkritik gibt es schon lange. Dahinter steckt die Idee, ohne Noten sei die Motivation höher, weil die Schüler durch schlechte Noten abgeschreckt würden. Dem muss entgegengehalten werden: Es gibt auch eine Motivation durch Noten, die Schüler strengen sich an. Das Problem ist höchstens, dass die Notenskala nicht voll ausgeschöpft wird. Aber eine ‘notenfreie Schule’ wäre in der Gesellschaft nicht akzeptiert. Die Wirtschaft gibt Noten, der Sport macht es andauernd. Suchen Sie einmal einen Fussballprofi, der nicht wöchentlich benotet wird. Gesellschaftlich ist das akzeptiert, aber manche Pädagogen finden das skandalös.
Schriftliche Lernberichte erhöhen den Aufwand für Lehrer, viele Eltern können mit der Sprache nichts anfangen. Vielleicht auch darum, weil sie es leid sind, dass Eltern bei Promotionsentscheiden dreinreden.
Das Problem können sie nicht lösen, indem sie die Noten abschaffen. Versuche, auf die Notengebung Einfluss zu nehmen, gibt es, manchmal sogar gerichtlich und besonders bei den Promotionsentscheiden. Dem wirkt entgegen, wenn die Notengebung hochtransparent gemacht wird. Der Hauptvorwurf – Willkür – liesse sich so entkräften.
Sollten sich Lehrer also gegen Notenreformen einsetzen?
Noten sind bewährte Mittel des Feedbacks und der Beschreibung von Leistung. Die Kinder wollen wissen, wo sie stehen und die Eltern auch. Wenn die Lehrer anstelle von Noten schriftliche Lernberichte verfassen müssen, erhöht man den Aufwand und hat zusätzlich ein Problem, dass viele Eltern allein mit der Sprache nichts anfangen können. Lernberichte sind aber nur Ausdrucksformen versteckter Noten, ebenso die Koppelung an Kompetenzstufen. Als Historiker muss ich hinzufügen: Es gab seit 100 Jahren keine Phase, in der die Notengebung nicht umstritten gewesen ist. Umso interessanter ist, dass sie bislang nicht abgeschafft wurden.
Wir haben eines der teuersten Bildungswesen der Welt, entlassen aber mit jedem fünften Schulabgänger einen, der die Mindestanforderung an Lesen, Schreiben und Rechnen nicht erfüllt.
Das ist in anderen Ländern auch so.
Müssen wir uns damit abfinden?
In den ersten Schuljahren werden die Kinder weitgehend alphabetisiert. Das Lernprogramm «Lesen durch Schreiben», das den Fibel-Unterricht weitgehend abgelöst hat, war eine durchschlagende Reform des Unterrichts mit nicht erst heute sichtbar werdenden zweifelhaften Effekten. Mit «Lesen durch Schreiben» lernen Kinder, wie sie lautlich schreiben und so zu Beginn des Schreibens oft das Falsche. Das hat enorme Auswirkung auf die Sicherheit im Umgang mit Schriftlichkeit. Sicherheit in der Schriftlichkeit verlangt Automatismen und so Übung. Fehlt das, sind vor allem die schwachen Schüler benachteiligt. Viele Sekundarlehrer beklagen, dass die Kinder mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten die Primarschulen verlassen, sie aber kaum ausgleichen können, was im Elementarbereich nicht gelernt wurde. Hier, in der Verzahnung der Stufen, wäre Steuerung wirklich angebracht.
“Mit ‘Lesen durch Schreiben’ lernen Kinder, wie sie lautlich schreiben und so zu Beginn des Schreibens oft das Falsche. Das hat enorme Auswirkung auf die Sicherheit im Umgang mit Schriftlichkeit.”
Wird die ‘Künstliche Intelligenz’ die Schule auf den Kopf stellen und sie reformieren?
Da fragen Sie den falschen. Ich gehe aber davon aus, dass Künstliche Intelligenz das Lernen verändern und die Schule erreichen wird, wie sich an der Aufregung über Klausuren gezeigt hat, die mit KI-Tools verfasst wurden und die Grundannahme jeder Prüfung, dass der Kandidat er selbst ist und seine Kompetenz getestet wird, auf den Kopf stellt. Die Schulen haben sich bislang nur auf die Digitalisierung eingestellt, nicht schon auf die Konkurrenz durch Künstliche Intelligenz. Das wird kommen, und es wird sich zeigen, was es heisst, dann noch Schule zu sein. Es kann sein, dass sich die Informationsvermittlung, die wir Unterricht nennen, verlagert wird. Aber das bedeutet nicht, dass die Schule als sozialer Lernort überflüssig wird. Nur dort lernen noch alle zusammen.
Gibt es eine Schulreform, die man noch erfinden müsste?
Wahrscheinlich sind die Reformwünsche unersättlich. Darum hilft der Hinweis auf Bewährtes und ein Ausblick auf Lohnendes. Schulen sind abhängig vom Unterricht, also dem Können, der Motivation und dem Engagement der Lehrpersonen. Das sind Grössen, die sich abnutzen können. Darum sollte eine künftige Reform auf die Stärkung der psychischen Ressourcen der Lehrkräfte zielen.
Was heisst das?
Lange galt für die Schulträger: Hat man einen Lehrer angestellt, dann bleibt er bis zur Pensionierung im Beruf. Das ist längst von der Realität überholt. Der Lehrer wechselt das Schulhaus, wird vielleicht Schulleiter oder verlässt den Beruf gleich ganz. Zugleich wird der Alltag mit der Dauer oft als Belastung empfunden. Die Lehrkräfte reagieren darauf mit reduzierten Anstellungen, Teilzeitarbeit oder Wechsel in andere Beschäftigungen. Wer bleibt, klagt oft über abnehmende Motivation. In der Folge muss sich das System umstellen auf veränderte Prozesse und Lebensweisen von Lehrpersonen. Also müsste man sich systemische Reformen überlegen, wie man die Lehrer und ihre Kompetenz im Bildungswesen hält.
Woran denken Sie?
Aufstiegsmöglichkeiten, temporäre Wechsel, leichte Anschlüsse mit verbesserter Kompetenz, damit neue Orte der Erfahrung oder auch eine Planung der beruflichen Entwicklung über die Lebensspanne. Die Schule muss sich bewusst sein, dass ihre Arbeitskräfte auch andere Möglichkeiten haben. Heute belohnt das System nur Verbleib und nicht auch Wechsel, aber seit dem ‘Quereinstieg’ stellen sich hier ganz neue Fragen.