Achtung, Triggerwarnung, folgende Frage kann mindestens Bluthochdruck auslösen:
Geht es nur noch mit Zwang?
Eine solche Frage schickt sich gar nicht, wird es in der Schweiz im Regelfall doch ungern gesehen, wenn die Politik den Bürgern per Diktat oktroyieren will, was sie für sich und ihre Familie im privaten Bereich zu tun und zu lassen haben (Justiziables natürlich ausgeschlossen).
Es gilt ein einfaches gesellschaftliches Credo: Eigenverantwortung.
Da sind aber doch ein paar Themen, bei denen das nicht mehr vollumfassend gilt, weil die Realität den Common Sense regelrecht ausgehebelt hat.
Geht es beispielsweise um die deutsche Sprache, scheinen ein paar staatliche Befehle nicht verkehrt – vor allem deshalb, weil es in der Gesellschaft qualitativ zusehends zu hapern scheint, wenn es um diese Landessprache geht. Das liest sich in den Medien etwa so:
«Wenn Erstklässler kein Deutsch sprechen» («Tages-Anzeiger»).
«Immer mehr Schweizer Kinder können nur ungenügend Deutsch» («20 Minuten»).
«‹Wiederhole bitte›: wenn im Kindergarten nur eines von vier Kindern fliessend Deutsch spricht» («Neue Zürcher Zeitung»).
Und hat zur Folge, was Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Universität Basel, kürzlich in der BaZ gesagt hat: «Viele Studierende können wirklich nicht mehr korrekt schreiben.» – Eine Nivellierung nach unten, selbst bei der (angeblichen) Elite.
Der bemühte Kanton
Der Kanton Basel-Stadt steht bei der Sprachförderung ganz besonders unter Beobachtung. Er hat gemäss Bundesamt für Statistik die teuersten Schüler im schweizweiten Vergleich – aber sozusagen als Belohnung auch die schlechtesten, wie der erste nationale Schulvergleich vor vier Jahren gezeigt hat (unter anderem in den Sprachen).
Und das, obwohl der Kanton durchaus bemüht ist, in einem schwierigen Umfeld – der Ausländeranteil beträgt 37 Prozent – für eine Verbesserung zu sorgen.
Unter anderem mit einem Obligatorium für Dreijährige, bei denen Deutsch nicht die Erstsprache ist. Fast die Hälfte aller Kleinkinder in diesem Alter hat einen Förderbedarf. Eine Höchstmarke.
Seit bereits zehn Jahren müssen die Kinder nun deshalb bereits vor dem Kindergarten an zwei Nachmittagen in der Woche in die «Frühe Sprachförderung». Ein System, das auch schweizweit immer mehr Schule macht – etwa in Bern, wo das Angebot zwar freiwillig ist, aber ein Obligatorium zumindest eine Überlegung wert ist (vgl. BaZ vom Mittwoch).
Nur: Bringt diese Frühförderung den Kindern überhaupt etwas?
Ein bisschen Fortschritt
Anruf bei Alexander Grob. Der Psychologieprofessor an der Universität Basel ist seit Beginn in diesem Grossprojekt. Er hat die Fragebögen entwickelt, die der Kanton jeweils Anfang Jahr verschickt – an alle Haushalte mit kleinen Kindern, die eineinhalb Jahre später in den Kindergarten kommen.
Anhand der Antworten wird evaluiert, wer Defizite aufweist. Grobs Untersuchungen zeigen: Wer gefördert wird, kommt zumindest nicht komplett ohne Deutschkenntnisse in den Kindergarten. Aber er sagt auch: «Was wir noch nicht gut zeigen können: Haben die Kinder einen ausreichenden Spracherwerb in der deutschen Sprache?»
Das klingt noch nicht wirklich nach grossem Durchbruch – vor allem in Basel nicht. Denn der Bedarf an Frühförderung, sagt Grob, ist im Stadtkanton «sicher nicht kleiner geworden».
Aber ist ein (bisschen) Fortschritt nicht immer noch besser als gar keiner?
Richtige Richtung
Ja, sagt etwa die Lehrergewerkschaft Freiwillige Schulsynode Basel (FSS). Vizepräsidentin Marianne Schwegler spricht von einer «richtigen Richtung», die man mit der Frühförderung eingeschlagen habe. Die FSS begrüsst deshalb auch den von Erziehungsdirektor Conradin Cramer beschlossenen Ausbau des Angebots von zwei auf drei Nachmittage pro Woche (Kosten: neu drei statt wie bisher zwei Millionen Franken).
Schwegler weist auch noch auf einen weiteren (positiven) Punkt hin: Die Frühförderung habe neben der Deutschförderung auch noch andere «erwünschte Nebeneffekte». Kinder würden durch den Besuch der Spielgruppe oder der Kita «langsam an eine Ablösung vom Elternhaus herangeführt, sie lernen, sich in einer Gruppe zurechtzufinden, und werden so für den Eintritt in die Schule besser vorbereitet». Dies «sind alles ebenfalls wichtige Faktoren für eine bessere Chancengerechtigkeit».
Die Hälfte kann kein Deutsch
Schwegler liefert das Stichwort für die grosse gesellschaftliche Debatte. Haben wir Chancengerechtigkeit – oder tun wir zumindest genug dafür, dass wir sie erreichen? Was muss von den Zugezogenen an Engagement kommen, und was muss der Staat an integrativer Unterstützung leisten?
Alexander Grob sagt: «Wir können seit kurzem belegen, was vorher zwar logisch geklungen hat, aber nicht sicher gewesen ist: Je mehr Eltern pro Quartier oder Bezirk nicht deutschsprachig sind, desto schlechter reden ihre Kinder Deutsch.»
Das bringt uns zu Fragen über Ghettos, Sicherheit und Ausgrenzung. Grob sagt: «An diesem Punkt sind wir aber noch nicht, und wir sollten alles daransetzen, damit es nicht so weit kommt. Wir, die von Integration sprechen, ein integratives Schulsystem hochhalten, müssen nur schon aufgrund der Chancengerechtigkeit ein Auge darauf haben, dass keine systematische Ausgrenzung erfolgt.»
Die Sprache ist für Grob «mitentscheidend», damit das nicht passiert. Er sagt: «Wir sehen an Brennpunktschulen in Deutschland, etwa in Berlin, was sonst geschehen kann: Da musst du mit Deutsch gar nicht anfangen.»
«Am meisten erstaunt hat mich, dass je nach Gemeinde bis zu 75 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einen Förderbedarf aufweisen.»
Es überrascht nicht, dass Grob über ein steigendes Interesse an der Frühförderung berichten kann. Das lässt sich auch mit Zahlen belegen: 79 Gemeinden unterstützen Grob und sein Team in diesem Jahr, um den Sprachstand der Dreijährigen zu erfassen. «Im nächsten werden es gegen 100 sein.»
Die Nachfrage kommt nicht nur aus den grossen Städten wie Bern, Zürich oder Basel, wo man es am ehesten erwartet. Auch in kleineren Gemeinden ist die Nachfrage gross – weil dort der Druck ebenfalls grösser wird. Grob sagt: «Die Problematik von Deutsch als Zweitsprache ist sehr gross geworden. Am meisten erstaunt hat mich, dass je nach Gemeinde bis zu 75 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einen Förderbedarf aufweisen. Die Hälfte verstand und sprach praktisch kein Wort Deutsch.»
Der Faktor Mensch
Damit umzugehen, ist eine Herkulesaufgabe. Das weiss auch das Basler Erziehungsdepartement (ED). Sprecher Simon Thiriet sagt: «Wir machen am meisten – von allen Kantonen der Schweiz. Man muss aber auch sehen: Wenn man die Kinder zu noch mehr Tagen verpflichtete, würde der Eingriff irgendwann zu gross.»
Das führt dazu, dass in Basel-Stadt längst nicht alle Kinder zum Zug kommen. Alexander Grob sagt: «Tatsächlich gefördert wurden in Basel-Stadt im letzten Jahr 57 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Mehr lässt sich gar nicht finanzieren, und es gäbe wohl auch nicht genügend Personal.»
Eine grosse Illusion?
Im neuen «Bildungsbericht Schweiz», im März publiziert, steht: Kinder, die fremdsprachig in den Kindergarten eintreten, haben im Schnitt tiefere Bildungsabschlüsse als diejenigen, die die Landessprache beherrschen. Es ist also nicht mehr garantiert, was bürokratisch-nüchtern von der Schweizerischen Eidgenossenschaft vorgesehen ist: «Die Kenntnis einer Landessprache ist eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche berufliche und soziale Integration.»
Frühförderung: Basel-Stadt bietet künftig drei statt wie bisher zwei Nachmittage pro Woche an.
Alain Pichard, der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («SonntagsZeitung»), ist ebenfalls besorgt. Das aktuelle System betrachtet er, der nach über vier Jahrzehnten immer noch unterrichtet, obschon er das Pensionsalter erreicht hat, äusserst kritisch. Er sagt: «Man holt die Kinder vor der Schule in eine Institution, will ihnen Deutsch beibringen. Das klingt gut, da kann niemand dagegen sein. Eigentlich. Dennoch bin ich skeptisch. Wenn man das tut, muss es nämlich funktionieren. Und das sehe ich nicht. Für mich ist die Frühförderung eine grosse Illusion.»
Das ED teilt mit, dass die Qualität des Unterrichts mittels Leistungsvereinbarung mit dem Dachverband der Spielgruppen festgelegt wird: Das ED zahlt den Verband dafür, dass er die Spielgruppen besucht, Ansprechpartner bei pädagogischen Fragen für Eltern und Spielgruppe ist und Weiterbildungen finanziert. Dass sich das ED nicht weiter einmischt, liegt daran, dass der Unterricht auf privater Ebene stattfindet.
Die Kinder, die die Kurse besuchen müssen, leben in anderen Milieus – sie unterhalten sich daheim in ihrer Sprache, gucken sich Filme in ihrer Sprache an, schauen Fernsehen in ihrer Sprache. Eine Schnellbleiche mit spielerischen Ansätzen und ein bisschen Liedli-Singen: Das reicht nicht.
Eklatante Probleme
Pichard sagt, dass Basel-Stadt nun seit zehn Jahren ein Obligatorium bei der Frühförderung habe, aber beim Lesen und Schreiben schneide der Kanton – ebenfalls seit Jahren – am schlechtesten ab. «Also taugt entweder die Frühförderung nicht – oder die Vergleichstests oder das Schulsystem versagen. Ich vermute, dass Ersteres der Fall ist. Die Fakten sprechen auf jeden Fall dagegen. Deshalb kann man schlecht argumentieren, dass es ohne die Frühförderung noch schlechter aussähe. In Biel haben wir dieselben Verhältnisse wie in Basel – und stehen ohne die gezielte Frühförderung besser da im Quervergleich.»
Pichard unterrichtet in Biel, er tut das schon lange – in einem Brennpunkt, wie Basel (das er auch bestens kennt) auch einer ist. Er weiss also, wovon er spricht, kennt die Lebenswelten. Deshalb sagt er: «Damit man mich nicht missversteht: Ich habe nichts gegen Frühförderung. Nur bin ich der Meinung: Wenn wir es machen, dann richtig. Die Kinder, die die Kurse besuchen müssen, leben in anderen Milieus – sie unterhalten sich daheim in ihrer Sprache, gucken sich Filme in ihrer Sprache an, schauen Fernsehen in ihrer Sprache. Eine Schnellbleiche mit spielerischen Ansätzen und ein bisschen Liedli-Singen: Das reicht nicht.»
«Wir haben eklatante Probleme disziplinarischer Art mit dem Verhalten vieler Schüler, gerade an Unterstufen. Nicht wenige Klassen sind so fast nicht unterrichtbar. Das ist auch mitentscheidend für den fehlenden Spracherwerb.»
Es gäbe noch eine Brachialvariante.
Was also tun?
Ein Brachialvorschlag – Stichwort Zwang! – wäre die Durchmischung der Klassen mit Schülern aus verschiedenen Quartieren, armen und wohlhabenden. Pichard sagt: «Das wäre sicher nicht falsch. Wir wissen ja aus Studien: Wenn mehr als 30 Prozent in einer Klasse Fremdsprachler sind, kippt es, ist der Lernerfolg stark gefährdet. Im Kleinbasel sind in gewissen Klassen 100 Prozent der Schüler solche mit Migrationshintergrund.»
Und er ist auch der Meinung, dass es möglich wäre. In den USA ist das sogenannte Bussing, wo farbige Kinder in nicht farbige Quartiere gebracht werden, durchaus etabliert. «Das hat die Chancengleichheit sicherlich verbessert. Nur: Bei uns ist das höchstwahrscheinlich chancenlos, so ehrlich muss ich sein. In Biel habe ich das mal erlebt: Der Widerstand der Eltern ist massiv. Massiv! Der Quartieregoismus geht so weit, dass man seine Kinder nicht nur nicht in einen anderen Bezirk schicken will, sondern es wird nicht mal akzeptiert, wenn andere – also ja, vor allem Ausländer – in die sogenannt guten Quartiere kommen.»
Das wird auch in Basel nie Realität werden. Für das ED ist ein solcher Grosseingriff kein Thema.
Was, ausser Zwang, könnte dann noch helfen?
Ja, was könnte noch helfen? Noch mehr vom Gleichen? Offenbar vermied man, in einer objektiven Langzeitstudie abzuklären, ob die Sprach-und Spielnachmittage der KITAs den langfristigen Schulerfolg der Fremdsprachigen verbessert haben. Wenn kein signifikanter Erfolg nachzuweisen ist, wird ein zusätzlicher Nachmittag auch nichts ändern. Vor dem Zeitalter der Integration mit DaZ-Hilfe (=Deutsch als Zweitsprache) in Regelklassen gab es separate Fremdsprachenklassen, in denen der gesamte Unterricht ein eigentlicher Deutschunterricht war. Kinder und Jugendliche, die ein gewisses Niveau erreichten, wechselten in Regelklassen. Jugendliche im Sekundarschulalter, die diese Klassen besucht hatten, konnten in Regelklassen nach kurzer Zeit problemlos mithalten, waren auch meist sehr motiviert. Möglicherweise lag der Grund für den Erfolg darin, dass in einem System mit Fremdsprachenklassen der Sprachunterricht von Anfang an mit einem schulisch-fachlichen Programm verknüpft war. Das war wohl nicht das Dümmste!
Der Autor fragt uns um unsere Meinung. Nun, je mehr ich mich mit diesen vielfältigen Problemen beschäftige, desto bewusster wird mir, dass der Staat (die Schule) als Institution ohne direkte Unterstützung durch die Eltern zuwenig bewirken kann. Mir scheint, und das sage ich als eher links Denkende, dass wir die Erwartungen an die Eltern konkreter formulieren müssen. Wir müssen bereit sein, von den Eltern ein rascheres Erlernen der lokalen Sprache zu verlangen.