Franz Eberle rechtfertigt seinen Kompetenzbegriff, fühlt sich missverstanden von Herrn Ladenthins Replik. Dabei vernebelt er die Herkunft des umstrittenen Konzepts und widerspricht sich auch selbst. Der Bildungsdiskurs sollte sich von diesem Schlagwort langsam trennen, denn es zeigt sich wieder einmal, wie beliebig es von verschiedenen Bildungsfachleuten interpretiert wird.
Der Philosoph Anton Hügli hat in seiner fundamentalen Analyse Was ist Kompetenz? darauf hingewiesen, dass der Begriff in der heutigen Bedeutung aus der Psychologie stammt. Der amerikanische Psychologe McClelland entwickelte ihn zu Beginn der Siebzigerjahre, um die Eignung von stellenbewerbenden Leuten für bestimmte Berufe zu eruieren, da das relevante Können mit dem bisher üblichen Intelligenztest zu wenig klar antizipiert werden konnte. Dabei ging es wie beim Intelligenztest immer auch um Messbarkeit. Aufgrund des Problemlösetests sollten Menschen berufliche Fähigkeit und Tauglichkeit zugeschrieben werden können. Nicht so sehr die Fähigkeit, eine einzelne Aufgabe zu lösen, als die Erfahrung, mit ähnlich gelagerten Aufgaben in geeigneter Weise umzugehen, was als Disposition bezeichnet wurde. Wichtig: Kompetenz ist ein Konstrukt, eine Qualitätszuschreibung, die von Autoritäten (Psychologen, Testinstituten) mehr oder weniger opportunistisch vergeben wird.
In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden.
Einzug in den Bildungsdiskurs hielt der Begriff erst im Zusammenhang mit PISA. Die Vergleichbarkeit der Schulqualität musste mit einem wissenschaftlichen Messverfahren vollzogen werden. Die Stunde von Weinert, Klieme und andern pädagogischen Psychologen war gekommen, also von Leuten, die mehr von psychologischen Tests, aber weniger von Schule und Unterricht verstehen. Ihre Forschungen und Programme zielen deshalb hauptsächlich auf das, was im Unterricht herauskommen soll und wie dieses zuverlässig gemessen werden kann, anders gesagt auf den «Output».
In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden, nämlich derart, dass der Fokus in den Schulen von Anfang an auf Eignung und Tauglichkeit für bestimmte Zwecke gelegt werden sollte: die «Outputorientierung» war geboren. Daher der Auftrag, die Lehrpläne nicht mehr auf Inhalte und Lernziele auszurichten, sondern auf die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen.
Eberle nimmt Bezug auf die Lernziele (Mager, Bloom) und die entsprechenden Taxonomien in den Lehrplänen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Allerdings sind Lernziele und Kompetenzen nicht dasselbe: Lernziele beschreiben das Können, das ein inhaltliches Ziel erfordert, und zwar von der Sache her gedacht. Kompetenzen beschreiben die Dispositionen, personalen Fähigkeiten und Einstellungen, welche zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nötig sind. Der Unterschied liegt in der Perspektive: Lernziele sind didaktische Schritte, die zum Ziel führen. Kompetenzen sind mentale, psychisch-soziale und physische Möglichkeiten des Individuums, die als Grundlage für eine Leistung vorhanden sein müssen.
Es liegt deshalb schon in der Anlage des Konstrukts Kompetenz, dass Inhalte in dieser Betrachtungsweise zweitrangig sind. Kompetenzen sollen immer Bündel von Inhalten abdecken. Neben Ladenthin hat auch Konrad Paul Liessmann immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen.
Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.
Der Unterschied zwischen Lernzielen und Kompetenzen ist pädagogisch bedeutsam: Inhalte und Lernziele fokussieren in erster Linie auf fachliche Auseinandersetzungen, Problemstellungen, Lernprozesse, Gedächtnis, Verarbeitung und erst in zweiter Linie auf Anwendung. Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.
Die genannten Zusammenhänge lassen sich nicht mit Eberles Argumentation aus der Welt schaffen. Kompetenzen führen zu einer Verengung des Bildungsbegriffs, man mag es biegen und wenden, wie man will.
Anton Hügli, Was ist Kompetenz? Begriffsgeschichtliche Perspektiven eines pädagogischen Schlagworts, lvb.inform 2016/2017-03
Rober F. Mager, Lernziele und Unterricht, Weinheim, Basel, 1978
M. E. ist jemand erst dann kompetent, wenn er etwas KANN. Dadurch kann Kompetenz nicht vorhanden sein, wenn Inhalte noch gar nicht verarbeitet wurden. Inhalt gegen Kompetenz auszuspielen, ist m. A. n. pädagogischer Nonsens. Das Erreichen eines Lernzieles ist ein erster Schritt hin zu Kompetenz. Eingeübtes Können kommt dem Erwerb von Kompetenz dann Schritt für Schritt näher.
Nehmen wir das Beispiel Segelfliegen: Im Theorieunterricht gibt es einen abzuarbeitenden Syllabus. Wenn ich zum Beispiel das Thermikfliegen theoretisch verstanden habe und Prüfungsfragen richtig beantworten konnte, bin ich deswegen noch lange nicht kompetent in Sachen Thermikfliegen. Das braucht praktische Schulung und dann noch eigenen Erfahrungserwerb: Horizont halten, Geschwindigkeit und Flugausrichtung halten (Faden in der Mitte), Thermikschlauch zentrieren, versetzte Thermik ausfliegen, mögliche Thermik örtlich ausmachen und gleichzeitig mitkreisende Flugzeuge im Auge behalten können und das alles, ohne zu kotzen…
Die ganze Kompetenz-Diskussion ist in meinen Augen schlicht dröge. Wenn die Schule wieder vermehrt auf relevante Inhalte fokussiert, ist die halbe Miete entrichtet. Wenn sich aber jemand als mathematisch kompetent zu erachten sucht, die einfachsten Rechenregeln aber nicht beherrscht – dann gibt es eben Schiffbruch.
Apropos Bruch: Die Fliegerei füge ich als Beispiel an, weil ich erstens selber (segel)fliege und weil in der Fliegerei zweitens Kompetenz (ohne Selbstüberschätzung) ein Überleben ohne Bruch ggf. garantieren kann. Deshalb wird jeder Pilot bzw. dessen Kompetenz in regelmässigen zeitlichen Intervallen auch getestet – im Simulator oder real.
Selten eine klarere Differenzierung zwischen Kompetenz und Lernziel gelesen. Vielen Dank! Und jetzt, da wir wissen, was Kompetenzen sind, den Begriff bitte aus dem aktiven Wortgebrauch löschen.
Klarer kann man es tatsächlich nicht formulieren, umso mehr wundert es doch stark, dass sich nicht längst viel mehr Lehrkräfte gegen das idiotische, ideologische und völlig sinnlose “Kompetenzgeschwurbel” der Bildungstheoretiker wehren. Haben die Lehrpersonen alle resigniert vor den vermeintlichen oberschlauen Bildungspäpsten? Wer nichts kann, kann auch nicht kompetent agieren. Es sind leider immer die gleichen wenigen Personen, die sich auf dieser Plattform kritisch austauschen. Die selbsternannten Bildungswissenschaftler sind oft so meilenweit von der Praxis entfernt! Die fehlende Basis (Können) kann auch nicht mit digitalen Tools erwerben (nur weil digital modern zu sein scheint), das ist reiner Selbstbetrug. Wieso muss man zuerst ein funktionierendes Bildungssystem mit der unseligen Kompetenzorientierung an die Wand fahren, bevor eine Reaktion von der Praxis bzw. vor allem von den Lehrkräften an der Front kommt? Das sind einfach 20 verlorene Jahre und für die Korrektur braucht es dann wieder 20 Jahre! 40 Jahre gehen in diesem Nullsummenspiel verloren! Wahrlich eine agile Leistung.
Die messerscharfe Analytik in Schmutz’ Texten ist immer wieder beeindruckenden. Im vorliegenden Beitrag bringt insbesondere folgende Passage die grösste Schwäche der sogenannten Kompetenzorientierung zum Ausdruck: “Der Bildungsdiskurs sollte sich von diesem Schlagwort langsam trennen, denn es zeigt sich wieder einmal, wie beliebig es von verschiedenen Bildungsfachleuten interpretiert wird.”
Ein Bildungskonzept mit einem Fundament in Form eines völlig unscharfen Begriffs, der von unterschiedlichsten Bildungsfachleuten unterschiedlich verstanden wird, ist nicht tragfähig. Die jahrelange Debatte um Kompetenzen ist so müssig wie die Kompetenzorientierung an sich. Genauso gut liesse sich um die richtige Interpretation der Bibel streiten.